2016 | Mathildas Kirschkuchen
Suzie Flinton war eine bescheidene junge Frau Mitte zwanzig, die ihre Jugendliebe Kent früh geheiratet und nach der Schule einen Job in der nahegelegenen Konditorei angenommen hatte. »Wie gut, dass du dem Süßen nicht so verfallen bist, wie ich«, witzelte ihre Chefin, und inzwischen auch enge Freundin, Claire, wie so oft. Besonders wenn sie Suzie wie heute in einem luftigen Sommerkleid sah, das ihren schmalen Körper betonte. Dass Suzie an einer besonderen Stelle ihres Körpers gerne mehr Rundungen gehabt hätte, sprach die besonnene Frau in diesem Moment besser nicht an. Dies waren nicht die Zeit und der Augenblick, um über ihre Sorgen nachzudenken. Dieser Tag gehörte jemandem anderen, der nur wenige Schritte weiter auf der hinteren Terrasse des stattlichen Anwesens im Schatten des großen alten Kirschbaumes saß und diesen sonnigen Tag im Mai in vollen Zügen genoss.
Das glückliche Ehepaar, das der Grund für Suzies Besuch auf dieser Feierlichkeit war, saß am Tischende und nahm immer noch Glückwünsche der zahlreichen Gäste entgegen. Gerade schüttelte der Pastor die Hand ihrer Großmutter. Er hatte sie und ihren Opa vor über fünfzig Jahren selbst getraut. Mit seinen fast achtzig Jahren war er nicht mehr der Jüngste und eine so lange Ehe hatte selbst er in seiner beträchtlichen Laufbahn selten erlebt.
Suzie lächelte glücklich. Die Ehe ihrer Großeltern hatte sie schon immer demütig gestimmt. Es war für sie weiß Gott nicht leicht gewesen, mit sieben Kindern und nunmehr zwölf Enkeln und Enkelinnen. Suzie war die zweitälteste von ihnen und hatte sich schon früh vorgenommen, die erste zu sein, die ihrer Lieblingsoma Urenkel schenkte. Doch der Wunsch, der schon seit vielen Jahren in ihr schlummerte und mit jedem Jahr größer wurde, blieb ihr leider verwehrt. Inzwischen waren sowohl ihre jüngere Schwester als auch ihr jüngerer Cousin ihr zuvorgekommen und wiegten ihre beiden Neffen liebevoll auf ihren Armen. Gedankenverloren legte Suzie ihre Hand auf die Gürtellinie ihres kirschroten Sommerkleides, dass sie extra für diesen besonderen Anlass der Goldenen Hochzeit gekauft hatte. Vielleicht würde sie eines Tages doch noch den zweiten Strich auf einem Teststreifen entdecken. »Komm Schatz, sie sind gerade frei!« Suzie spürte die vertraute Hand ihres Mannes auf ihrer nackten Schulter und nickte. Gemeinsam ging sie mit Kent zu ihren Großeltern und spürte schon beim Näherkommen den liebevollen Blick ihrer Oma auf sich.
»Suzie, wie gut, dass du da bist! Du musst mich retten!« Die alte Frau grinste verschwörerisch und stand vom Tisch auf. Bestimmt nahm sie den Arm der jungen Frau und raunte ihrem Mann zu: »Wir müssen mal wohin.«
Suzies Großvater lächelte und wies seinen Schwiegersohn an, sich auf den Platz seiner Braut zu setzen. Schnell waren die beiden Männer in eine Unterhaltung über Opas Modelleisenbahn vertieft.
