2020 | Der Koffer
Deutschland.
Im ersten Moment war sich Jule nicht sicher, ob sie die Lieferung annehmen sollte. Da war noch eine Bestellung von Amazon offen, aber die bräuchte kein Paket mit den Ausmaßen eines Koffers.
Doch bei diesem Gedanken fiel ihr die Zollversteigerung wieder ein.
Bei einem ihrer Online-Cliquen-Abende, während sie den ein oder anderen Cuba Libre getrunken und mit ihren Freunden im Videochat gequatscht hatte, waren sie auf die Idee gekommen, bei einer solchen Versteigerung mitzumachen. Und obwohl sie nur 30 Euro geboten hatte, hatte sie am Ende den Zuschlag für einen Koffer bekommen, der am Flughafen zurückgelassen wurde.
Mit gemischten Gefühlen schob sie das Paket durch den Flur in ihr Wohnzimmer.
Sie hatte keinen nennenswerten Verlust gemacht. Auf den Fotos hatte der Koffer recht neu ausgesehen. Ein schwarz glänzender Hartschalenkoffer in Handgepäckgröße. Selbst wenn sie den Inhalt komplett entsorgte, hatte sie einen neuwertigen Koffer.
Nicht, dass sie vor hätte in nächster Zeit auf Reisen zu gehen. Sah man mal von Corona und den daraus resultierenden Kontakt- und Reisebeschränkungen ab, war sie nicht der Typ dafür zu verreisen. Als Kind war sie zweimal mit ihren Eltern in die Ferien gefahren. Seit sie selbst Geld verdiente, legte sie dieses lieber in Dinge an, die ihr den Urlaub zu Hause verschönerten. Eine DVD-Box von ihrer Lieblingsserie aus der Jugend, die neue Spielkonsole mit mehreren Spielen, der teure Fernsehsessel vor dem überdimensionalen Flatscreen ...
Aber vielleicht konnte sie ihn nutzen, wenn sie zum SB-Waschsalon ging. Sah immerhin besser aus als die blaue IKEA-Tüte, die sie bisher dafür verwendete.
Nachdenklich ließ sie sich auf ihren Schreibtischstuhl fallen.
Sie war neugierig und wollte natürlich wissen, was sich in den Koffer befand. Aber irgendwie hatte sie das Gefühl, in die Privatsphäre einer fremden Person einzudringen. Was, wenn sie darin kostbare Erinnerungen fand, und für sie war es Müll, den sie entsorgte? Oder, wenn sich etwas Gefährliches darin befand? Vielleicht auch etwas Ekelhaftes? Alte stinkende Unterhosen, benutzte Kondome oder Tampons.
Das Forum, in dem sie im Nachhinein über die Zollversteigerungen gelesen hatte, war voller Bilder von solchen Koffern gewesen.
Auf so einen Inhalt konnte sie gut verzichten.
Netflixjunkies
Gruppenchat
Gabriel, Linda ...
Hey Leute!
Die Post war da.
Gabriel: Wenn der Postmann zweimal klingelt ...
Jo: Ist er heiß? ;-)
Ihr wieder. :-D
Es war ne Frau, wenn ihr es genau wissen wollt.
Jo: Na dann: Ist sie heiß?
Marion: Idiot :-P
Ich hab sie kaum beachtet, denn sie hatte ein ziemlich großes Paket dabei. (Keine Anspielungen Jo.)
Der Koffer vom Zoll ist da.
Jo: Ich??? Niemals. Was denkst du denn von mir? :-D
Marion: Und, was ist drin?
Gabriel: Vielleicht Geld oder Wertsachen.
Jo: Besser wäre Klopapier, dann ist Jule reich :-D
Linda: Hi zusammen. Woher ist der Koffer? Hoffentlich nicht aus China.
Marion: Warum das denn? o.O
Linda: Wer weiß, welche Viren da aus China mitkommen. Nicht, dass sich Jule dadurch Corona einfängt. Vielleicht packst du ihn lieber luftdicht ein und stellst in zwei Wochen zur Seite.
Gabriel: Macht man das nicht bei Läusen?
Marion: Das ist doch übertrieben. Das, was du immer bei Wish bestellst, kommt auch aus China.
Jo: Man kanns echt übertreiben ...
Packst du daheim alle Einkäufe auch erst mal für zwei Wochen weg? Wer weiß, wer das vor dir schon in der Hand hatte und welche Viren da dran hängen.
