2022 | Die Hütte im Wald
Der Wald, den sie, schon seit gefühlt Stunden, durchquerten, roch nach Fichten und Erde, während der Wanderweg immer schmaler wurde. Nur manchmal konnte man einen Blick durch das Blätterdach werfen, aber dann sah man, dass sich die Wolken immer stärker zusammenzogen und es dunkel am Horizont war. Donner grollte hinter ihnen in den Bergen.
»Ich glaube nicht, dass wir das noch rechtzeitig schaffen«, sagte Yannik und presste seine Lippen zu schmalen Strichen zusammen. Er schnaubte genervt auf. Sein großer Wanderrucksack wurde bei jedem Schritt schwerer. Schon jetzt klebte ihm sein Shirt wie eine zweite Haut am Körper. Auch seine Cousine Lilly sah ziemlich erschöpft aus. Vielleicht war es insgesamt keine gute Idee gewesen, nicht den direkten Weg zu nehmen. Sie hatten stattdessen eine kleine Bergwanderung unternommen, um dann gleich im richtigen Tal für ihren Heimweg zu sein. Jetzt mussten sie nur noch den Bus nach Sonnfelsen nehmen, falls denn überhaupt noch einer fuhr.
»Okay, bleib mal kurz stehen«, antwortete Lilly. Sie vermied, es ihm in den Augen zu sehen, um sich nicht weiter von ihm provozieren zu lassen. Sie nahm ihren etwas kleineren Rucksack von den Schultern und begann ihn halb auszuräumen. »Mal sehen ...«, murmelte sie und zog eine Thermodecke, zwei Brotdosen, eine Wasserflasche und einen Apfel hervor, ehe sie ihre Hand ganz hineinstecken konnte und am Boden herumzuwühlen schien.
Über ihnen grollte es noch einmal, diesmal näher und lauter. Direkt über ihren Köpfen schob sich eine fast dunkelblaue Wolke. Yannik schluckte. Bei dem Gedanken, in einem Unwetter mitten im Wald zu stecken, wurde ihm ganz mulmig zumute. Besonders nachdem erst vor ein paar Wochen ihre Heimatstadt Sonnfelsen von einem Sommersturm überrascht worden war und es zwischenzeitlich, wie ein Kriegsschauplatz gewirkt hatte. Dächer waren abgedeckt worden, Fenster durchschlagen und manche Autos hatten ihn an Coladosen erinnert, die man mit der Hand zusammengedrückt hatte.
Er wollte gerade den Kopf wieder zu seiner Cousine drehen, als er etwas in seinem Augenwinkel wahrnahm. Es war klein und hatte die Farbe von altem Leder. Während Lilly weiter ihren Rucksack durchwühlte, näherte er sich seinem Fund. Als er schließlich davorstand, sah er ein kleines Notizbuch, das in ledernen Einband mit einer Schnur zusammengebunden war. Er nahm es in die Hand und spürte mehr Gewicht, als er erwartet hatte.
»Ah, hab ich dich!« Lilly klang triumphierend. Geistesabwesend steckte er es in seinen Rucksack und sah zu seiner Cousine. Sie zog gerade ihre Hand wieder aus ihrer Tasche hervor und brachte eine Karte zum Vorschein. Die einzige Möglichkeit, sich hier draußen zu orientieren, denn ihre Handys hatten, seit sie Mittwoch Nachmittag angekommen waren, keinen Empfang mehr.
Beide hatten sie sich sehr auf diesen kleinen Urlaub gefreut. Nur sie, eine kleine Bergwanderung – vielleicht ein Kaiserschmarrn auf einer Bergalm, ganz so, wie sie es früher immer mit ihrer Großmutter gemacht hatten. Dazu ein paar Tage in der abgelegenen Berghütte. Einfach nur die Natur, Ruhe und Erholung. Ein kleiner Reset, den sie beide jetzt einfach nötig hatten.
Lilly faltete die Karte auf und fing an, sie zu studieren, während sie mit ihrem Finger darüberfuhr und hin und wieder etwas murmelte. Yannik überließ es ihr, denn sie war eindeutig besser in diesen Dingen als er. Sie zögerte, strich eine ihrer blonden Strähnen zurück hinter ihr Ohr und sah ihn einen Moment besorgt an. Lilly hatte blaue Augen, eine kleine Nase und schön geformte Wangenknochen, ehe ihr Kinn etwas spitzer als seines zulief. Er selbst hatte dieselben blonden Haare, die lagen bei ihnen in der Familie, aber er hatte braune Augen und ein Grübchen am Kinn. Als er ihr in die Augen sah, lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter und er biss sich auf die Unterlippe.