Suzies Oma zog unterdessen ihre Enkelin quer über den Rasen zu dem alten Haus, das die Großeltern schon besessen hatten, als Suzie sich das erste Mal alleine die Schnürsenkel ihrer Schuhe auf den Treppen des stattlichen Herrenhauses gebunden hatte. Ihre Oma hatte sich viel Zeit genommen, um ihr diesen kniffligen Vorgang mit viel Geduld zu erklären, und war mindestens genauso stolz gewesen wie Suzie, als sie es am Ende der Ferien endlich allein geschafft hatte. »Oma, wo willst du denn so eilig hin?«, fragte Suzie, als die alte Frau sie wider Erwarten nicht zu den Toilettenräumen zog, sondern weiter in das angenehm kühl temperierte Haus, bis in das Arbeitszimmer ihres Großvaters. Ehrfürchtig beobachtete Suzie, wie ihre Oma die Tür noch immer geheimnisvoll schweigend schloss und nach ein paar Handgriffen einen Tresor hinter einem alten Gemälde offenbarte. »Meine liebste Suzie«, sagte ihre Großmutter, nachdem sie den Tresor geöffnet und fast liebevoll ein altes Buch daraus hervorgeholt hatte. »Du hast mich vorhin in der Kirche gefragt, was das Geheimnis unserer langen Ehe und unserer bedingungslosen Liebe ist«, sagte sie beinahe feierlich. Suzie nickte nur, nicht wissend, was ihre Großmutter ihr eigentlich sagen wollte. »Nun, meine Liebe, ich könnte dir nun erzählen, dass dein Opa und ich uns bedingungslos vertrauen. Dass wir einander respektieren und einander den Rücken stärken. Dass wir auch nach all den Jahren unserer Ehe tiefe und aufrichtige Liebe füreinander empfinden. Aber um ehrlich zu sein«, sagte sie und strich mit der freien Hand andächtig über den hellbraunen Ledereinband des in die Jahre gekommenen Buches, das nach Suzies erster Einschätzung vielleicht ein Notizbuch oder Tagebuch sein könnte. »Um ganz ehrlich zu sein«, wiederholte sie fast schon traurig, »glaube ich nicht, dass dies alles war, was mir dieses wundervolle Leben mit deinem Großvater ermöglicht hat. Suzie verstand nicht sofort, was ihre Oma ihr sagen wollte, doch sie spürte, dass es ein Geheimnis sein musste, das ihre Großmutter ihr nach all den Jahren anvertrauen wollte. »Was genau möchtest du mir damit sagen, Oma?«, fragte sie und legte liebevoll ihre Hand auf die Schulter ihrer Großmutter. Sie schien immer noch halb versunken in ihrem Blick auf das Büchlein in ihren Händen. »Suzie«, flüsterte sie fast, »ich werde dir nun eine fantastische Geschichte erzählen. Ob du sie glaubst oder nicht, ist dir überlassen, aber glaube mir: Ich weiß, was ich erlebt habe.«
Und dann begann die alte Frau zu erzählen. »Ich war etwa in deinem Alter, als ich diesen jungen Mann kennenlernte. Er war ein Traum: Er sah gut aus, hatte Charme und behandelte die Menschen um ihn herum immer respektvoll und fürsorglich. Wir waren gemeinsam in der Abschlussklasse und natürlich hoffte ich, dass er mich irgendwann um ein Date bitten würde. Aber Suzie, was soll ich sagen? Ich war nicht gerade eine Augenweide und konnte mit den hübschen Mädchen niemals mithalten. Niemals würde ich diesem wunderbaren jungen Mann auffallen. Ich klagte meiner Großmutter mein Leid und sie hörte sich alles genau an. Dann ging sie in ihr Schlafzimmer und kam nach ein paar Minuten mit einem handgeschriebenen Zettel zurück. Was darauf geschrieben stand, habe ich erst kürzlich in dieses Büchlein, das ich auf einem Trödelmarkt fand, übertragen.« Suzies Oma streckte ihre faltige Hand ihrer Enkelin entgegen und überreichte ihr das lederne Büchlein, das, wie ihre Oma selbst, schon bessere Jahre gehabt zu haben schien. »Lass dich von seinem Äußeren nicht täuschen«, sagte die Großmutter, als hätte sie Suzies Gedanken erraten. »Sein Inhalt ist der Grund, warum du mir nun etwas verraten musst, bevor ich die Geschichte weitererzähle.«