Nicht wieder das Thema. Bitte!
Linda sieht das eben anders als du, Jo.
Hab jetzt mal das Paket geöffnet und den Koffer rausgeholt.
Linda: Emmi kommt kaum die Treppe in den ersten Stock hoch, seit sie den Scheiß hatte. Würde es deiner Schwester so gehen, würdest du das auch ernster nehmen.
Marion: Schick mal ein Bild vom Koffer.
Videochat?
Dann seid ihr live dabei, wenn mich die verschis*** Unterhosen anfallen.
Jo: Das lass ich mir nicht entgehen :-D
Gabriel: Bin dabei.
Marion: Wartet kurz. Bin unten in der Waschküche. Start in zehn Minuten?
Gabriel: Klingt gut, dann kann ich Popcorn machen und das Bier einschenken :-P
Jo: Hast du noch Bier? Ich muss erst einkaufen. Sitze auf dem Trockenen :-(
Geh doch schnell zum Kiosk. Wir warten auf dich.
Jo: Du bist eben die Beste :-* Bis gleich, beeil mich.
Gabriel: Ja ja, nehmt euch ein Zimmer.
Jo: Vielleicht wenn ich vom Kiosk zurück bin ;-)
Spinner! Lauf lieber mal los statt zu schreiben. Sonst überleg ich es mir anders.
Jo: Bin ja schon unterwegs.
Bis gleich.
Grinsend schloss Jule den Gruppenchat und startete ihren Laptop. Ihre Freunde waren komplett verschieden und zogen sich liebend gern gegenseitig auf. Hin und wieder übertrieben sie es, was Streitereien auf den Plan rief. Aber im Grunde hielten sie zusammen wie Pech und Schwefel und konnten sich blind aufeinander verlassen. Am liebsten hätte sie die vier jetzt hier bei sich. Etwas trinken, ne gute Serie schauen, Burger bestellen und den Koffer öffnen. Leider war das aber seit Wochen nicht mehr machbar.
Linda hatte Angst vor einer Ansteckung mit Corona und verließ ihre Wohnung nur zum Einkaufen. Die Arbeit erledigte sie im Homeoffice. Verständlich, nachdem sie hautnah miterlebt hatte, wie ihre Schwester Emmi sogar ins Krankenhaus eingeliefert werden musste.
Marion sah die Sache an sich lockerer. Aber als Altenpflegerin hatte sie von ihrem Arbeitgeber nahe gelegt bekommen, sich ihren Pflegebedürftigen gegenüber verantwortungsvoll zu verhalten und das Ansteckungsrisiko so gering wie möglich zu halten. Deshalb blieb sie meistens daheim, weil sie niemanden gefährden wollte.
Jo hingegen empfand all die Maßnahmen rund um Corona nur als Einschnitt in sein Privatleben, eine Möglichkeit der Regierung die Bevölkerung ruhig zu halten. Laut ihm waren alle Zahlen und Statistiken gefälscht und Corona wurde unnötig aufgebauscht, um die Angst zu schüren. Jule wusste nicht, ob er zu viel Zeit in irgendwelchen Verschwörungstheorienforen verbrachte oder mit wem er sich darüber immer wieder unterhielt, doch mindestens einmal in der Woche kam er mit neuen »Fakten« um die Ecke, die »man« herausgefunden hatte.
Wie Jule, versuchte auch Gabriel, das Thema Corona in ihren Chats einfach auszuklammern. Sie waren beide nicht unbedingt ängstlich, aber hatten Respekt vor der Krankheit. An die Beschränkungen hielten sie sich, wie der Großteil der Bevölkerung, weil man das eben machte. Sie wollten das beste aus der Situation machen und hatten deshalb mit den Online-Cliquen-Abenden angefangen.
Mindestens einmal unter der Woche und einmal am Wochenende kamen sie so wenigstens virtuell zusammen.
Solange der Laptop hochfuhr, ging Jule in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen und eine Schere zu holen. Beim Auspacken war ihr aufgefallen, dass um den Koffer mehrere Bahnen transparentes Klebeband gewickelt war. Sie fragte sich, ob der Zoll dieses angebracht hatte oder der Besitzer? Und warum?
