2020 | Scherben des Glücks

Finn verließ das Flugzeug als einer der Ersten, ein Vorteil, wenn man Businessclass reiste. Er hatte den Entschluss dazu nicht gefasst, um den Luxus der breiteren, bequemeren Sitze, die höhere Aufmerksamkeit der Crew oder das bessere Essen genießen zu können. Das alles war ihm vollkommen egal gewesen.

Aber er hätte es nicht ertragen, den vierstündigen Flug inmitten von fröhlichen Menschen zu verbringen, die sich auf den Urlaub freuten.

Fröhlichkeit und Freude waren Fremdwörter für ihn geworden, seit ...

Er schüttelte den Kopf, um die Gedanken loszuwerden, aber auch um die Tränen daran zu hindern, seine Augen zu verlassen.

Nach der Landung lief er zur Gepäckausgabe. Seine Reisetasche kam schnell über das Förderband bei ihm an, ohne einen Blick nach links oder rechts zu werfen, verließ er das Flughafengebäude. Den Weg zum Schalter der Autovermietung kannte er gut, schon oft war er ihn gegangen, bevor ...

Der Angestellte begrüßte ihn freundlich, beinahe etwas untertänig, er war ein guter Kunde, hatte schon viele Fahrzeuge hier gemietet. Allerdings stets teurere Modelle als den kleinen Seat, für den er sich dieses Mal entschieden hatte.

Der Spanier brachte ihn zu den Fahrzeugen im Parkhaus, wollte die wichtigsten Funktionen des Wagens erklären, doch Finn drückte ihm wortlos einen Schein in die Hand, nahm den Schlüssel und fuhr los.

Er versuchte, die großen Schriftzüge, die überall an den Gebäuden prangten und den Namen des Flughafens verkündeten, nicht anzusehen, doch es gelang nicht ganz. »Reina Sophia« – wie hatten sie gelacht, als sie das zum ersten Mal gelesen hatten.

Nun konnte er die Tränen nicht mehr länger zurückhalten. Er wischte und wischte, bis seine Augen wund waren und brannten, doch er blieb halb blind. Notgedrungen fuhr er an der nächsten Ausfahrt von der Autobahn, versuchte den Weg ans Meer zu finden, ohne einen anderen Verkehrsteilnehmer zu gefährden.

Schließlich hatte er einen Strandabschnitt erreicht, einen ganz bestimmten, einen der Erinnerungen weckte an eine Zeit, als das Leben noch vor ihm lag.

Er verließ das Fahrzeug, wankte die paar Schritte bis zum Wasser, fiel in den weichen Sand, fühlte den Schmerz, der sein Herz abdrückte, ihm die Luft zum Atmen nahm.

Dankbar nahm er ihn an. Deshalb war er hierhergekommen.

Der leichte Wind, der die Wellen ein wenig tanzen ließ und die Schwüle aus der Luft nahm, wehte ihm die Haare, die lang geworden waren, ins Gesicht. Die Sonne, die schon tief stand, blendete kaum. Der Vollmond zeigte sich schon blass am Himmel.

»Siehst du! Es stimmt gar nicht, dass sich Sonne und Mond nie treffen!«, hörte er in seinem Kopf ihre Stimme.

»Deshalb haben wir uns ja auch getroffen!«, hatte er geantwortet und sie geküsst. »Die strahlende Sonne und der blasse Mond.«

Ihre dunkelblauen Augen hatten ihn ernst angesehen. »Du bist kein blasser Mond! Du bist der hellste Stern an meinem Himmel!«, hatte sie geflüstert und ihm zum sicher zwanzigsten Mal diese widerspenstige Strähne aus dem Gesicht gestrichen.

Nun, wieder hier an diesem Strand, konnte er nicht mehr anders, er musste brüllen, sich den Schmerz von der Seele brüllen. »Sophia!«, schrie er immer und immer wieder. »Sophia!«

Er hatte es gewusst, dass es ihn wahrscheinlich umbringen würde, hierher zurückzukommen.

Auf Teneriffa, die Insel, auf der sie so glücklich gewesen waren.

Wo er ihr zum ersten Mal das Meer hatte zeigen können, die Lavafelder um den Teide, die verwunschenen Lorbeerwälder. »Märchenwald!«, hatte sie den schönsten genannt.

Sie hatten auf einer geführten Tour den Teide bestiegen. Er wäre lieber mit der Bergbahn gefahren, aber wenn sie ihn lachend »alter Mann genannt« hatte, war sein Ehrgeiz erwacht.

Die kleinen Städtchen, durch die sie gebummelt waren, die weiten Strände.

Um die Touristenzentren hatten sie einen weiten Bogen gemacht, die brauchten sie nicht.

Er hatte eine wunderschöne Finca gebucht, für seine »Reina Sophia« – seine Königin Sophia. Wie ein Kind war sie durch die großzügigen Räume getanzt, hatte den riesigen Überlaufpool bestaunt, jede Kaktee, jede Agave, jede Palme auf dem weitläufigen Grundstück begrüßt.