»Etwas verraten?«, fragte die junge Frau überrascht und ließ intuitiv ihre Finger über den braunen Einband des alten Büchleins fahren. Er schien ganz glatt zu sein, doch die sensiblen Fingerspitzen der zarten Hand spürten die kleinen, fast unscheinbaren Erhebungen, die sich auf der Vorderseite und dem Buchrücken befanden und in Suzie das dringende Bedürfnis weckten, das Büchlein aufzuschlagen und dessen Inhalt zu erkunden. Ihr linker Daumen hatte sich schon unter den Buchdeckel geschoben, als eine runzelige Hand sich auf die glatte Haut ihrer eigenen legte. »Du musst es mir erzählen, Suzie«, sagte die Stimme der alten Frau eindringlich und ließ Suzie kurz zusammenfahren. »Du musst mir erzählen, was du dir von ganzem Herzen wünscht!« Für einen Moment, der in Suzies Herz einen Krampf auslöste, sahen sich die beiden Frauen, die mehr als eine ganze Generation trennte, in die Augen. Ihre Verbindung zueinander war schon immer stark gewesen und Suzie wusste, dass sie sich sehr ähnlich waren. Sie waren beide eher zurückhaltend und harmoniebedürftig. Suzie wurde oft als scheu und ängstlich betitelt, aber das stimmte nicht. Sie war nicht scheu, nur beobachtend, nicht ängstlich, nur abwartend. Viele Menschen verstanden es nicht, dass jemand sich in einer Welt, in der alle offen und laut sein sollten, wohlfühlen konnte, indem er davon zehrte, leisen Tönen zu lauschen, die Ohren zu spitzen für die Probleme anderer und sich zurückzunehmen, um niemandem im Weg zu stehen. Suzie zog ihre Energie nicht aus dem ständigen Kontakt zu großen Gruppen oder dem Feedback von außen. Sie konnte sich stundenlang nur mit sich selbst unterhalten, in ein gutes Buch versinken oder nächtelang mit ihrem Mann über den Sinn des Lebens diskutieren. Doch die Kehrseite war, dass sie den einen Wunsch, der schon so lange in ihr schlummerte, wie einen geheimen Schatz tief in ihrem Inneren versteckte und dieser sie mit jedem weiteren Monat immer mehr aufzufressen drohte. Und das schien auch ihre Großmutter zu wissen. »Liebling«, sagte sie und strich mit ihrer warmen Hand eine Träne von Suzies Wange, die sie nicht einmal selbst bemerkt hatte. »Was lastet dir auf der Seele?«
Suzie schluckte und senkte ihren Blick auf das Büchlein, das mit seiner Schwere und seiner festen Haut einen Ankerpunkt für Suzie darstellte. Ihre Finger spielten mit einem der Bänder, mit denen man das Buch wohl verschließen konnte, und schon kamen die Worte aus ihr heraus. »Kent und ich versuchen schon eine Weile, ein Baby zu bekommen«, erzählte sie fast flüsternd, als würde sie sich dafür schämen. »Wir waren auch schon beim Arzt und haben uns untersuchen lassen. Unsere Werte sind okay, wir sind gesund und trotzdem...« Suzie sah auf und ihre Oma an. Sie musste den Satz nicht beenden, damit ihre enge Verbündete ihre tiefe Trauer verstand. »Wir alle haben manchmal unerfüllte Wünsche, Kleines. Und manchmal können wir ein wenig nachhelfen«, verriet sie und ein aufmunterndes Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Suzie sah die alte Frau ratlos an, doch sie hob nur ihre Hand. »Bevor du etwas fragst, möchte ich dir die Geschichte meiner Großmutter Mathilda erzählen. Von ihr habe ich etwas sehr Wertvolles bekommen, nachdem ich ihr mein Herz ausgeschüttet habe. Sie weihte mich in ein uraltes Geheimnis ein, das unsere Familie schon seit mehreren Hunderten Jahren begleitet. Es ist...«, sagte die Großmutter und ließ eine theatralische Pause, bevor ihre Enkelin nicht mehr warten wollte, und sie anflehte weiterzureden. »Es ist Mathildas Kirschkuchen! Sie hat mir das Rezept, das seit Jahrhunderten in unserer Familie weitergegeben wird, anvertraut. Wer den Kirschkuchen backt und sich dabei etwas von ganzem Herzen wünscht, dem wird der Wunsch auch erfüllt. Man sagt ja nicht umsonst, dass Kuchen mit viel Liebe gebacken wird.«
»Aber Oma«, wand Suzie etwas enttäuscht ein. »Das ist doch nur eine alte Geschichte. Zauber oder Wünsche existieren nicht. Noch nie hat sich etwas, das ich mir von einer Wimper oder einer Sternschnuppe gewünscht habe, erfüllt. Und wenn es so einen Kuchen wirklich gäbe, warum bist du nicht steinreich, immer gesund und hast alles, was du sonst noch brauchst? Tut mir leid, ich weiß, du wolltest mich aufmuntern, aber diese Geschichte ist nur eines: Eine fantastische Märchengeschichte!« Suzie hatte versucht, ihre Worte mit Bedacht zu wählen, um ihre Oma nicht zu verletzen, die sich sichtlich große Mühe gegeben hatte, ihr mit diesem fingierten Geschenk neue Hoffnung zu geben. Wahrscheinlich hatte Kent, der seine Frau nicht länger leiden sehen wollte, seine Finger im Spiel. Aber das hier? Fast war sie wütend, dass man ihr mit so eine List ihren Glauben zurückgeben wollte. Kam sie wirklich so verzweifelt bei ihren Mitmenschen an? Hatte sie Kent zu oft ihr Leid geklagt? Dachte er, dass sie schwach war und daran zerbrechen würde?