Immerhin waren die beiden Zipper der Reißverschlüsse mit einem kleinen Vorhängeschloss verbunden. Wie sie dieses aufbrechen sollte, wusste sie nicht. Wahrscheinlich musste sie das Werkzeug aus dem Garderobenschrank kramen.
Ein Glück hatte ihr Vater seine Ersatzwerkzeugkiste beim letzten Besuch vergessen, denn ihr Eigen konnte sie gerade mal einen Hammer und eine Rohrzange nennen. Mehr hatte sie bisher jedoch noch nicht gebraucht. Sobald es in ihrer Wohnung etwas zu reparieren gab, lud sie ihren Vater zum Kaffeetrinken ein und er kümmerte sich darum. Ein Arrangement, welches sie getroffen hatten, nachdem Jule beim Versuch den tropfenden Wasserhahn zu reparieren, die ganze Armatur abgerissen hatte. Was Handwerkliches anging, hatte sie eindeutig zwei linke Hände. Dafür konnte sie gut backen und ihr Vater bekam jedes Mal ein großes Stück Kuchen oder Torte.
↼⇁
»Ich hab echt darauf gewartet, dass Jo nochmals was wegen Emmi schreibt. Dann wäre Linda wieder eine Woche beleidigt gewesen.«
Bisher waren nur Jule und Gabriel im Videochat und unterhielten sich.
»Ich hab ihm privat geschrieben, dass er sich jeden Kommentar verkneifen soll«, gab Gabriel grinsend zurück. »Hat mich allerdings gewundert, dass er sich daran gehalten hat.«
»Wahrscheinlich wollte er keine Diskussion«, mutmaßte Jule.
Das leise »Ping« kündigte Linda an, die sich in den Videochat einklinkte, und damit das Gespräch beendete.
Jo war der Letzte, der in den Videochat kam. Nach einer kurzen Begrüßung richtete Jule ihren Laptop so aus, dass ihre Freunde den Koffer sehen konnten.
»Sieht so unspektakulär aus«, stellte Marion fest.
»Was hast du denn erwartet? Soll er sich bewegen?«, erkundigte sich Gabriel.
»Bitte nicht.« Jule schüttelte sich. »Ich will kein Ungezieferzeugs in meiner Wohnung.«
»Ich glaub nicht, dass der Zoll einen Koffer für die Versteigerung freigibt, in dem etwas lebt. Die durchleuchten das doch alles und organische Sachen werden genau unter die Lupe genommen. Könnte ja gefährdend für unser Ökosystem sein«, erläuterte Linda.
»Dann hast du wohl Glück Jule. Bremsspuren in den Unterhosen sind doch auch organisch«, warf Jo ein.
»Du weißt genau, was ich damit gemeint habe«, brummte Linda sofort.
»Könnt ihr beiden es nicht mal gut sein lassen?« Gabriel rollte genervt mit den Augen.
»Oder vielleicht sollten sich die beiden mal ein Zimmer nehmen«, schlug Marion lachend vor. »Von wegen, was sich liebt, das neckt sich und so ...«
Während eine kurze, aber lautstarke Diskussion ausbrach, wandte sich Jule dem Koffer zu.
Zum einen, damit niemand ihr breites Grinsen sehen konnte. Zumindest was Linda anging, hatte Marion mit diesem Vorschlag nämlich voll ins Schwarze getroffen. Es war schwer zu glauben, weil gerade sie und Jo sich fast bei jedem Treffen, ob digital oder persönlich, in die Haare bekamen. Aber sie hatte Jule vor ein paar Monaten anvertraut, dass sie schon ewig in Jo verliebt war. Eventuell lag es sogar daran, dass sie jedes seiner Worte auf die Goldwaage legte und seine Sprüche zu oft in den falschen Hals bekam.
Zum anderen wollte sie endlich wissen, was sich in diesem unscheinbaren Koffer befand.
»Jule? Jetzt zeig doch mal.« Marions laute Stimme wurde durch den Laptop leicht verzerrt, riss Jule aber aus ihrer Starre.
Der Koffer lag offen vor ihr auf dem Boden, das Schloss hatte sie nach einigen erfolglosen Versuchen es zu knacken, mit einem Bolzenschneider geöffnet.
Natürlich hatte sie auf einen coolen Inhalt gehofft, dabei mit dem ekligsten und schlimmsten gerechnet, aber das war doch unerwartet und ein wenig beunruhigend.
»Was ist drin?«, wollte Gabriel wissen.