Schnell hatte sie den Pfad zu der kleinen Privatbucht entdeckt, hatte ihn an der Hand genommen und war den steilen Weg hinuntergestürmt.

Er hatte um seine Knochen gefürchtet, schließlich war er doppelt so alt wie sie und nicht mehr so gelenkig.

Als er fühlte, wie glücklich er bei diesen Erinnerungen wurde, sprang er schnell auf.

Nein! Das war falsch!

Er musste leiden, sich quälen, Schmerz empfinden, keine Freude, kein Glück.

Er lenkte die klapprige Karre zurück in Richtung Autobahn. Im nächstgrößeren Ort suchte er den Weg zur Strandpromenade. Dort gab es sicher eine Vermittlung für Ferienquartiere. Die Finca hatte er bewusst nicht gebucht, wusste, das wäre zu viel für ihn.

Schnell fand er, was er gesucht hatte, betrat den etwas heruntergekommenen Laden. Der Angestellte bot ihm natürlich zuerst die lukrativsten Objekte an, doch Finn schüttelte bei allen nur den Kopf. Sein Blick fiel auf ein Häuschen, das eher einer Baubude glich, wusste sofort, dass es das war, was er wollte.
Der Spanier verbarg seine Enttäuschung gut, sie füllten die Meldebescheinigung aus, Finn unterschrieb den Vertrag, bekam Schlüssel und Wegbeschreibung.

Eine Stunde später hatte er im Schein des mittlerweile hellen Vollmondes die Hütte - mehr war es wirklich nicht – erreicht. Doch sie hatte Stromanschluss und fließend Wasser. Sie lag zwar genau an der Hauptstraße, aber der Blick war atemberaubend. Die funkelnden Lichter der kleinen Orte weit unten versprachen das.

Finn holte ihr Foto aus seiner Reisetasche, stellte den Rahmen auf den wackligen Nachttisch und ließ sich auf die quietschende Matratze fallen. Zu mehr reichte seine Kraft nicht mehr.
Zum ersten Mal seit langer Zeit schlief er tief und traumlos.

Am nächsten Morgen inspizierte er die Einrichtung. Viel gab es nicht davon. Ein kleiner Kleiderschrank, dessen Türen schief in den Angeln hingen, ein Tisch, zwei Stühle, ein Minikühlschrank und ein Campingkocher neben einer Kaffeemaschine auf einem Holzkasten.

Eine Überraschung war die Nasszelle mit einer funktionierenden Dusche, einem relativ neuen Waschbecken und einer einigermaßen sauberen Toilette.

Als er sich erfrischt hatte, ging er in den Wohnraum zurück. Sein Blick fiel auf ein kleines Regal auf der anderen Seite des Bettes, das er vorher übersehen hatte.

Abgegriffene Taschenbücher in verschiedenen Sprachen waren dort zurückgelassen worden. Ein kleines Büchlein zog ihn an. In Leder gebunden, fleckig, abgewetzt.

Er zog es heraus und öffnete es. Das Papier war vergilbt, roch modrig. Die Seiten waren größtenteils beschrieben, doch auch Zeichnungen entdeckte er. Die letzten Blätter waren leer. Er legte das Büchlein auf seinen Nachttisch, würde sich später damit beschäftigen.

Jetzt musste er erst einmal Lebensmittel besorgen - und Alkohol. Der letzte Abend war eine Ausnahme gewesen, er hatte vollkommen nüchtern einschlafen können.
Aber das würde ihm wohl kein zweites Mal gelingen.

Er griff nach seinem Handy, wollte nach einem Supermarkt in der Nähe suchen. Doch kein vertrauter Ton erklang, der signalisiert hätte, dass das Gerät hochfuhr. Es war mehr als tot.
Er suchte in seiner Reisetasche nach dem Ladegerät, wurde immer panischer, schüttete den Inhalt aufs Bett.

Nichts! Auch keine seiner vielen Powerboxen war zu finden.
Okay! beruhigte er sich. Es war ja nicht wirklich ein Wunder, dass er vollkommen kopflos gepackt hatte, nachdem er im Krankenhaus die zweite absolut tödliche Nachricht innerhalb weniger Stunden erfahren hatte.

Sein Kopf war absolut leer gewesen, sein Herz hatte gerast, sein Gehirn hatte sich in einer Art von Schockzustand befunden.
Weg! war sein einziger Gedanke gewesen. Nur weg!

Er wischte sich über sein Gesicht, das schon wieder feucht von Tränen war, atmete tief durch.
Dieses Problem wäre zu lösen, war keine Katastrophe. Shops für Handy-Zubehör gab es in jedem größeren Ort, einen Laden für Lebensmittel würde er auch ohne elektronische Unterstützung finden.

Er startete den kleinen Wagen, in dem seine langen Beine kaum Platz fanden, fuhr die Serpentinen der Bergstraße nach unten Richtung Meer.