»So schlimm?«, fragte er und Lilly nickte.
»Flipp‹ bitte nicht gleich aus, ja?«, sagte sie und fuhr dann mit ihrem Finger einen Weg nach. »Von hier sind wir gekommen und haben dann bei dieser Abzweigung den Weg genommen ...«
»Weil du gesagt hast, dass es kürzer ist!«, unterbrach er sie.
»Ist es auch, schau mal!«
»Aber was hat es uns gebracht?! Ich hab doch gewusst, dass ... Man immer dasselbe!«
Lillys Finger strich über die Karte und sein Blick folgte ihm. Den Weg, den sie genommen hatten, führte dichter am Berg und mitten durch den Wald entlang, während die Alternativroute – eigentlich der ausgeschriebene Wanderweg – einen weiten Bogen machte, um den Wald und einen kleinen See herumführte und dann in einem kleinen Nachbardorf ihres Zielorts wieder herauskam. Aber auch wenn er kürzer war, so waren sie in der letzten halben Stunde immer langsamer vorangekommen, da der Weg zugewachsen und teilweise von umgestürzten Bäumen versperrt worden war.
»Und jetzt?! Noch so eine glorreiche Idee?«
Wie um die Dringlichkeit in seiner Stimme noch weiter zu unterstreichen, donnerte es erneut. Diesmal näher, und die ersten schweren Tropfen fielen zu Boden. Lilly studierte die Karte und presste ihrerseits die Lippen zusammen.
»Ich weiß es nicht, Nicki«, erwiderte sie und zuckte zusammen, als es nochmals donnerte.
»Na große Klasse!«
Als Yannik sah, wie sie den Blick senkte, tat ihm seine Reaktion sofort leid. Es war nicht ihre Schuld. Und sie konnte auch nichts für das Wetter, das sie überraschte. »Lass uns erst mal weitergehen, vielleicht finden wir ja was zum Unterstellen«, sagte er und hoffte, versöhnlicher zu klingen.
Lilly nickte und murmelte: »Gut«, ehe sie aufstand und die Karte und die restlichen Gegenstände wieder in den Rucksack verstaute. Regentropfen trafen seinen Kopf und liefen ihm über die Stirn. Dann traf etwas seinen Kopf, das ein Hagelkorn sein musste. Beide dachten an das letzte Unwetter, was die zerstörten Fenster und abgedeckten Häuser mit sich gebracht hatte. Yannik erinnerte sich an eine Schlagzeile, die ihn sowohl verstört als auch traurig gemacht hatte. Etliche Störche waren erschlagen worden. Entsetzt trafen sich ihre Blicke. Sofort war alles vergessen.
»Wir müssen uns irgendwo unterstellen!«
Lilly nickte, dann rannten sie los. Der Hagel wurde stärker. Schmerzende kleine Stiche auf den Armen und im Gesicht. Sie waren kaum ein paar Hundert Meter weit gekommen, als aus den Tropfen ein regelrechter Monsun geworden war. Die Wolken standen nun dunkel und drohend über ihnen. Der Donner klang wie Detonationen und der Hagel zerfetzte die Blätter der Sträucher und Bäume. Sie kauerten sich beide unter einen Baum zusammen – wohlweislich, dass es nicht der beste Schutz bei einem Gewitter war. Immer wieder schlugen Blitze ein und beleuchteten die Dunkelheit. Knotige Baumstämme wirkten wie verzerrte Gesichter, knorrige Äste wie Finger einer alten Hexe. Alles schien sie anzustarren.
»Was ist das?«, fragte Lilly und Yanniks Herz setzte für einen Schlag aus. Sofort bildete sich eine Gänsehaut auf seinem Arm. Seine Cousine kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können und streckte die Hand aus, um auf etwas zu deuten. Er folgte ihrem Finger mit seinem Blick. Tatsächlich war da etwas.
»Es könnte eine Hütte sein«, sagte er.
»Ja!«, antwortete sie und griff seine Hand. »Komm!«
Also rannten sie beide die wenigen Meter durch den Wald. Wurzeln wucherten über den Waldboden wie dunkle Schlangen und der lehmige Boden sog sich mit Wasser voll. Sie bahnten sich einen Weg durch das Gestrüpp. Äste zerrten an ihnen, als wollte der Wald sie nicht vorbei; nicht gehen lassen. Ihre Schritte schlitterten über den rutschigen Boden, aber irgendwie gelang es ihnen, auf den Beinen zu bleiben. Kurz bevor sie das Haus erreichten, schlug ein Blitz unweit von ihnen ein. Für einen Herzschlag wurde es blendend hell und Yannik war sich sicher, dass dort etwas stand und sie beobachtete.