»Na ja«, fing Jule an und ging in die Hocke, damit sie besser an die Sachen kam. »Irgendwie ist das komisch. Da sind zwei Paar Lederhandschuhe und mehrere Latexhandschuhe. Eine Skimaske, ein Seil, Klebeband und so ne Totschlägertaschenlampe.«
»Oh Gott. Ist das der Koffer von 'nem Psycho?«, überlegte Linda laut.
»Macht euch doch nicht gleich ins Hemd. Die ganzen Sachen hab ich auch daheim«, hielt Jo dagegen.
»Du sagst es, daheim. Aber nimmst du das mit in den Urlaub?«, hakte Marion nach.
»Ist da noch mehr?«, fragte Gabriel.
Jule nahm das schwarze Kleidungsstück heraus und stand auf, wobei sie sich dem Laptop zudrehte. »Diese Weste, darunter lag ein schwarzer Schal und eine schwarze Mütze.«
Sie warf die Weste über die Lehne ihres Schreibtischstuhls und wollte den Schal und die Mütze in die Hand nehmen. Dabei fiel ihr auf, dass etwas in den Schal eingewickelt war.
»Leute, da ist noch was. Ein Buch.«
↼⇁
Spät nachts wälzte sich Jule in ihrem Bett von einer Seite auf die andere. Ihre Gedanken drehten sich um den Koffer und die verschiedenen Theorien, die ihre Freunde aufgestellt hatten. Wahrscheinlich hatte Gabriel recht und sie übertrieben alle maßlos, allerdings hatte auch er zugegeben, dass der Koffer wohl jemandem gehört hatte, der unerkannt bleiben wollte und nichts Gutes im Sinn gehabt hatte.
Von einem Auftragskiller über einen Einbrecher bis hin zu einem Spion oder Terrorist war alles spekuliert worden. Je später die Stunde, desto absurder. Jo hatte sogar gemeint, Jule sollte den Koffer und alles darin so schnell wie möglich loswerden. Denn der ehemalige Besitzer könnte einen Tracker darin versteckt haben und demnächst bei ihr auftauchen.
Obwohl sie versuchte, diesen Gedanken zu verdrängen, trug er definitiv nicht dazu bei, beruhigt einzuschlafen. Da half es kaum, dass sie unten im Koffer noch eine kleine Tasche mit Verbandsmaterial gefunden hatte.
Zumindest nicht, seit Linda darüber nachgedacht hatte, ob dieses für den ehemaligen Besitzer oder sein Opfer gedacht gewesen war.
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Es wunderte Jule nicht, dass sie wenig erholt erst gegen elf Uhr aufwachte. Sie war irgendwann in den frühen Morgenstunden eingeschlafen und der unruhige Schlaf war voll düsterer Träume gewesen. Sie konnte sich nicht mehr genau daran erinnern, aber ein ungutes Gefühl war zurückgeblieben und hielt sich hartnäckig.
Der Koffer mitsamt Inhalt war augenblicklich wieder in ihren Gedanken präsent und es klang gar nicht mehr so abwegig, diesen so schnell wie möglich zu entsorgen.
Schon das Wissen darum, dass sie gleich in ihrem Wohnzimmer an diesem vorbeigehen musste, bescherte ihr eine Gänsehaut. Und doch konnte sie nichts daran ändern, denn ihre volle Blase trieb sie aus der gemütlichen Wärme ihres Bettes.
↼⇁
Mit einer Tasse heißem Kaffee und Jules Lieblingsplayliste sah die Welt ein Stückchen besser aus, dennoch wollte sie den Koffer zumindest aus ihrem Sichtfeld verschwinden lassen. Sie schloss den Reißverschluss und stellte ihn in die hinterste Ecke der Garderobe. Der Müllcontainer war schon am Freitag voll gewesen, als sie wie immer mit dem Wohnungsputz ins Wochenende gestartet war. Wohl oder übel musste sie bis am Dienstag warten, bevor sie den Koffer loswerden konnte.
Jetzt hoffte sie einfach darauf, dass »aus den Augen aus dem Sinn« auch diesmal funktionieren würde. Wie letztes Jahr, da hatte sie das Geburtstagsgeschenk für Marion schon frühzeitig besorgt und es letztlich vergessen.