Zwei Stunden später kam er zurück, räumte Käse und Wurst in den kleinen Kühlschrank, legte das Brot auf das Gerät. Mehr würde er nicht brauchen.
Er konnte nicht einmal Nudeln kochen, ohne dass das Wasser anbrannte, hatte sie ihn immer aufgezogen. Die Flasche Whiskey und den Fünf-Liter-Karton mit Rotwein platzierte er auf dem Regal.

Dann steckte er das Ladegerät in die Steckdose und an sein Handy. Wichtig waren ihm die Fotos von ihr, von ihm, von ihnen beiden aus glücklichen Zeiten.

Er befüllte die Kaffeemaschine, hoffte, dass das kochende Wasser alle Keime abtötete.
Wenn nicht, wäre es auch nicht schlimm! dachte er bitter.

Er belegte sich eine Scheibe Brot, füllte eine der abgeschlagenen Tassen mit brauner Brühe und setzte sich auf die wacklige Bank vor dem Häuschen.
Die Sonne brannte schon heiß, aber die Hütte spendete noch etwas Schatten.

Seine Gedanken gingen zurück, er war wieder im Krankenhaus, hörte, was die mitfühlende Ärztin ihm klar machen wollte, atmete panisch, versuchte, Sauerstoff in seine Lungen zu zwingen.

Bald gab er den Kampf gegen den Schmerz auf, schenkte sich das erste Glas mit Whiskey ein, wusste, es würde nicht das letzte sein.

Carina

Carina schleppte sich die Stufen zwei Stockwerke hoch zu ihrer Wohnung. Eigentlich hatte sie noch einkaufen wollen, aber nach diesen emotional fordernden Tagen hatte sie nicht mehr die Kraft dazu gehabt. Eine Dosensuppe oder ein Fertiggericht aus der Tiefkühltruhe musste noch einmal reichen.

Zum Glück hatte sie noch eine Flasche Rotwein im Schrank, ihre Seele brauchte heute Trost. Sie trank eigentlich nie Alkohol, das Rauchen hatte sie sich vor einem Jahr auch abgewöhnt.

Aber nach dem, was sie heute erlebt hatte, war sie schwer in Versuchung gewesen, eine Schachtel aus dem Automaten zu ziehen.

Ausgelaugt und seelisch vollkommen erschöpft schälte sie sich aus ihrem Mantel, den sie einfach fallen ließ, schleuderte die Schuhe von den Füßen. Wo sie landeten, war ihr egal.

Mit einem Glas Wein in der Hand durchquerte sie ihr kleines, aber gemütliches Wohnzimmer, öffnete die Türe zum Balkon, sank in den bequemen Relaxstuhl.
Lachende Kinderstimmen drangen nach oben, Erwachsene unterhielten sich laut, von irgendwoher kam Grillgeruch.
Tränen liefen über ihr Gesicht. Das Leben ging weiter.

Aber nicht für Sophia Nielson, nicht für die kleine Cara und sicher auch nicht für den Professor.

Carina wusste, sie brauchte ein dickeres Fell, durfte die Schicksale der Patienten nicht so nah an sich heranlassen. Schon während des Studiums hatte man ihnen das eingeschärft, und sie schaffte es auch meistens. Aber das heute war zu viel gewesen, da haderte sie mit dem Schicksal, konnte die Macht, die all das zu verantworten hatte, einfach nicht mehr begreifen.

Sie sah den gutaussehenden Mann vor sich, konnte sein Bild auch nicht wegwischen. Vierzehn Tage lang hatte er auf der gynäkologischen Station gewohnt, hatte seine wunderschöne junge Frau nicht eine Minute aus den Augen gelassen.

Sophia litt unter wahnsinnigen Kopfschmerzen und Gesichtsausfällen, die Ärzte vermuteten einen Gehirntumor. MRT-Aufnahmen konnten nicht gemacht werden wegen der Schwangerschaft, sie wollte um nichts auf der Welt dem Baby schaden. Zwei Wochen hatte sie gelitten, dann war der siebte Monat erreicht, sie ließ sich zu einem Kaiserschnitt überreden.

Doch sie wachte aus der Narkose nicht mehr auf, fiel in ein tiefes Koma. Der Professor wanderte zwischen der Frühchen- und der Intensivstation hin und her, verließ die Klinik keine Stunde. Dann gab das Gehirn der jungen Frau auf, sie mussten sie gehen lassen. Seine kleine Tochter hielt den Professor am Leben. Doch einen Tag nach dem Tod seiner Frau lag das Kind leblos im Brutkasten, und Carina musste ihm die Nachricht überbringen.

Wortlos stand er vor dem Bettchen unter der Glaskuppel, sah die Kleine an. »Sie sieht ganz anders aus«, flüsterte er schließlich. »So ... so ... so gesund!«

Carina legte die Hand tröstend auf seine. »Das liegt daran, dass die ganzen Sonden und Sensoren abgemacht worden sind«, erklärte sie.

Er nickte nur, drehte sich um und wollte gehen.
»Möchten Sie Cara nicht beerdigen?«, fragte sie leise.
Er schüttelte nur den Kopf, setzte Fuß vor Fuß wie ein Roboter, verließ die Klinik.