Dann endlich erreichten sie die Hütte. Das Schieferdach sah alt aus, aber Löcher schien es keine zu haben, und auch das Holz der Wände wirkte solide. Vor der Tür, sogar bereits unter dem Dach war eine kleine Veranda. Also selbst wenn die Tür verriegelt wäre, würden sie hier wenigstens geschützter sein. Außerdem sah er eine Art Forststraße, die zu der Hütte führte. Das Licht wirkte gelblich und fahl. Yannik war froh, dass sie sich zumindest unterstellen konnten.
Lilly warf ihm einen Blick zu und nickte zu dem Knauf. Er wusste, was das zu bedeuten hatte. Er sollte es versuchen, denn er war schon immer der Glückspilz von ihnen beiden gewesen. Auch wenn es jetzt wohl um etwas anderes ging, als eine Full House beim Kniffel zu werfen. Trotzdem würde er es versuchen. Also machte er einen Schritt nach vorne. Eine der Dielen knarrte unter seinem Gewicht. Er verharrte, griff dann aber doch nach dem Knauf. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Bitte, lass sie offen sein, dachte Yannik.
↼⇁
Draußen wurde es wegen des Gewitters noch dunkler. Jetzt, da der Herbst ins Land eingezogen war, schienen die langen Tage des Sommers bereits ewig entfernt zu sein. Die Nacht kam mit jedem Tag schneller. Es war etwas seltsam, ein Feuer in einer fremden Hütte zu entfachen. Vielleicht lag es daran, dass sie gerade erst einige Nächte in einer Berghütte verbracht haben, denn ansonsten wäre es Yannik nicht im Traum eingefallen. Andererseits, was hatten sie schon für eine Alternative? Das Feuer brannte knisternd im Kamin und spendete ihnen sowohl Licht als auch Wärme. Seit es brannte, fühlte er sich besser.
Alles, was sie dabeihatten, war vollständig durchnässt und bald würde es ohnehin zu dunkel sein, um weiterzugehen. Sie waren noch immer ein paar Stunden von der Busstation entfernt und sie würden den letzten Bus, falls er überhaupt noch fuhr, mit Sicherheit verpassen. Die Tür war zwar nicht verschlossen gewesen, doch – wenn man mal ehrlich war –, wer sollte bei diesem Wetter hier auftauchen? Yannik hoffte, dass sie die Nacht ungestört verbringen konnten.
Innen wirkte die Hütte etwas neuer, als das dunkle Holz von außen vermuten ließ. Vor dem Kamin befanden sich zwei alte Sessel und eine kleine Ledercouch. Dahinter an der Wand hing ein imposantes Geweih eines Hirschs und daneben standen zwei Regale, die mit allerlei Büchern gefüllt waren. An der gegenüberliegenden Seite hingen ebenfalls einige Geweihe und zwei Hängeschränke. Es gab eine Art Küchenzeile, allerdings ohne Herd. Als er die Schranktüren öffnete, fand Yannik einige alte Dosen, die noch immer gut zu sein schienen und die sie notfalls essen konnten, wenn ihre Vorräte nicht ausreichen sollten. Daneben lag ein kleines Schlafzimmer mit einem Bett und einem Schrank. Nur ein Bad konnte er nicht ausfindig machen, was ihn nicht überraschte, nachdem es weder Strom noch Wasser in der Hütte gab. Aber das wäre nicht so schlimm, wenigstens war es trocken.
Als er zurück zum Kamin kam, reichte Lilly ihm eine Decke. Sie selbst hatte sich bereits in eine zweite eingewickelt. Neben und auf dem Kamin hingen einige ihrer nassen Sachen. »Wir müssen aus den nassen Klamotten raus, sonst holen wir uns noch den Tod«, erklärte sie. »Sie ist etwas staubig, aber das Beste, was ich gefunden habe.«
»Gute Idee.« Yannik zog sein nasses Shirt und die Jeans, die er trug, aus, ehe er sich in die Decke wickelte. Er legte beides neben dem Kamin und setzte sich dann auf einen der Sessel. Für einen Moment genoss er die Ruhe und beobachtete die Flammen im Kamin. Draußen peitschte der Wind den Regen gegen die Holzwand. Die Fensterläden ächzten leise in ihren Angeln und auch der Donner ließ nach wie vor nicht nach. Das Unwetter lag noch immer über ihnen. Blitze durchzuckten die Nacht und verwandelten die Bäume in seltsame knotige Wesen, die jedes Mal etwas anders standen. Er seufzte.
