2022 | Die Worte meines Schweigens

Er sprach nicht.

Nicht, weil er es nicht konnte, was womöglich die meisten Menschen annehmen würden. Nein. Augustus wollte nicht.

Läge die Ursache dieses Umstandes bei einer körperlichen Beeinträchtigung, wäre er vermutlich auf weitaus mehr Verständnis gestoßen. Doch dem war nicht so.

Sie verstanden es einfach nicht.

Stumm ließ er die Schläge der Verzweiflung seines Vaters, jahrelang über sich ergehen. Schließlich musste er damit zurechtkommen, dass sein Sohn ein Sonderling war.

Tiere taten so etwas nicht. Sie liebten und nahmen das, was Augustus ihnen bereit war zu geben. Seine Zeit. Seine Liebe. Außerdem pflegten diese stummen Gesellen nicht die Angewohnheit, ständig nach dem warum zu fragen.

Das war Augustus.

Das war Augustus. Der Tag, an dem sich dieses kleine merkwürdige Buch in sein Leben geschlichen hatte, war der Tag gewesen, an dem sich sein Dasein gänzlich gewandelt hatte.

Doch beginnen wir diese Geschichte, so wie es sich für die Normen und Sitten gehört: an ihrem Anfang.

Der moosbewachsene Waldboden ließ die Schritte des jungen Mannes verklingen. Sanft blies der Atem der Natur durch das Blätterdach, jenes sich weit über ihm wölbte. Sonnenstrahlen drängte sich zwischen den braunen Ästen, der Buchen, hindurch. Das gefilterte Licht zeichnete wunderschöne Mandalas auf den Waldboden.

Leichtfüßig schlich Augustus durch das Dickicht. Ab und an zogen dünne Zweige, wie knochige Finger, an seinem braunen Mantel. Versuchten ihn daran zu hindern tiefer in den Wald zu gehen. Als würden sie ein Geheimnis vor ihm schützen wollen.

Plötzlich, direkt neben ihm, erschien sie – diese braune Hirschkuh. Als hätte sie schon immer dort gestanden. Überrascht blieb Augustus stehen. Er wagte es nicht, auch nur einen Muskel zu bewegen. Das Licht ließ ihr Fell wie flüssigen Honig glänzen.

Neugierig streckte sie ihren Kopf in die Luft und begann geräuschvoll seinen Duft einzuatmen. Auch er vernahm deutlich ihren Geruch. Ein Hauch von Moos und Erde vermischt mit dem süßen Aroma der Natur.

Vorsichtig kam sie ein paar Schritte auf ihn zu. Dann blieb sie abrupt stehen, genau in dem Moment, als er dachte, sie berühren zu können. Nervös drehte das Tier ihre Ohren und lief schließlich davon.

Für einen Moment lauschte Augustus in den Wald hinein. Dort war bloß der Klang des Waldes. Das unschuldige Zwitschern der Vögel. Das Rauschen der Blätter.

Ungewiss, was das Tier zur Flucht bewegt hatte. Beflügelt von dem magischen Moment beschloss er, der Pfad der Hirschkuh zu folgen.

Bis auf ein paar Eichhörnchen, die eilig seinen Weg kreuzten, traf er kein Tier mehr an.

Noch eine ganze Weile lang durchschritt er das Grün, als sich der Weg zu einer Lichtung öffnete. In einem bunten Teppich aus Blumen stand eine alte Bank. Zierliche kleine Blüten in allen Farben des Regenbogens waren zu sehen. Dünne Ranken von wilden Pflanzen umrahmten ihre Beine. Das Holz wirkte alt, aber stabil, so als hätte der Zahn der Zeit ihn verschont.

Ein Ort, der genauso wunderschön, wie auch sonderbar wirkte. Neugierig ging Augustus auf die Bank zu. Eine friedvolle Stille umhüllte diesen Ort und er fühlte sich geborgen. So musste der Himmel sein, wenn man an ihn glaubte.

Auf der Bank entdeckte Augustus ein altes, ledernes Buch. Es war nicht besonders groß und wies die Spuren vieler Jahre auf. Vorsichtig nahm der Mann es in die Hand. Es fühlte sich ganz warm von der Sonne an, das Leder war weich und die Seiten vergilbt. Der Einband und die Vor- und Rückseite waren leer. Vielleicht hatte es jemand dort liegen lassen. Und würde gleich zurückkommen, um es zu holen. Vorsichtig drehte und wendete er es in seiner Hand. Dann sah er sich um. Es war weit und breit niemand zu sehen. Langsam ließ er sich auf die Sitzfläche sinken.