Ab dieser Stunde war er telefonisch nicht mehr erreichbar. Carina fuhr nach dem Dienst zu seinem Haus, auch wenn das ihre Kompetenzen eigentlich überschritt. Aber sie fürchtete um sein Leben.

Nachbarn beruhigten sie etwas. »Er ist mit einem Taxi weggefahren, hatte eine Reisetasche dabei«, berichteten sie.

Nun saß sie hier, hatte sich gerade das zweite Glas Wein eingeschenkt. Zum Glück hatte sie morgen frei, bevor drei Tage Nachtdienst anstanden.

Seine Worte kamen ihr wieder in den Sinn. »Sie sieht ganz anders aus!« Vor ihren geistigen Augen tauchte das Bild des toten Mädchens auf. Gesund! Ja, die Kleine hatte gesund ausgesehen. Nicht so faltig, so winzig klein. Ihre Wangen waren gerundeter, die Haare dunkel und ziemlich dicht.

Dunkel?, schoss es ihr durch den Kopf.
Cara hatte blonden, dünnen Flaum auf dem Kopf gehabt.

Eine eiskalte Panik ergriff sie. Das konnte nicht sein! War sie so unaufmerksam gewesen? Sie hatte Cara zwei Wochen lang versorgt! Sie hätte es merken müssen. Doch sie war allein für sechs Babys, die zu früh oder krank geboren worden waren, zuständig. Dazu kamen noch die Untersuchungen nach Geburten, das Schreiben der Berichte, die Teambesprechungen auf der Station, die Konsilien mit den Ärzte-Kollegen.

Sie musste der Sache morgen nachgehen, mit dem zuständigen Pflegepersonal sprechen, vorsichtig natürlich.

Finn

Am nächsten Tag saß Finn am Strand, der zu dieser frühen Morgenstunde noch menschenleer war. Die Ebbe hatte eine kleine Lagune zurückgelassen. Er sah Sophia vor seinen Augen, wie sie im Sand gebuddelt hatte, kleine Kanäle gegraben hatte, ihre eigene kleine Wasserlandschaft geschaffen hatte.
Schon wieder brannten seine Augen, und das lag nicht an der aufgehenden Sonne. Er scrollte durch die Fotos auf dem Handy, erinnerte sich an ihre Anfangszeit.

Es war auf einer Party zum Semesterbeginn passiert. Sie hatte ihn mit der Unbekümmertheit ihrer 19 Jahre angeflirtet, hatte gespielt mit ihm. Sie hatten getanzt, eng umschlungen, sie hatte sich an seinen Körper gedrückt - und er wäre kein Mann gewesen, hätte er auf dieses eindeutige Angebot nicht reagiert.

Im Freien hatten sie sich geküsst, als gäbe es kein Morgen mehr. Kurz war ihm der Gedanke gekommen, dass es gefährlich für ihn werden könnte. Er war ihr Professor, es konnte ihn seinen Job kosten, wenn eine sexuelle Beziehung zu einer seiner Studentinnen bekannt werden würde. Schweratmend hatte er sich von ihren Lippen gelöst, hatte sie bei der Hand genommen. Dann waren sie spazieren gegangen. Quer über den Campus, bis zu dem kleinen Weiher. Sie hatten geredet, über Gott und die Welt, und als sie sich auf der Bank am Ufer niederließen, hatte er gewusst, dass er mehr wollte als eine heiße Nacht. Er hatte sich verliebt – zum ersten Mal in seinem Leben.

Sie hörte auf zu studieren, er konnte ihr alles, was sie wissen und können musste, auch privat beibringen.
Ein Jahr später hatte er ihr Todesurteil gefällt. Kurz nach der verrückten Hochzeit in Gretna Green hatte er ihr gesagt, dass er gerne ein Kind von ihr wollte. Sie hatte zuerst gelacht, seine Bitte zurückgewiesen. Aber er hatte schon immer sehr hartnäckig und zielorientiert sein können. Vor sieben Monaten war sie schwanger geworden.

Nun liefen die Tränen sturzbachartig, er hatte das Gefühl, sich aufzulösen, hoffte beinahe darauf.

Halbblind wühlte er in seinem kleinen Rucksack nach Taschentüchern. Seine Hand stieß an etwas, das sich fremd anfühlte. Er griff danach und zog das seltsame Büchlein heraus. Er konnte sich gar nicht erinnern, dass er es eingepackt hatte. Als sein Blick wieder klarer war, fing er an, durch die Seiten zu blättern. Texte in verschiedenen Sprachen, manche auch in ihm unbekannten Schriften wechselten sich ab mit Zeichnungen, von denen manche sehr detailliert und naturgetreu waren, manche dagegen sehr kryptisch.

Er musste lächeln. Sophia hätte das Büchlein gefallen. Sie hatte Rätsel und Geheimnisse geliebt, hätte sich die romantischen Geschichten ausgedacht, wo das alte, für ihn eher nutzlose Ding schon überall gewesen war.