»Was ist?«, fragte Lilly.
»Ich glaube, wir sollten hierbleiben.«
»Ja, das ist sicher das Beste«, antwortete seine Cousine und wirkte erleichtert.
»Heute wird niemand mehr kommen und hier ist es wenigstens trocken ...«
»Und warm«, ergänzte Lilly. »Also gut, abgemacht.«
Er drehte den Kopf und sah sie grinsend an. »Dann bleiben nur noch zwei Fragen offen.«
Sie hob die Augenbrauen, sagte aber nichts.
»Wer bekommt das Bett und was haben wir noch zu essen?«
Jetzt rollte sie mit den Augen und schüttelte ihren Kopf, trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass auch sie grinste. Yannik mochte es, wenn er sie erheitern konnte. Er wusste nicht, woran es lag, aber das hatte er irgendwie schon immer gekonnt. Sie verband ein sehr enger Draht zueinander und er konnte ihre Stimmung oft schon anhand eines Blicks erkennen. Yannik war ein halbes Jahr jünger als Lilly, aber gestört hatte sie beide das noch nie. Sie hatten etliche Ferien gemeinsam bei ihrer Großmutter verbracht und sahen sich generell sehr oft, auch wenn sie nie die gleichen Schulen besucht hatten. Manchmal kam es ihm so vor, als wären sie eigentlich Geschwister.
»Ich habe noch zwei Flaschen Wasser und du müsstest auch noch welches haben, das passt also schon mal ...«, sagte Lilly und griff nach ihrem Rucksack. »Unser Brot ist nicht mehr ganz so frisch, aber ein paar Scheiben sind noch da. Außerdem haben wir noch etwas Mini-Salami für mich, einen Apfel, etwas Hummus, etwas Zwiebelchutney für dich und wenn du lieb bist, kann ich vielleicht noch etwas Schokolade auftreiben, die ich für den Notfall gebunkert habe.«
»Du meinst so einen Notfall, wie wir ihn jetzt haben?«
»Nein, sondern eher, falls deine Laune wieder so unterirdisch wie vorher wird und du dich aufführst wie eine Diva. Du weißt schon, die Snickers-Versicherung.«
»Als ob ich so schlimm ...«, entgegnete er und verschränkte die Arme vor der Brust. »Du übertreibst doch maßlos.«
Lilly schmunzelte, antwortete jedoch nicht darauf. Sie wussten beide, wie er sich vorhin verhalten hatte. Zum Glück kannte sie ihn gut genug, um ihn so etwas nicht nachzutragen.
»Kann ich trotzdem ein Stück haben?«, fragte er und setzte seinen Hundewelpenblick auf. Lilly lachte auf. »Ich glaube, das geht schon in Ordnung«, sagte sie und holte eine Tafel Schokolade aus dem Rucksack und warf sie ihm zu. Er fing sie und öffnete sie sofort, brach eine Rippe sorgfältig ab und steckte sich dann die Hälfte in den Mund.
»Willst du auch?«
»Lass mal, danke«, antwortete sie lächelnd. »Man drängt sich nicht zwischen den Tiger und seiner Beute, wenn man an seinem Leben hängt.«
»Aber der Tiger würde teilen!« Yannik grinste.
»Danke, aber ich glaube, dem Tiger schmeckt es mehr als mir.«
Während er Schokolade liebte, begeisterte sich Lilly mehr für salzige Dinge. Und sie liebte Fleisch, wohingegen er immer bereitwillig darauf verzichten konnte. Es hatte lange gedauert, bis seine Großeltern akzeptiert hatten, dass er Fleisch nicht sonderlich schätze. Lilly stand auf und drehte die Klamotten um und legte ein Holzscheit nach, das sofort Feuer fing und dann laut knackte. Yannik aß noch etwas Schokolade und sah verträumt ins Feuer. Er liebte es, die Flammenzungen zuzusehen und konnte sich darin verlieren.