Jo war auf dem Weg zu seinen Eltern, Marion hatte Sonntagsdienst, Gabriel schrieb nicht zurück und Linda wollte den Tag mit Emmi verbringen. Auf Facebook scrollte sich Jule durch den Newsfeed, der hauptsächlich aus Erinnerungen der letzten Jahre oder Fotos von verschiedensten Sonntagsessen bestand.
Ihr Magen grummelte fordernd, weshalb sie den Laptop wegstellte. Sie hatte zwar Hunger, aber keine Lust zu kochen.
Stattdessen warf sie sich aufs Sofa und wollte nach der geöffneten Packung Chips greifen. Dabei fiel ihr Blick auf das Buch.
Am Abend zuvor hatte sie es kaum beachtet, jetzt nahm sie es in die Hand. Der alte Ledereinband hatte Risse, dennoch war er weich und glatt. Er wirkte abgegriffen, als sei er schon durch viele Hände gewandert. Die Schnur, die das Buch geschlossen hielt, war leicht ausgefranst. Das Papier schienen dicker zu sein, als bei anderen Büchern und war am Rand bereits vergilbt. Es gab keinen Titel, weder auf der Vorderseite noch auf dem Buchrücken.
Neugierig löste sie die Schnur und schlug die erste Seite auf.
Wie gedacht handelte es sich bei diesem Buch um keinen Roman, sondern ein Notizbuch. Viele vollgeschriebene Seiten, in unterschiedlichen Farben, Handschriften und Sprachen fielen Jule ins Auge, während die Seiten schnell zwischen ihren Fingern hindurch glitten. Hier und da klebte ein Notizzettel oder gab es ein Eselsohr und zwischen zwei Seiten mit einer wunderschön geschwungenen Handschrift steckte eine getrocknete Blume.
Nachdem nur noch leere Seiten kamen, blätterte sie zurück zum letzten Eintrag.
Die Schrift hier war krakelig, wie schnell dahin geschmiert. Und wirklich viel damit anfangen konnte Jule auch nicht. Viele Ziffern mit Punkten und einem Komma dazwischen. War das vielleicht ein Geheimcode? Musste man die Ziffern durch Buchstaben ersetzen und bekam dann einen Satz? Aber dazu waren sich die Zahlen zu ähnlich, denn irgendwie waren sie alle einheitlich aufgebaut, wenn sich auch der Wert änderte. Zwei Ziffern, ein Punkt, sechs Ziffern, das Komma und noch einmal zwei Ziffern vor und sechs nach einem Punkt. Auf diese Art waren sieben »Codes« untereinandergeschrieben worden, ohne irgendeinen Hinweis oder einen »Schlüssel«.
Waren die Spekulationen mit ihren Freunden doch nicht falsch gewesen und sie hatte tatsächlich den Koffer eines Spions ersteigert? Oder waren das gar irgendwelche Aktivierungscodes für Bomben und der Vorbesitzer war ein Terrorist?
Musste sie das der Polizei melden?
Natürlich musste sie das. Sieben Aktivierungscodes hießen sieben Bomben, die jederzeit wer-weiß-wo hochgehen könnten.
Ein dicker Kloß bildete sich in Jules Hals, vor Aufregung zitterte sie und das Buch glitt ihr beinahe aus den Händen. Das musste doch ein schlechter Scherz sein. Oder ihre Fantasie ging einfach nur mit ihr durch. Niemals würde ein Terrorist geheime Codes einfach so in ein Notizbuch schreiben, dieses mitsamt dem Koffer am Flughafen vergessen und dann monatelang nicht danach suchen.
Sie wusste zwar nicht genau, wann dieser Koffer am Flughafen vergessen worden war, aber erst nach drei Monaten gingen zurückgelassene Gepäckstücke in den Besitz des Flughafens über. Davor können sie also nicht versteigert werden.
Und Bomben wurden doch sicher nicht schon mehrere Monate im Voraus gebaut. Da könnten sie ja entdeckt werden ...
Nun fiel ihr das Notizbuch tatsächlich aus den Händen, denn es hatte geklingelt und sie war vor Schreck aufgesprungen. Ihr Herz schlug mehr als nur einen Takt zu schnell und ihre Knie fühlten sich ziemlich wackelig an.
Ihr erster Gedanke war, dass der Besitzer des Koffers vor ihrem Wohnhaus stand. Jo hatte recht gehabt und im Koffer war ein Tracker versteckt. Für Verbrecher vielleicht eine neue Möglichkeit, Opfer zu finden, weil kaum noch jemand aus dem Haus ging.