Seine Hand zuckte, als hätte sie ein Eigenleben entwickelt, suchte nach einem Stift. Mit raschen Strichen skizzierte er das schöne Gesicht seiner Frau auf einer der leeren Seiten. So oft hatte er sie porträtiert, die Bilder in Öl, Acryl, Kreide oder Aquarell hingen in seiner eigenen kleinen Galerie im Tiefparterre seines Hauses. Doch verkauft hatte er nie eines, er hätte es nicht übers Herz gebracht, wollte ihre Schönheit mit niemandem teilen.

Verkauft hatte er in letzter Zeit eigentlich nur noch ihre Werke. Sie war eine so außerordentlich begabte Künstlerin gewesen, wäre sicher ein neuer, heller Stern am Himmel des Kunstmarktes geworden.

Während der ersten Schwangerschaftsmonate hatte sie gemalt wie besessen. Doch plötzlich hatte sie sich verändert, hatte Dinge vergessen, über die sie sich am Vortag unterhalten hatten, saß stundenlang auf dem riesigen Sofa und blickte in den Garten. Oft zwickte sie die Augen zusammen, als hätte sie Schmerzen. Aber alle Fragen von ihm blieben unbeantwortet.
Er schob ihr ungewohntes Verhalten auf die Hormonumstellung.

Bis sie ihren Zustand nicht mehr vor ihm verbergen konnte, bis sie endlich um Hilfe bat.
Hilfe, die er ihr nicht hatte geben können, die ihr niemand hatte geben können.

Er fühlte, dass der Punkt erreicht war, an dem ihn nur noch Alkohol retten konnte, an dem nur noch Schnaps oder Wein die Dämonen der Erinnerung in Schach halten konnten.

Carina

Carina stand vor dem leeren Bettchen, in dem die kleine Cara Nielson gestorben war, versuchte krampfhaft, sich an das Mädchen zu erinnern.

Sonja, die erfahrene Pflegekraft trat zu ihr, legt tröstend die Hand auf ihre Schulter. »Wir können nicht alle retten!«, flüsterte sie.

Carina tauchte aus ihren Gedanken auf. »Wo ist die Kleine?«, fragte sie.
»Im Kühlraum«, antwortete Sonja. »Wir können den Professor nicht erreichen wegen der Beerdigung. In spätestens zwei Tagen wird sie dann wohl verbrannt werden, die Urne bei den verstorbenen Frühchen beigesetzt werden.«

»Ich kümmere mich darum!« Impulsiv hatte Carina den Plan gefasst. Sie würde alles dafür tun, dass die Tochter von Sophia und Finn Nielson ein ordentliches Begräbnis bekam. Ihre Mutter hatte ihren eigenen Körper in einer Verfügung der Universität zur Verfügung gestellt, aber die Kleine sollte nicht irgendwo verscharrt werden.

In ihrer Pause fuhr Carina mit dem Aufzug in den Keller. Sie wollte das Mädchen noch einmal sehen, um dessen Leben sie so gekämpft hatten, bis alle zusammen diesen Kampf verloren hatten. Sie fröstelte, als sie den heruntergekühlten Raum betrat. Drei Bahren waren belegt, die toten Körper waren mit weißen Leinentüchern abgedeckt. In einer Ecke machte sie die deutlich kleinere Liege aus.

Sie zog das Tuch vom Köpfchen, sah das tote Mädchen mit feuchten Augen an. Und schlagartig war sie sicher, dass dieses Kind nicht Cara war, nicht Cara sein konnte.
Dieses Baby war zwar auch nicht neun Monate lang ausgetragen worden, war aber deutlich weiterentwickelt als das Töchterchen des Professors.

Wie hatte sie das übersehen können?

Hatte ihr Blick sich belügen lassen, weil nicht sein konnte, was doch nun offensichtlich war?

War es die Überarbeitung gewesen?

Den Tod der Kleinen hatte ihr Kollege Holger festgestellt, was sie etwas verwundert hatte, da sie ihre Patientin gewesen war.
Doch auch da waren die Alarmglocken in ihrem Kopf noch still geblieben.

Erst die Worte des gebrochenen Vaters hatten sie nachdenklich werden lassen.

Was wurde hier gespielt?

Was war passiert?

Welch ein perfider Plan war hier durchgeführt worden?

Wer war eingeweiht?

Wusste der Chefarzt davon?

Oder hatte Holger das allein durchgezogen?

Warum?

Was konnte sie tun?

Sie sollte eine Gewebeprobe entnehmen, aber wenn sie jemand erwischte, würde das als Leichenschändung gewertet werden.
Und wie sollte sie an die DNA der Eltern kommen?

Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen, zog Gummihandschuhe über, riss der Kleinen ein paar Haare aus, packte diese in die Hülle der Taschentücher in ihrer Kitteltasche.

Mit rasendem Herzen fuhr sie wieder nach oben.

»Ist dir gerade ein Geist begegnet?«, zog Sonja sie auf, als sie bleich und zitternd auf ihrer Station ankam.