Der natürliche Drang der menschlichen Neugier drängte ihn dazu, einen Blick in das Büchlein zu werfen. Aber. Aber es schien etwas ganz Persönliches zu sein. Vielleicht hatte jemand seine intimsten und dunkelsten Erfahrungen dort hineingeschrieben. Nein! Dazu hatte er kein Recht. Er durfte nicht hineinsehen, es wäre moralisch verwerflich gewesen und ... und schon schlug seine Hand eine Seite auf.

„Ich sehe, Sie haben mein Tagebuch gefunden."

Ertappt schlug Augustus das Buch zu und sah nach oben. Der Schatten einer Frau hatte sich über sein Gesicht gelegt. Eine verlegene Röte stieg ihm ins Gesicht. Sie war hübsch. Sehr hübsch. Ihr hüftlanges Haar flimmerte wie die Glut eines erloschenen Kaminfeuers. Ein Fuchs. Sie erinnerte ihn an einen Rotfuchs. Streng musterte sie ihn, als sich ihre Blicke wieder trafen, glühten seine Wangen stärker. Ein warmes Lachen entwich ihr.

„Schon in Ordnung. Vermutlich hätte auch ich einen Blick hineingeworfen." Sie zwinkerte ihm verschwörerisch zu. Als Augustus nichts erwiderte und sie bloß beschämt anstarrte, setzte sie sich zu ihm. Ein wenig verkrampft rutschte der junge Mann ein Stück zur Seite. Er mied den Kontakt zu Menschen, für gewöhnlich. Und es machte ihn nervös, dass sie sich zu ihm gesetzt hatte.

„Vermutlich sind Sie hierhergekommen, um dem Treiben der Stadt zu entfliehen, nicht wahr?" Interessiert sah sie ihn mit ihren braunen Augen an. Er nickte und knibbelte an den Seiten des Buches herum.

„Die meisten Menschen tun das." Sie lachte. „Ich komme gern hierher. Ich finde den Wald irgendwie magisch. Man weiß nie, wen oder was man hier findet." Bei dem Wort Magie verdrehte Augustus die Augen. So wie sie es aussprach, klang es so, als würde sie von Feen und Hexen reden. „Na, Sie sind mir vielleicht einer!" Sie lachte wieder und irgendwie zauberte es dem jungen Mann ein Lächeln auf die Lippen.

Und dann begann sie zu reden. Sie sprach über den Wald, über ihre Familie, über das, was sie liebte und das, was ihr missfiel. Und Augustus. August hörte ihr einfach nur zu. Ab und an schmunzelte er, weil sie sich so in Rage gesprochen hatte. Er wusste auch nicht, wie lange sie so gemeinsam dort saßen. Aber irgendwann warfen die Bäume lange Schatten. Die Sonne, sie ging allmählich unter.

„Es ist schon spät." Auch ihr schien die dunkler werdende Umgebung aufgefallen zu sein. Zustimmend nickte er. Mit einem Mal hüpfte sie von der Bank, dabei wirbelte ihre weiße Tunika durch die Luft. Noch nie hatte er so einen Menschen, wie sie getroffen. Sie war auf ihre eigene Art so sonderbar wie er und obwohl sie so verschieden waren, gefiel es ihm. Strahlend drehte sie sich zu ihm. Nun stand auch Augustus auf. Er blickte in den Himmel. Der Mond war bereits am rosa Firmament zu sehen. Erst jetzt bemerkte er, dass er immer noch das Buch in der Hand hielt. Mit einem entschuldigenden Blick hielt er es der Frau entgegen.

„Geben Sie es mir morgen."

Augenblicklich erhellte sich seine Miene. Sie wollte ihn wiedersehen!

„Ich heiße Aria", rief sie noch über die Schulter und verschwand im Dickicht.