»Ich dachte mir schon, dass du mir ohne einen Beweis nicht glauben würdest, mein Liebes. Deshalb muss ich dich warnen. Der Grund, warum unsere Familie trotz dieses Geheimnisses noch Träume hat, ist der Preis, den man für jeden erfüllten Wunsch zahlen muss.« Suzies Großmutter atmete tief ein, bevor sie weitersprach, und ließ sich auf einen Stuhl nieder. »Meine Großmutter Mathilda hat in jungen Jahren selbst keine Kinder gehabt. Sie und ihr Mann hatten aber einen Ziehsohn, der nach dem Tod von seinem Bruder und dessen Frau bei ihnen wohnte und um den sie sich liebevoll kümmerten. Der Junge war bald wie ihr eigener Sohn und bedeutete ihr alles. Als er immer älter wurde, bekam sie Angst, dass er sie bald verlassen würde, und sie fasste einen Entschluss. Sie fing an, den Kuchen zu backen und wünschte sich dabei jedes Mal, dass ihr Neffe auf ewig jung und so für immer bei ihr bleiben würde. Sie ging nicht davon aus, dass dieser Wunsch sich erfüllen würde, aber nach ein paar Jahren stellte sich für sie heraus: Ihr Neffe und auch alle Menschen um sie herum, alterten nicht mehr. Sie beschrieb es so, als seien sie alle unter einer unsichtbaren Haube gefangen gewesen, die ihre kleine Stadt und alle ihre Einwohner in einer Art Zeitschleife gefangen hielt. Anfangs fand sie es wohl auch noch ganz nett, doch dann begannen sich die Probleme zu häufen. Ihr Neffe wurde immer wieder in von ihm als ›Kriminalfälle‹ betitelte Situationen hineingezogen, die seiner Ziehmutter große Ängste bereiteten. Immer wieder musste sie zusehen, wie ihr Neffe und seine Freunde an böse Menschen, Diebe, Entführer und Mörder gerieten, und irgendwann wurde es ihr zu viel. Sie wollte nicht mehr zusehen, wie ihr Neffe sich in Gefahr begab, und backte einen letzten Kirschkuchen, um den Jungen wieder altern zu lassen. Dieser Junge ist inzwischen über neunzig Jahre alt und dein Urgroßvater.«
»Und was ist bei diesem Mal Schlimmes passiert?«, fragte Suzie, die der Geschichte andächtig gelauscht hatte, neugierig nach. »Ihr Mann hatte, ein paar Tage nachdem sie den Kirschkuchen gebacken hatte, einen schweren Autounfall und verlor dabei sein linkes Bein. Er musste seinen Job an den Nagel hängen und meine Großmutter musste für den Rest ihres Lebens für ihren Lebensunterhalt sorgen.«
»Hatte sie ihn jemals bereut? Den Kuchen, meine ich?«
»Nein«, war die Antwort der Großmutter. »Sie erzählte mir, dass die Zeit mit ihrem Neffen die schönste auf Erden war und auch ihn endlich gehen zu lassen, war das Richtige.«
»Sah ihr Mann das genauso?«, fragte Suzie nun bitter. Ihr war natürlich klar, worauf es bei dieser Unterhaltung hinauslaufen würde, und sie würde diese Entscheidung nur mit Kent zusammen treffen wollen.