Ein hoher Aufschrei, fast schon ein Quietschen, entwich ihr, denn nun klopfte es an ihre Wohnungstüre. War es möglich, dass der Terrorist sogar wusste, in welchem Stockwerk sie lebte? Wie zielgenau war denn so ein Tracker?
Sie hätte diesen verfluchten Koffer sofort entsorgen sollen, nachdem sie den Inhalt gesehen hatte. Einfach neben die Mülltonne stellen, am besten aber irgendwo weit weg, zur Not auf irgendeinem Parkplatz am Straßenrand.
Nun würde sie es sein, die demnächst am Straßenrand landete. Mit Klebeband gefesselt, eingeschlagenem Kopf von der Taschenlampe und ohne verwendbare Spuren für die Polizei, weil der Täter Handschuhe trug. Jule war sich sicher, die Ausrüstung im Koffer befand sich zigfach im Haus des ehemaligen Besitzers.
Ihr war schlecht, ihre Beine fühlten sich an wie Wackelpudding, Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn und ihr Gesicht war sicherlich knallrot. Doch obwohl ihr die Hitze zu Kopf stieg, lief es ihr gleichzeitig mehrfach kalt den Rücken hinunter und ihre Hände waren Eiszapfen. Sie wollte wegrennen und sich verstecken, nach ihrem Handy greifen und der Polizei anrufen, weinend nach Mama und Papa schreien.
Doch sie rührte sich nicht. Wie versteinert stand sie da, angespannt, hielt immer wieder den Atem an und lauschte, so gut es ging, während sie ihren eigenen Herzschlag hörte und im gesamten Körper spürte.
»Jule? Ich weiß, dass du da bist. Dein Auto steht auf dem Parkplatz.«
Zuerst atmete Jule erleichtert auf und setzte sich in Bewegung. Auf dem Weg zur Wohnungstür liefen ihr Tränen über die Wangen. Ebenso schwungvoll, wie sie die Tür aufriss, verpasste sie Gabriel einen Boxer gegen die Brust.
»Na danke. Wofür war das denn?«, fragte Gabriel überrumpelt.
»Dafür, dass du mich erschreckt hast.« Dabei kam Jules Wut von der Scham, sich so sehr in ihre Gedanken und Ängste gesteigert zu haben. Dann fiel sie ihm um den Hals. »Und das dafür, dass du da bist.«
»Stets zu Diensten«, gab er zurück und musterte Jule, die sich von ihm zurückzog. »Hast du geweint?«
»Nein. Doch, ja. Aber nur vor Erleichterung.« Sie war noch immer aufgewühlt und etwas durcheinander. »Ich könnt nen Kaffee vertragen. Du auch?«
↼⇁
Die heiße Tasse mit beiden Händen fest umgriffen, erzählte Jule, was sie in dem Notizbuch entdeckt und sich zusammengereimt hatte. Danach erklärte sie auch, was Gabriels Klingeln und Klopfen bei ihr ausgelöst hatte.
»Zeig mal das Buch. Das ist sicher was anderes.« Er hatte sich alles schweigend angehört, aber Jule sah ihm seine Zweifel an.
Sie schlug die letzte beschriftete Seite auf und hielt Gabriel das Buch entgegen, der sich schon nach dem ersten Blick darauf offensichtlich ein Grinsen verkneifen musste.
»Was?«, fragte Jule ein wenig gereizt. Sie hoffte darauf, dass Gabriels Zweifel berechtigt waren, dennoch war ihr die ganze Sache peinlich.
»Das sind keine Aktivierungscodes. Zumindest glaub ich das nicht. Das sind Koordinaten«, klärte er sie auf.
»Also die Orte, an denen er die Bomben zündet?«, murmelte Jule.
»Quatsch.« Gabriel legte das Buch zur Seite und zog Jule an sich. »Nach dem Blödsinn, den wir gestern geredet haben, verstehe ich, dass du so was denkst. Aber wahrscheinlich steckt da was anderes dahinter.«
Nur wenige Minuten später hatten sie die Koordinaten bei Google Maps eingegeben und sich Satellitenbilder der angegebenen Punkte angesehen. Drei Ruinen, zwei Wälder, ein sehr einsam stehendes Haus zwischen Feldern und Wiesen und ein dauerhaft geschlossenes Hallenbad. So wurde es auf der Karte jedenfalls benannt.