Aria. In dieser Nacht träumte Augustus von ihrem feuerroten Haar und diesen braunen Augen. Läge das Buch nicht neben ihm, hätte er vermutlich den Tag für einen Traum gehalten. Am nächsten Morgen zupfte er besonders lange an seinem braunen Haaren herum, bevor sie endlich eine Frisur ergaben, mit der er zufrieden war. Ohne zu zögern, stopfte er sich eine Scheibe trockenes Brot in den Mund und eilte dann wieder in den Wald. Heute waren seine Farben viel intensiver als sonst. An der Lichtung angekommen saß Aria auf der alten Bank und sah in den Himmel. Heute trug sie eine senfgelbe Tunika und hohe Stiefel. Als sie Augustus Anwesenheit spürte, wandte sie sich zu ihm.

„Kommen Sie und sehen Sie sich den Himmel an. Ist er nicht zauberhaft?" Strahlend klopfte sie neben sich auf die Bank und deutete dann nach oben. Fröhlich ließ sich der junge Mann neben ihr nieder. Dann folgte er ihrem Blick. Tatsächlich sah er heute wunderlich aus. Die Wolken wirkten wie unwillkürliche Pinselstriche.

„Cirrus."

Fragend sah Augustus Aria an.

„Cirrus, so heißen die Wolken. Sie sehen aus wie die Federn einer weißen Taube, nicht?"

Er lächelte. Und so ging es viele Tage. Morgens trafen sie sich im Wald und Aria sprach über so viele Dinge. Manchmal musste Augustus lachen, in anderen Moment waren sie beide still und genossen die Ruhe. Jeden Abend bot er ihr ihr Buch an, aber sie bat ihn darum, es ihr am nächsten Tag zu geben. Und August begann sie immer mehr zu mögen.

Aria drängte ihn nicht. Sie war damit zufrieden, was er ihr gab. Seine Zeit, seine Aufmerksamkeit. Im Gegenzug lauschte er ihren Geschichten.

„Sind Sie immer so schweigsam?" Mit hochgezogenen Augenbrauen hatte er sie angesehen, woraufhin sie lachte. „Nun, ich nehme an, das bedeutet ja."

Vorsichtig rückte sie näher und für einen Moment schlug sein Herz schneller, dann legte sie behutsam ihren Kopf auf seine Schulter, so langsam, dass er genügend Zeit gehabt hätte, wegzurutschen. Er blieb sitzen. Ein angenehmes Kribbeln ging durch seinen Körper. Irgendwann durchbrach ihre Stimme die Stille.

„Wissen Sie, mein Vater war kein guter Mann." Sie lachte bitter. „Nein. Er war kein guter Mensch. Oft kam er nachts heim, wenn er wieder zu viel getrunken hatte. Tagsüber war er meist mild gestimmt, grimmig, aber beherrscht. Sobald er allerdings seine Sinne betäubt hatte, verwandelte er sich in dieses Monster. Mutter wartete oft am Esstisch auf ihn oder lief unruhig durch die Wohnung, während die Stunden vergingen. Wenn er dann heimkam, roch er nach Alkohol und anderen Frauen. Mutter war außer sich, schrie ihn an. Sagte, er habe ein Kind und müsse sich zusammenreißen, sowie sie es Tag für Tag tat. Beschimpfte ihn als Hurenbock und Säufer. Manchmal stieß er sie fort, manchmal ging er ins Bett und ließ sie schreien. Jedes Mal, jedes Mal wartete Mutter und jedes Mal fragte ich mich, ob sie etwas anderes erwartete. Ich verstand nicht, warum sie sich immer wieder so verletzen ließ."

Ihre Stimme klang ganz schwach. „Eines Abends kam er wieder betrunken zurück. Mutter brüllte wieder und dann hörte ich einen lauten Schrei. Ich lief, so schnell ich konnte, in unser Esszimmer. Mutter hielt sich ihr Gesicht und das Blut tropfte zwischen ihren Fingern hindurch. Entsetzt sah sie ihn an, dann schleuderte er das Telefon zu ihren Füßen und sagte, nun könne sie tatsächlich um Hilfe schreien. Jetzt habe er ihr einen Grund gegeben. Und ich stand einfach nur da und fühlte mich so nutzlos. Ich streichelte ihr über den Scheitel, aber ich wusste, keine Worte würden, dass, was geschehen war, wieder richten können. Sie schickte mich ins Bett und sagte, es sei alles in Ordnung. Und ich wusste, sie log. Und danach tat ich es auch. Jeden Tag."