Carina war kurz davor zusammenzuklappen.

Doch sie musste sich am Riemen reißen, sie musste das jetzt durchziehen. Da gab es einen Vater, der unendliches Leid auszuhalten hatte, der um seine Frau und um seine Tochter trauerte.
Sie sah auf die Uhr. Noch zwanzig Minuten hatte sie Pause, die musste sie nutzen.

Sie machte sich auf den Weg durch endlose, stille Krankenhausgänge, bis sie die gynäkologische Station erreicht hatte. Zum Glück hatte Marga Nachtdienst, eine gemütliche, rundliche Pflegerin, mit der sie sich immer gut verstanden hatte.

»Hallo! Wie schön, dass du mich besuchst!«, begrüßte die Ältere sie.

Nach ein paar Worten Smalltalk fragte Carina wie nebenbei: »Was habt ihr mit den Sachen von Frau Nielson gemacht?«

Margas Blick trübte sich ein. Das Drama um die junge Frau und ihr Baby hatte niemanden kalt gelassen. Den gebrochenen Blick des Ehemannes, als er begriffen hatte, dass die Liebe seines Lebens gestorben war, würde sie so schnell nicht mehr vergessen können.

Sie wischte sich eine Träne aus den Augen, bückte sich schweratmend, tauchte mit einem Karton wieder auf.

»Die sind noch da. Wir erreichen den Professor nicht«, erklärte sie.

Carina dankte allen himmlischen Mächten, griff nach der Schachtel. »Ich bringe sie ihm vorbei«, log sie, ohne rot zu werden.

Im Ärztezimmer öffnete sie den Karton mit zitternden Fingern, atmete erleichtert auf, als sie die Haarbürste der jungen Frau und zwei Zahnbürsten entdeckte. Schnell verpackte sie die wertvollen Teile in Plastiktüten.

Am nächsten Morgen brachte sie ihre Schätze ins Labor. Auch hier mochten alle die junge Ärztin, stellten keine Fragen, als sie um einen DNA-Test bat.
»Ergebnis bitte nur an mich weitergeben«, bat sie und kam sich dabei vor, als würde sie in einem Film mitspielen.

Fünf Tage später hatte sie Gewissheit. Das tote Baby, für dessen Beerdigung sie mittlerweile gesorgt hatte, war nicht das Kind der Nielsons.

Aufgeputscht von dieser Nachricht stellte sie Holger zur Rede. »Wo ist Cara Nielson?«, knallte sie ihm hin, als sie allein mit ihm im Arztzimmer war. Der Kollege versuchte, ihrem Blick standzuhalten.

»Sie ist gestorben, das weißt du doch«, erwiderte er, und seine Stimme klang nur ein wenig verunsichert.

»Das Baby da unten im Kühlraum ist nicht Cara. Das weißt du ganz genau«, erklärte sie mit eiskalter Stimme. In ihr tobte es. Was verbarg Holger?

Sein Blick flackerte verunsichert, und sie wusste, dass sie ihn hatte. Sie nahm aus ihrer Schreibtischschublade ein Blatt, hielt es ihm vor die Nase.

Er las nur: DNA-Analyse, und wusste, dass weiteres Leugnen sinnlos wäre. Seine Hände zitterten, als er sich über sein Gesicht fuhr.

»Das Kind der von Bentheims hat es nicht geschafft.« Seine Stimme war nur noch ein Flüstern. »Die Eltern waren so verzweifelt. Jahrelang hatten sie versucht, ein Kind zu bekommen. Und da war dieses kleine Mädchen, das keine Mutter mehr hatte. Herr von Bentheim hat versprochen, 100.000 Euro für unsere Station zu spenden. Da habe ich die Kinder ausgetauscht.«

Er wich ihrem Blick aus.

Carina war fassungslos. »Bist du irre? Hunderttausend Euro? Bringt er die in einer Plastiktüte vorbei - und du kaufst dann im nächsten Laden einen Inkubator dafür?« Sie schüttelte den Kopf. »Es gibt Bücher, über die alles laufen muss. Alles in so einem Haus wie unserem muss jeder Prüfung standhalten, jeder einzelne Euro muss belegt werden!«

Sie schüttelte den Kopf. »Und wegen dieses Geredes eines schwerreichen Industriellen muss ich einem sowieso schon gebrochenen Mann mitteilen, dass er auch noch seine Tochter verloren hat?«

Holgers herz begann zu rasen. Er wusste, dass er riesengroßen Mist gebaut hatte, der ihn seine Approbation und seinen Job kosten konnte. Und auch würde, wenn Carina ihn hinhängte.

Die junge Kinderärztin versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Sie mochte Holger wirklich. Er war ein fantastischer Arzt, einen wie ihn brauchten sie an der Front dringend. Aber er hatte etwas Fürchterliches getan, das konnte sie nicht so stehen lassen.

In ihrem Kopf fuhren die Gedanken Karussell. Schwieg sie, würde sie Mitwisserin und eigentlich auch Mittäterin sein.
Hängte sie alles an die große Glocke, wäre für den Kollegen alles verloren, wofür er jahrelang gekämpft hatte.