»Also ich tippe auf Lost Places. Für Geocaching passen das Hallenbad und das Haus nicht wirklich«, meinte Gabriel.
»Hm.« Jule dachte an den Inhalt des Koffers. Mütze, Schal und Handschuhe. Um unerkannt zu bleiben, oder sogar gegen die Kälte, wenn der Koffer im Winter verloren gegangen war. Dazu passte dann ja auch die Weste sowie die Skimaske zur Sicherheit. Und die Taschenlampe war eben einfach nur ne Taschenlampe. Selbst für das Seil und das Klebeband fand man da sicher andere Verwendungszwecke, als jemanden zu fesseln und zu knebeln. »Könnte passen.«
»Ich bin mir sogar sicher. Und weißt du was?«
Jule schüttelte den Kopf und musterte Gabriel, der sie erwartungsvoll ansah.
»Der eine Wald ist gar nicht weit von hier entfernt. Wir müssten nur ungefähr eine Stunde hinfahren.«
»Du willst da hin?« Augenblicklich beschleunigte sich Jules Puls und die Anspannung wuchs erneut. Das alles klag ja ganz schlüssig und sie wollte daran glauben, dass der Besitzer des Koffers kein Mörder oder Terrorist war. Aber warum sollte sie das Risiko eingehen, vielleicht gerade dort auf ihn zu treffen und zu merken, dass sich Gabriel doch getäuscht hatte?
»Warum denn nicht? Mal raus kommen und ein kleines Abenteuer erleben. Was willst du denn sonst heute machen?«, versuchte es Gabriel weiter.
»Netflix und chill«, entgegnete Jule leise.
»Das machst du jeden Abend und am Wochenende den ganzen Tag«, antwortete Gabriel.
»So wie du?«, konterte Jule grinsend.
»Heute nicht«, versicherte Gabriel. »Komm schon, das wird bestimmt lustig. Wenn nicht kannst du deiner Mutter wenigstens ein Foto schicken und beweisen, dass du draußen warst.«
»Kurz bevor ich dann von einem vermummten Mann verschleppt werde? Immerhin kennt der Typ den Ort.« Jule war unsicher. Es wäre mal was anderes und mit Gabriel war sie früher öfter wandern gewesen. Da hatten sie oft Spaß gehabt. Die beängstigenden Gedanken zu verdrängen fiel ihr jedoch schwer.
»Na gut, dann hier mein Vorschlag. Du kommst mit, wir haben einen schönen Tag, unterhalten uns nett an der frischen Luft, finden vielleicht einen interessanten Lost Place und falls dich jemand verschleppen will, biete ich mich demjenigen freiwillig an, damit du gehen kannst. Zum Abschluss lade ich dich noch zum Essen ein, wir kommen laut dem Routenplaner nämlich am ›El Castillo‹ vorbei.«
Es fiel Jule schwer, nicht loszulachen, als Gabriel flehend die Hände faltete und sie mit großen Augen ansah. Dabei schob er schmollend die Unterlippe nach vorn.
»Wenn das ein Dackelblick sein soll, musst du noch üben«, antwortete sie.
»Er reicht, wenn du deshalb ja sagst. Darf auch aus Mitleid sein.«
»Na gut. Aber dann müssen wir an der Tanke noch Schokoriegel und was zu trinken besorgen«, stimmte sie schließlich zu. Sie war nicht allein unterwegs und es war mitten am Tag. Es würde schon nichts passieren.
↼⇁
»Leck mir die Stiefel«, entfuhr es Gabriel. »Hier könnte man nen Horrorfilm drehen.«
Das war auch Jules erste Eingebung gewesen und sie starrte mit offenem Mund auf das Häuschen vor ihnen.
Es war nicht sehr groß und beinahe komplett zugewuchert. Die hölzerne Haustür lag auf dem Boden, die beiden Fenster an der Vorderseite hatten keine Glasscheiben mehr.
Komischerweise ließen Jules Anspannung und das mulmige Gefühl in ihrem Bauch dennoch nach. Das Häuschen war zwar verlassen, mit Sicherheit schon seit vielen Jahren, gleichwohl wirkte es nicht bedrohlich. Im Gegenteil, es ging etwas Lebendiges davon aus.