An einem Morgen war Aria nicht da gewesen. Es war der erste Tag seit Langem, an dem es wieder geregnet hatte. An jenem Tag trommelte der Regen rhythmisch auf seinen gelben Schirm. Er hatte ihn extra gekauft, da es ihre Lieblingsfarbe war. Sanft rauschten die Blätter im Wind, während der Duft des feuchten Waldbodens ihn umhüllte. Und Augustus? Er wartete und wartete. Jedes Geräusch ließ ihn hoffnungsvoll aufschauen, in diesen Momenten schlug sein Herz schneller, bloß um im nächsten Moment enttäuscht festzustellen, dass sie nicht dort war. Vielleicht war sie verhindert. Vielleicht hatte sie ihn vergessen. Oder, und jener Gedanke schmerzte am meisten, vielleicht hatte er sie gelangweilt. Eine enttäuschende Leere, begleitet von einem Gefühl der Verlassenheit, breitete sich in ihm aus. Die Stunden verlängerten sich zu einer endlosen Ewigkeit, während er einfach wartete. Und dann, als ihm bewusst wurde, wie lächerlich er sich gemacht hatte, hielt die Welt für einen kurzen Moment den Atem an. Er stand auf.

„Du musst mich frei lassen", ertönte eine Stimme.

Erleichtert und zum gleichen Teil verwundert drehte sich Augustus um. Aria stand am anderen Ende der Lichtung. Ihr nasses Haar klebte an ihrer Stirn, während die Regentropfen über ihre helle Haut liefen. Irritiert sah Augustus zu ihr. Was wollte sie ihm sagen? Ohne einen weiteren Moment verstreichen zu lassen, eilte er zu ihr. Behutsam legte sie ihre kalte Hand an seine Wange.

„Begreifst du es denn nicht? Nach all den Jahren?" Heiße Tränen mischten sich mit den Tropfen auf ihrem Gesicht. „Ich rufe dich schon so lange. Ich flehe dich an, lass mich los! Menschen lügen. Menschen verletzen einander. Ihre Worte, ihre Taten. Es tat verdammt weh. Siehst du denn nicht, wie sehr ich leide? Das, was geschehen ist, ist geschehen. Sie lehnte dich ab und du warst doch noch ein Kind. Sie lehnte dich ab und suchte ihre Liebe bei ihm? Dieses Monster, das sie schlug und betrog! Das dich schlug. Du warst bei ihr und sie hat dich verstoßen. Es ging ihr nicht gut und du wusstest es. Wir wussten es. Du hast versucht, mit ihr zu sprechen, sie von deiner Liebe zu überzeugen. Und sie hat dich angelogen, abgelehnt. Dich in einem Ozean zurückgelassen. Aber du hast uns ertrinken lassen."

Verkrampft presste er die Lippen aufeinander, während seine Kehle schmerzhaft brannte. Die Trauer ließ sich nicht hinunterschlucken, diesmal nicht. Jeder seiner Atemzüge fühlte sich wie ein Kampf an.

„Du hast mich so lange weggesperrt. Hör mich endlich an. Ich kann nicht mehr!"

Zitternd griff Aria in seine Tasche und holte ihr Tagebuch heraus, dann drückte sie es ihm in die Hand.

„Sieh genau hin", sagte sie, den Schmerz in ihrer Stimme konnte sie kaum bändigen. Und er sah ganz genau hin. Langsam sank er zu Boden, während sein Körper unaufhörlich bebte. Die Trauer übermannte ihn und auf einmal waren alle seine Erinnerungen wieder so präsent. Fein säuberlich hatte sein Bewusstsein diesen Teil seines Lebens hinter einem gigantischen Schleier der Täuschung verborgen. Und als er sich beruhigt hatte, begriff er endlich.

„Aria, wie Melodie?", fragte Augustus.

In dem Moment strahlten ihre Augen: „Ja. Die Melodie deines Herzens."

Nach diesem Tag sah Augustus Aria nie mehr wieder. Aber es war in Ordnung, denn sie hatte ihm ein Geschenk gebracht. Seine Stimme.

Immer seltener durchforstete er das alte Notizbuch nach seinen Einträgen und irgendwann beschloss er, es an den Ort zurückzubringen, an dem er es gefunden hatte. Ein letztes Mal blickte er auf das kleine Buch, wie es friedvoll auf der Bank lag.

Dann lächelte er und ging.

Aicha Magnor

smile_aicha

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top