↼⇁
Die Zeit verstrich. Erst jetzt merkte er, wie sehr ihn diese Bergwanderung und die vergangenen Tage angestrengt hatten. Draußen ging die Sonne unter und es wurde kalt. Yannik stand einige Zeit an der offenen Tür und sah dem Regen zu. Er ließ etwas nach, aber noch immer war es besser, keinen Fuß vor die Tür zu setzen. Es war kein Ende in Sicht. Seufzend schloss er wieder die Tür und legte Holz nach, ehe sie etwas zusammen aßen und trockene Kleidung anzogen. Anschließend streckte sich Lilly auf der Couch aus und schien zu dösen. Auch wenn er erschöpft war, an Schlaf war noch nicht zu denken. Also inspizierte er die Hütte etwas genauer, fand dabei aber außer einem Campingkocher, einer Mokkakanne und Kaffeepulver nichts von Interesse. Dann zog das Bücherregal seine Aufmerksamkeit auf sich und er fragte sich, welche Bücher wohl an so einem Ort lagern mochten. Die Antwort war schnell gefunden. Hauptsache ein paar Krimis, alte Reiseführer und ein paar Fantasybücher. Nichts Aufregendes, nichts Weltbewegendes.
Er wollte sich gerade schon wahllos eines herausnehmen, als er an das Büchlein dachte, dass er gefunden hatte. Er konnte sich nicht mehr erinnern, es aus seinem Rucksack genommen zu haben, aber das musste er wohl, denn es lag neben dem Kamin bei seiner Kleidung zum Trocknen. Jetzt, da er es genauer betrachtete, vermutete er, dass es sich um ein altes Notizbuch handeln musste. Er hob es auf. Wieder wog es schwer in seiner Hand. Es wirkte alt und ramponiert, aber weder zerfleddert noch anderweitig beschädigt. Yannik betrachtete es und strich mit seiner Hand über das weiche Leder. An manchen Stellen wirkte es rissig und das Papier des Notizbuches hatte sich an manchen Stellen gelblich verfärbt. Wo es wohl herkam? Wer es dort verloren hatte, und wie lange musste es schon dort gelegen haben?
Yannik band die Schnur auf und schlug es wahllos auf. Er konnte den Geruch von Staub wahrnehmen, als ob das Büchlein doch schon in die Jahre gekommen war. Manche der Seiten waren eingeknickt oder hatten Eselsohren. Einige schienen sogar herausgerissen zu sein, dafür hatte man anderer Stelle etwas hineingeschoben. Während er darin herumblätterte, sah er etliche verschiedene Handschriften, Skizzen und sogar eine Karte.
»Was machst du da?«
Yannik zuckte vor Schreck zusammen. Das Buch rutsche ihm dabei aus der Hand und viel polternd zu Boden.
»Gott, musst du mich so erschrecken!«
Er fuhr herum. Er fühlte sich ertappt, ganz so, als hätte er Lillys Tagebuch gelesen und nicht irgendein fremdes Notizbuch. Seine Ohren fühlten sich an, als würden sie glühen.
»Sorry«, erwiderte Lilly, lächelte dann entschuldigend und dennoch hob sie fragend ihre Augenbrauen. »Hast du was Interessantes gefunden?«
»Weiß noch nicht, vielleicht eine Art Notizbuch. Es lag vorhin auf dem Weg«, erklärte er und bückte sich, um das Buch aufzuheben. Dabei fiel ihm auf, dass sich ein Stoß Seiten aus dem Buch gelöst hatte und nun daneben lag. Er griff danach und erkannte, dass es mehrere Seiten von einem anderen Notizblock waren, die in der Mitte gefaltet und dann in das Büchlein gelegt worden waren. Die Schrift war in akkurater, sauberer Form, zumindest am Anfang. Aber schon beim Überfliegen stellte er fest, dass sie gegen Ende hin eher hektisch und viel krakeliger wirkte, als wäre es in Eile hingeschmiert worden. Er setzte sich auf einen der Sessel und fing an zu lesen.
»Eigentlich ist die Hütte ganz schön, wem sie wohl gehört? Ein Glück, dass ich sie gefunden habe. Sie steht so verlassen mitten im Wald und doch scheint irgendjemand hier häufiger zu leben, wenn ich mir die Vorräte so ansehe. Als mich das Gewitter vorhin überraschte und ich mich hier untergestellt habe, war ich froh darum. Vielleicht finde ich ja morgen endlich einen Weg, um aus diesem elenden Wald herauszukommen, der nicht enden zu scheint. Und trotzdem fühlt es jetzt so an, als würde die Zeit einfach stillstehen ...«
Yannik hielt kurz inne. Das weckte sein Interesse. Zwar fehlte ein Datum auf dem Zettel, aber die Schrift war noch nicht wirklich verblichen. Sein Verstand versuchte sofort, die Lücken mit seiner Fantasie zu füllen. Die Person, die das geschrieben hatte, hatte ebenfalls die Nacht hier verbracht.