Moos und vereinzelte Grasbüschel bedeckten das Dach. Die Mauern waren mit Efeu überzogen. Junge Bäumchen standen in schon hohem frischen Gras und Unkraut im Garten. Überall summte und brummte es und in dem kleinen Brennholzhaufen piepsten Vogelküken.
Wie magisch wurde Jule von dem Häuschen angezogen und sie wollte sich im Inneren umsehen. Darauf bedacht nichts kaputtzumachen, beinahe schon ehrfurchtsvoll, trat sie ein.
Langsam glitt ihr Blick durch das Zimmer. Ein Kamin, daneben ein Holztisch mit drei Stühlen, in der anderen Ecke ein schmales Sofa und ein alter Schaukelstuhl. Alles war mit einer dicken Staubschicht überzogen, trotzdem war sie sich sicher, dass es hier früher einmal richtig gemütlich gewesen war. Vor ihrem geistigen Auge sah sie eine kleine Familie, auf dem Sofa sitzend, sich unterhaltend, vielleicht auch kuschelnd.
Ihre Bedenken und Ängste waren komplett vergessen. Ebenso wie Gabriel, der ihr in den nächsten Raum folgte. Das Schlafzimmer mit einem Doppel- und einem Kinderbett. Auf einer hüfthohen Kommode mit vier Schubladen standen ein paar alte Fotografien in angerosteten Metallbilderrahmen.
Mehrere Minuten betrachtete Jule die Bilder, bevor sie weiter in die dunkle Küche ging. Noch immer hing hier der Duft von Rauch und Feuer in der Luft, ausgehend vom verrußten Holzherd.
Müde, aber gut gelaunt, lag Jule abends auf ihrem Sofa.
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Sie und Gabriel hatten sich über eine Stunde in dem alten Häuschen umgesehen und Fotos gemacht, bevor sie wieder gegangen waren. Das mexikanische Essen hatten sie abgeholt und zusammen in Jules Wohnung gegessen.
Als Nächstes hatten sie vor, das geschlossene Hallenbad zu besuchen. Die Fahrt dauerte zwar mindestens dreieinhalb Stunden, aber die nahmen sie gern in Kauf. Nachdem Jule anfangs noch so skeptisch gewesen war, hatte sie nun Blut geleckt und freute sich darauf, weitere Lost Places zu finden.
Gar nicht so einfach, denn in verschiedenen Foren hatte sie zwar tolle Fotos und Beschreibungen gefunden, die Koordinaten hielten die meisten User jedoch zurück. Allerdings stachelte sie das nur noch mehr an, etwas zu finden.
Bei einem längeren Videochat mit Marion hatte sie von ihrem Tag erzählt und Bilder des Häuschens gezeigt. Dabei war ihr aufgefallen, dass sie das Notizbuch nicht mehr finden konnte. Ganz sicher hatte sie es in den Rucksack gesteckt und fast ganz sicher, hatte sie es in der Hand gehalten, als sie in der Küche des Häuschens ihre Kamera raus geholt hatte.
Glücklicherweise hatte Gabriel die Koordinaten abfotografiert, sodass sie die weiteren sechs Lost Places finden würden. Dennoch hatte Jule darüber nachgedacht, noch einmal zurückzufahren und das Notizbuch zu holen. Wer wusste schon, wer es sonst fand und sich die gleichen Sorgen machte, wie es bei ihr gewesen war. Zudem hätte sie gerne noch ein wenig in dem Notizbuch geschmökert.
Allerdings hatte sie für heute dann doch genug Aufregung gehabt und wollte nicht alleine im Dunkeln durch den Wald laufen. Immerhin konnte sie sich damit beruhigen, dass niemand wegen ein paar Zahlen gleich darauf schloss, es hier mit Aktivierungscodes für Bomben zu tun zu haben.
Selbst, dass sie auf diesen Gedanken gekommen war, hielt sie mittlerweile für lachhaft. Nur wegen eines Notizbuchs in einem komischen Koffer. Vor sich hin lächelnd startete sie das Youtube-Video eines offensichtlich bekannten Urhebers, der ein verlassenes Krankenhaus besuchte.
Man konnte die ganze Sache ja auch positiv sehen. Sie glaubte, ein neues Hobby gefunden zu haben. Nur wegen eines Notizbuchs in einem komischen Koffer.
tobtobnico
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