Es musste eine Möglichkeit geben, alles rückgängig zu machen. Als schreckliches Versehen hinzustellen.

»Wo ist die Kleine?«, fragte sie aus ihren Gedanken heraus. Schließlich konnte das Kind noch nicht entlassen worden sein.

»Im Uni-Klinikum«, antwortete Holger kleinlaut. »Herr von Bentheim hat die Verlegung durchgesetzt. Mit dem Argument, dass es da für seine Frau einfacher wäre, die Tochter zu besuchen.«

Carina wischte sich übers Gesicht. Sie sah nur eine Möglichkeit. Sie musste das Ehepaar aufsuchen, an ihr Mitgefühl appellieren, notfalls auch drohen, alles auffliegen zu lassen.

Eine Stunde später stand sie vor der Prunkvilla des Industriebosses im noblen Westen ihrer Stadt. Das riesige Grundstück lag im Dunkeln, das protzige Gebäude war angestrahlt.

Tief atmete sie durch, bevor sie ihren zitternden Finger auf den goldfarbenen Klingelknopf legte. Eine Frauenstimme war aus der Gegensprechanlage zu hören. »Ja bitte? Sie wünschen?«

»Dr. Carina Marbach. Ich muss dringend mit dem Ehepaar von Bentheim sprechen. Es geht um ihre Tochter.« Ihre Stimme klang sehr selbstsicher, was sie selbst etwas verwunderte.

Das Tor öffnete sich nach ein paar Minuten mit einem leisen Summton, eine Dame in der Dienstkleidung einer Hausangestellten stand in der offenen Tür.

Die Frau führte sie durch eine riesige Aula in einen Salon. »Die Herrschaften werden gleich erscheinen«, erklärte sie.

Erscheinen! Beinahe hätte Carina laut aufgelacht.

Kurz darauf betraten ein Mann um die Fünfzig und eine etwas zehn Jahre jüngere, verhärmt und verschüchtert aussehende Frau den Raum.
»Sie wünschen?«, fuhr er sie an.

Carina fühlte Abneigung in sich aufsteigen. Der Typ gehörte zu denen, die glaubten, mit Geld alles erreichen zu können, auch den Tod eines Kindes ungeschehen zu machen.

»Ich habe Ihre Tochter beerdigen lassen«, knallte Carina ihm hin.

Die Frau krallte sich an dem schweren Eichentisch fest, sah ihren Mann hilfesuchend an.

»Unsere Tochter liegt im Uni-Klinikum, ist wohlauf und wird bald zu uns nach Hause kommen«, tönte er selbstbewusst.

»Ihre Tochter liegt auf dem Zentralfriedhof, Kinderabteilung, Weg 20, Platz 102!«, erklärte Carina und legte einen Zettel auf den Mahagonitisch.

Frau von Bentheim versuchte, einen Schluchzer hinter ihrer Hand zu ersticken, ihr Mann durchbohrte Carina mit seinen beinahe schwarzen Augen. »Ich glaube, Sie verlassen jetzt besser unser Haus«, fauchte er. »Ich werde Ihren Chef über Ihr unmögliches Verhalten in Kenntnis setzen.«

Carina wich seinem Blick nicht aus, holte aus ihrer Jackentasche ein mittlerweile ziemlich mitgenommenes Blatt, hielt den Labor-Bericht dem Millionär vors Gesicht.

»Das können Sie gerne gleich machen!«, forderte sie ihn auf. »Ich bin überzeugt, dass ein neuer Test mit Ihrer DNA eine zweimal neunundneunzigprozentige Übereinstimmung mit den Genen des Kindes ergibt, für dessen Beerdigung ich habe sorgen müssen, weil seine Eltern sich einfach ein neues gekauft haben!«

Schweratmend ließ sich Herr von Bentheim auf einen der Stühle fallen, wusste, dass er verloren hatte.

Zwei Stunden später verließ Carina das Haus. Sie war zufrieden mit sich. Mit dem Ehepaar hatte sie besprochen, was nötig war, um alles wieder auf die Reihe zu bekommen. Ein Telefonat mit ihrem Chefarzt war hart gewesen, aber Dr. Hambach war letztendlich wie sie der Meinung, dass es niemandem nützen würde, das Ganze an die große Glocke zu hängen. Man würde gegenüber dem Vater einen Fehler des Krankenhauses einräumen. Die Mädchen waren vertauscht worden, ein Schuldiger konnte nicht mehr ermittelt werden.

Holger würde mit einer internen Abmahnung davonkommen, ohne Eintrag in seine Personalakte. Die von Bentheims würden die 100.000 Euro ganz offiziell als Spende überweisen.

Das Wichtigste war jetzt erst einmal, den Vater zu finden. Er müsste entscheiden, ob er Anzeige erstatten würde. Doch sooft sie auch die Handynummer des Professors wählte, läutete es nur endlos durch, keine Mailbox sprang an. Ihre Sorge wuchs und wuchs.
Was, wenn ... ?