Schon lustig, welche Zufälle das Leben so spielt, dachte er und las weiter. Die Verfasserin – insgeheim ging er von einer Frau aus, denn die Form der Handschrift glich eher Lillys schöner, schwungvoller Schrift als seiner krakeligen Schmiererei – schien sich mit ihrem Bericht ablenken zu wollen. Sie hatte sicher hier darauf gewartet, dass das Unwetter vorbeigehen oder die Nacht enden würde. Sie erzählte von einem Ausflug in eine nahe Klamm, die sie unternommen hatte und wie wunderbar das Wasser bei dem heißen Wetter gewesen war, ehe sie von dem Unwetter überrascht worden war.
»Es ist schon ein seltsames Büchlein. Es steht allerhand Zeug drinnen, Tagebucheinträge, Einkaufslisten, Skizzen von Gärten und Zimmern, sogar mehrere Bilder von einem Hirsch mit einem prächtigen Geweih. Schon verrückt, das Buch lag einfach hier aufgeschlagen auf dem Tisch. Ich habe den unbändigen Drang verspürt etwas hineinzuschreiben, was ich auch getan habe. Und weil es sich richtig angefühlt hat, schreibe ich nun auf meinem Block diese Seiten, da ich das Büchlein nicht sinnlos füllen will, ehe ich es ganz gelesen habe. Wie es wohl hergekommen ist und wie lange es schon ...«
Hier riss der Text plötzlich mitten im Satz ab. Yannik blätterte die Seite um und tatsächlich, dort ging es weiter. Aber als er es las, lief es ihm kalt den Rücken herunter. Kurz hatte sein Herz einen Schlag ausgesetzt.
»Nicky?« Lillys Stimme klang nervös. »Was ist los?«
»Ich ... ich«, stammelte er und sah sie dann an. »Keine Ahnung. Hör dir das mal an ...«
»Himmel, bin ich gerade erschrocken. Da habe ich mir doch glatt eingebildet, Schritte vor der Tür zu hören. Da ist wohl die Fantasie mit mir durchgegangen, he he ... Kein Wunder, es war auch ein anstrengender Tag.
Bei dem Wetter ist sicher niemand hier draußen. Man würde ja nicht mal einen Hund vor die Tür ...
Da! Da war es schon wieder! Diesmal bin ich mir sicher. Eine Diele auf der Veranda hat geknarrt. Es war die Gleiche, die auch bei mir geächzt hatte, als ich ankam. Das kann doch nicht sein!«
Yannik hielt inne und schluckte. Langsam wurde ihm mulmig zumute. Er wusste genau, welche Diele gemeint war und wie sie klang. Leise knisterte das Feuer im Kamin.
»Es war sicher nur ein Waschbär. Gibt es die überhaupt bei uns? Wie auch immer. Als ich durch das Fenster gesehen habe, war da nichts. Die Hütte liegt an einer unbefestigten Forststraße, die bei diesem Regen sicher eine einzige Schlammbahn ist. Hier kommt keiner her. Das sind nur meine Nerven. Aber allein das Wissen, dass erst vor Kurzem wieder ein Mädchen verschwunden ist ... Nein, daran denke ich jetzt nicht. Nur weil es angeblich immer wieder zu Vermisstenfällen rund um Sonnfelsen kommt, muss das hier nichts damit zu tun haben, ich sehe nur Gespenster. Es ist ... »
Wieder endete der Text mitten im Satz. Danach wurde die Schrift größer, undeutlicher, als hätte man den Text hektisch hingekritzelt.
»Etwas ist da draußen! Ich höre, wie es um die Hütte schleicht. Dieses kehlige Schnaufen! Was ist das nur?! Ich kann nicht weg! Verdammt! Etwas ist gegen die Tür geprallt. Was tue ich denn jetzt?! Ich habe keinen Empfang und hier ist kein Telefon! Hoffentlich hält die Tür, hoffentlich ...«
Dann kam nichts mehr. Die Hälfte der Seite war frei und bis auf ein paar Spritzer – es war mit ziemlicher Sicherheit Matsch – war sonst nichts mehr zu sehen. Der Ruf einer Eule schallte durch die Nacht und fuhr ihm wie ein Eiszapfen durch die Adern. Kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn und um ein Haar wäre er aufgesprungen.
Ruhig, Yannik, dachte er. Ganz ruhig. Das bildest du dir nur ein.
Seine Finger krampften sich um das Blatt Papier. Sein Blick sah zu den Fenstern, aber diese hatten sich aufgrund des Lichtes drinnen und der Dunkelheit draußen zu Spiegeln verwandelt. Und doch bildete er sich ein, dass sich ein brauner Fetzen in seinem Blickwinkel bewegt hatte. Er sprang auf. Das konnte doch nicht sein! Etwas schien ihn zu beobachten, da war er sich plötzlich sicher.
»Nicky?«
»Ich ... äh«, stammelte er und sah sie dann an. »Das hat mich wohl etwas aufgewühlt«, erklärte er und strich sich verlegen durch die blonden Haare. Aber als er Lilly in die Augen sah, sah er dort ebenso Unsicherheit. Draußen klapperte es. Beide sahen sich ängstlich an.
»Flipp jetzt nicht aus ...«, sagte seine Cousine. »Aber ich habe vorhin auch schon gedacht, dass ich etwas gehört habe, als du draußen pinkeln warst. Ich dachte, ich bilde mir das nur ein und da ist nichts, aber seitdem werde ich das Gefühl nicht los, dass wir beobachtet werden.«
»Dein Ernst?!«
Sie zuckte mit den Schultern und lächelte entschuldigend. Draußen frischte der Wind auf. Etwas kratzte über die Holzfassade der Hütte.
Nur die Äste der nahen Bäume!
Etwas knackte vor der Tür. Wahrscheinlich war ein Ast abgebrochen und zu Boden gefallen.
Oder jemand ist auf einen Ast getreten!
Und dann klang es wirklich so, als ob jemand draußen auf und ab ging. Es klang nach schweren Stiefeln mit Absätzen. Klack, klack, klack.
»Oh Gott, das sind eindeutig Schritte!«, zischte Yannik und wich einige Schritte zurück, bis er mit den Kniekehlen an den Couchtisch stieß. Das Messer, dachte er triumphierend. Er drehte sich und griff nach dem Küchenmesser, mit dem Lilly vorhin das Brot und die Salami geschnitten hatte. Wenigstens würde er sie verteidigen können.
Ein animalisches Schnaufen, fast ein Röhren, das ganz und gar nicht menschlich klang. Dann schlug klappernd ein Fensterladen gegen das Fenster. Lilly entfuhr ein Schrei, worauf Yannik erneut zusammenzuckte. Er schien plötzlich in Strömen zu schwitzen. Sein Herz hämmerte immer schneller in seiner Brust und seine Muskeln vibrierten regelrecht vor Anspannung. Wieder schlug der Fensterladen klappernd gegen das Fenster. Sie mussten sich in dem Wind draußen aus ihrer Verankerung gelöst haben. Ja, so musste es sein. Das war die einzige rationale Erklärung, außer jemand hatte sie mit Absicht gelöst.
»Wir müssen hier weg«, sagte Yannik. »Etwas ist da draußen!«
»Spinnst du?! Wohin sollen wir denn?«
»Weiß nicht, vielleicht einfach der Straße folgen.«
»Das doch Wahnsinn!«
»Siehst du die braunroten Spritzer auf der letzten Seite! Wer immer hier war, ist hiergeblieben und hatte dann keine Zeit mehr ... Das ist Blut Lilly, Blut!«
Er wusste nicht warum, aber er war sich ziemlich sicher, dass er recht hatte. Wenn sie hierblieben, dann würden sie sterben. Sein Herz glich einem wummernden Bass. Seine Haut schien vor Aufregung förmlich zu kribbeln. Was immer da draußen war – so genau wollte er es eigentlich auch gar nicht wissen –, würde bald hereinkommen und dann saßen sie in der Falle. Die Schritte schienen sich wieder zu entfernen, doch dann kratzte etwas über die Holzwand hinter ihnen. Yanniks Nackenhaare stellten sich auf und er konnte nur mit Mühe einen Aufschrei unterdrücken.
»Es ist am Schlafzimmer«, flüsterte Lilly und sah ihn an. »Bist du dir sicher?«
Yannik nickte und sein Griff um das Messer wurde stärker. Er hob es etwas an, um es ihr zu zeigen.
»Aber du gehst voraus«, sagte er und sah sie durchdringend an. »Du läufst vor! Du musst dich um den Weg kümmern.«
Sie zögerte, nickte dann aber und stand auf. Sie griff ihren Rucksack, zog eine Taschenlampe hervor und schaltete sie ein. Auch Yannik griff nach seinem Rucksack und schulterte ihn. Dann schlichen sie zur Tür und lauschten. Draußen war nichts zu hören. Es war ruhig. Fast zu ruhig.
»Jetzt!«, flüsterte Yannik und riss die Tür auf.