Sie verbot sich, den Gedanken zuzulassen.

Finn

In Finns Gehirn lichtete sich langsam der Nebel. Mehr als eine Woche lang hatte er sich nahe an die Komagrenze gesoffen, doch außer wirren Albträumen hatte ihm das nichts gebracht. Als er eines Morgens in den Spiegel sah, schämte er sich für den verkommenen Kerl, der ihn entgegenblickte.
Das hätte Sophia nicht gewollt!, dachte er. Was, wenn es wirklich ein Leben nach dem Tod gab, was, wenn sie ihn im Auge behielt?

Er versuchte, etwas zum Frühstück hinunterzubringen, schüttete einen halben Liter Kaffee in sich hinein. Danach rasierte er sich, band die lang gewordenen Haare zu einem Zopf zusammen und fuhr in die Hauptstadt. Dort kannte er ein Fachgeschäft für Künstlerbedarf. Er besorgte sich einen Keilrahmen, Pinsel und Ölfarben, baute alles vor der Hütte auf, setzte schnell die ersten Striche, bevor der Mut ihn verlassen konnte.

Wie in Trance malte er die wunderbare Landschaft, die vor ihm lag. Als sein Handy vibrierte, ignorierte er es wie an all den letzten Tagen. Doch während es bisher immer nach höchstens drei Versuchen verstummt war, gab, wer auch immer am anderen Ende der Verbindung war, dieses Mal nicht auf.

Wütend griff er nach dem Gerät, wollte es ausschalten, kam aber mit dem Finger auf den grünen Button.

»Herr Professor Nielson! Hier spricht Dr. Marbach! Ihre Tochter lebt! Es gab eine sehr bedauerliche Verwechslung! Ich muss dringend mit Ihnen sprechen!«, hörte er eine aufgeregte Frauenstimme hektisch rufen.

Finns Herz krampfte zu einem harten Klumpen zusammen. Was für einen grausamen Streich spielte ihm da jemand?

Aber seine Hände waren erstarrt, nicht in der Lage, das Gespräch zu beenden. »Legen Sie nicht auf!«, flehte die Stimme weiter, die ihm vage bekannt vorkam. »Bitte! Ich bin so unendlich froh, dass ich Sie erreicht habe! Cara lebt und braucht ihren Vater! Bitte, sprechen Sie mit mir!«, flehte die Frau weiter.

Finn versuchte zu antworten, während ihm Tränen in den Augen brannten. Aber seine Stimme war eingerostet, zu lange hatte er mit niemandem gesprochen. Er musste sich erst einmal räuspern, einen Schluck Wasser trinken.

»Dr. Marbach?«, brachte er schließlich mühsam hervor. »Sind Sie ...?«

Er kam nicht dazu, seinen Satz zu Ende zu sprechen. »Ja! Die Kinderärztin! Die Ärztin Ihrer Tochter.« Die Frauenstimme klang so aufgeregt und glücklich, dass Finn nicht mehr an einen bösen Streich glauben konnte.

»Reden Sie weiter, bitte, damit ich es glauben kann!«, bat er leise, und Carina berichtete das, was sie durfte.

»Ich nehme den nächsten Flug!«, brachte Finn noch heraus, bevor er weinend auf dem alten, rostigen Bett zusammenbrach. »Ich rufe zurück, wenn ich gelandet bin.«

Er warf die wenigen Dinge, die er auf die Insel mitgebracht hatte, in seine Reisetasche, suchte nach dem kleinen Büchlein. Irgendwie hatte er das Gefühl, all die Menschen, die sich darin verewigt hatten, hatten ihm Glück gebracht. Aber er konnte das abgewetzte Ding nicht finden.

Als er versuchte, sich zu erinnern, wo er es zum letzten Mal gesehen hatte, fiel ihm ein, dass er es am Vortag am Strand noch einmal durchgeblättert hatte. Dabei war er eingeschlafen, hatte von Sophia, aber auch ganz wirres Zeug geträumt.

Als er aufgewacht war, war er hungrig und vor allem durstig gewesen. Da musste er wohl das Büchlein liegen gelassen haben, als er überhastet aufgebrochen war. Doch er war weit weg von der Flutgrenze gelegen, unter einer Palme nahe der Promenade. Dort würde sicher jemand das Büchlein finden.

Zwei Tage später konnte er Cara, die Geliebte, vorsichtig auf seinen Arm nehmen. Zwei Wochen noch musste sie im Klinikum bleiben, während denen er nicht von der Station wich. Er machte einen gründlichen Kurs in Babypflege, kümmerte sich liebevoll um sein kleines Mädchen.

Als er endlich mit Cara zu Hause war, als sie in der wunderschönen Wiege lag, wusste er, dass sein Glück zwar zerbrochen war, dass er aber aus den Scherben ein Mosaik basteln konnte, auf dem seine Tochter und er zu sehen sein würden. Durchzogen von Rissen und Narben, aber vollständig.

Sia Ley

Sia_Ley


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