↼⇁
Sie rannten durch die dunkle Nacht. Der weiße Lichtkegel von Lillys Lampe leuchtete aschfahl vor ihnen und bewegte sich hektisch über den unebenen Boden. Kurz blitzte ein Hufabdruck in dem lehmigen Boden auf, aber Yannik kümmerte sich nicht weiter darum. Sie folgten Fahrrinnen, in denen sich schlammiges Wasser gesammelt hatte. Wichen Wurzeln, Steinen und Brombeersträuchern aus. Schweiß rann ihm die Stirn herunter und brannte in seinen Augen. In seiner linken Seite schien bei jedem Atemzug ein glühender Dorn zu stecken. Aber sie durften jetzt nicht stehen bleiben. Sie mussten weg. Schnell.
Er sah immer wieder Kratzspuren auf den Stämmen der Bäume. Dann röchelte etwas hinter ihnen und Yannik meinte, den feuchten, heißen Atem in seinem Nacken zu spüren. Er wagte es nicht, sich umzudrehen. Sein Herz schlug wild und hart. Seine Muskeln brannten vor Anstrengung. Es röhrte wieder, dann zerfetzte ein gewaltiger Knall die Nacht.
»Weiter!«, rief er. »Schneller!«
Über ihnen kreischte eine Eule und flatterte auf. Yanniks Gefühl, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, war nun fast greifbar. Adrenalin strömte durch seinen Körper und er rannte, so schnell er konnte, und folgte dabei Lilly. Sträucher und Bäume schossen an ihnen vorbei. Feine Äste rissen ihm die Arme und Wangen auf, aber er merkte den Schmerz kaum. Ihr Schritte platschten im Wasser auf der Forststraße und sie hatten Mühe, nicht auf dem lehmigen Boden das Gleichgewicht zu verlieren. Doch sie schafften es irgendwie.
Und dann, urplötzlich und ohne Vorwarnung, waren sie draußen aus dem Wald und die Straße führte über eine breite Wiese. Ohne darauf zu achten, rannten sie weiter. Aber nichts schien ihnen mehr zu folgen. Keine Schritte, kein Schnaufen. Nichts bis auf den Regen. Yannik warf einen Blick zurück und bildete sich ein, zwei Lichtpunkte orange glühen zu sehen. Später fiel ihm ein, dass das mit Sicherheit die Fenster der Hütte gewesen sein mussten. Dort brannte das Feuer noch immer und den Schein des Lichts musste man sicher sehr weit sehen. Zumindest sagte er sich das später immer wieder, aber ganz sicher, war er sich nie.
Sie waren gänzlich allein auf einer schmalen Schotterstraße. Irgendwann wurden sie etwas langsamer, aber sie blieben nicht stehen. Dann, endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, tauchte ein großes Bauernhaus, in dem noch Licht brannte, vor ihnen auf und sie rochen den vertrauten Geruch von Kühen, Mist und Heu. Sie sahen einander an und nickten sich aufmunternd zu.
»Und was sollen wir sagen?«, fragte Lilly, während sie über den Hof zwischen dem Stall und Haus gingen. Ihre Schritte knirschten auf dem Kies.
»Die Wahrheit«, erwiderte Yannik. »Wir waren auf dem Rückweg von einer Wanderung und wurden von einem Gewitter überrascht.«
»Vielleicht solltest du das Messer wegstecken«, meinte Lilly und erst da fiel ihm auch, dass er es immer noch fest umklammert hielt.
»Du hast recht«, murmelte er und verstaute es in seinem Rucksack.
»Und was ist mit der Hütte und ... du weißt schon?«
Yannik zuckte mit den Schultern. »Vielleicht müssen wir ja gar nicht davon erzählen. Glauben wird es uns eh keiner.«
»Aber da war etwas, ich habe es gehört.«
»Ich doch auch, aber ... Jetzt klopfen wir erst einmal und dann sehen wir schon, wie es läuft ...«, sagte er und erinnerte sich an das Notizbuch. Ihm fiel auf, dass er es bei all der Hektik im Haus hatte liegen lassen. Sie atmeten beide durch, sahen einander ein letztes Mal an, und Lilly nickte ihm erneut auffordernd zu. Yannik wusste, nun war er wieder an der Reihe. Er war der Glückspilz der beiden. Dann dachte er ein letztes Mal an das Büchlein. Vielleicht sollten sie morgen bei Tageslicht umkehren und es holen. Aber dann wurde ihm klar, dass ihn keine zehn Pferde zurück in den Wald und zu dieser Hütte bringen würden.
Schade eigentlich, dachte er und klopfte an die Tür. Da standen sicher noch einige spannende Dinge drinnen ...
StephanRoth
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top