»Ich denke nicht, dass sie es ihm jemals erzählt hat.« Ihre Oma lächelte verkniffen. »Du wolltest es mir auch nicht glauben. Und ich erst ebenfalls nicht. Bis ich den Kuchen für meinen Abschlussball gebacken habe. Ich habe mir das komplette Blech ganz allein einverleibt«, lachte die alte Frau plötzlich so herzhaft, dass auch Suzie sich ein breites Grinsen nicht verkneifen konnte. »Und was hast du dir gewünscht?«, fragte Suzie, doch sie kannte die Antwort bereits. »Er sitzt draußen auf dem Stuhl neben deinem Mann und erzählt ihm bestimmt gerade von seiner neuesten Errungenschaft; irgendein Sammlerstück aus dem Jahr neunzehnhundert Schießmichtot aus Deutschland, frag mich nicht.« Suzie sah ihre Großmutter an und musste erneut lachen. Wie sie so da saß und von ihrem Ehemann sprach wie von einem Lebewesen von einem anderen Stern. Sein Hobby hatte sie immer geduldet, auch wenn er an Weihnachten das halbe Haus mit seinen Zügen besetzt hielt. Aber wirklich abgewinnen konnte sie diesem Hobby wohl nichts. Suzie hingegen hatte es immer geliebt, die alten Züge durch die liebevoll konstruierten Landschaften fahren zu sehen und sich auszumalen, selbst irgendwann mal mit solch einem Zug auf Reisen zu gehen. »Was ist dann passiert?«, fragte sie zögerlich. »Möchtest du das wirklich wissen?«
Suzie nickte.
»Mein Herzenswunsch hatte sich also erfüllt und ich hätte glücklicher nicht sein können. Doch ein Tag nach unserer Hochzeit geschah es. Der Hof, den meine Eltern besessen hatten, und der ihre ganze Lebensgrundlage darstellte, brannte aus nie geklärten Gründen in der Nacht bis auf die Grundmauern nieder. Meine Eltern und Geschwister entkamen dem Feuer nur knapp, doch sie mussten sich alles von vorne wieder aufbauen. Das Kuchenrezept habe ich nie wieder angefasst.«
»Warum erzählst du mir das alles und warum gibst du mir nun das Rezept, wenn es doch so gefährlich ist, es zu benutzen?«, fragte Suzie verwundert.
»Vielleicht, weil du für dich selbst entscheiden musst, wie viel dir dieser Wunsch wert ist, meine Kleine! Manche Wünsche sind belanglos, wie mehr Geld oder ein besserer Job. Und manche Wünsche sind so wichtig für einen, dass man buchstäblich alles dafür in Kauf nehmen würde, um ihn erfüllt zu bekommen.«
»Ich frage mich«, meinte Suzie, »ob du nicht mit ein bisschen Mut auch ohne Kirschkuchen bei Opa Erfolg hättest haben können. Und deine Oma, hätte sie nicht auch ohne Zauber eine schöne Zeit mit ihrem Neffen haben können? Kann ich vielleicht auch ohne Kind glücklich werden? Mich an meinen Neffen erfreuen? Oder ein Kind adoptieren. Vielleicht ist mir ja später noch eines vergönnt, auch ohne Zauberkuchen. Lohnt sich dafür das Risiko, dass den Menschen in meinem Umfeld etwas zustößt?«
»Das, liebe Suzie, kannst du nur ganz allein entscheiden!«
Als sich Suzie diese Nacht neben ihren Ehemann in das große Bett legte, hatte sie den Gedanken an den magischen Kirschkuchen noch nicht losgelassen. Während Kent nur wenige Minuten brauchte, um neben ihr in lautes Schnarchen zu verfallen, lag Suzie mit offenen Augen da, starrte die Decke an und grübelte. Als ihr der Blick auf die Uhr zeigte, dass der nächste Morgen nur noch eine Stunde entfernt war, stand sie auf und huschte mit nackten Füßen im Halbdunkeln auf den Flur hinaus. Sachten Schrittes schlich sie bis in die Küche, in der sie den Korb vom Besuch am Nachmittag abgestellt hatte. So leise wie möglich wühlte sie darin herum, bis ihre Finger das Lederbuch, von dem sie ihrem Mann noch nichts erzählt hatte, ertasteten.
Abermals ließ sie ihre Finger über den Einband wandern und öffnete dann mit viel Geschick den Knoten, der die Seiten zusammenhielt. Kurz fühlte sie sich an den Tag erinnert, als sie auf den Stufen des Hauses ihrer Großeltern ihre erste Schleife gebunden hatte. Damals wie heute stiegen Endorphine in ihrem Blut auf und Suzie setzte sich noch an Ort und Stelle an den Küchentisch, um das Buch aufzuschlagen. Zu ihrer Verwunderung war es bereits bis über die Hälfte mit Notizen vollgeschrieben. Worte, Bilder, ein paar lose Zettel lagen darin. Auch wenn es sicherlich spannend war, all diese Notizen zu lesen, blätterte sie vor bis zu der letzten Seite; der Seite mit dem Kuchenrezept von Mathilda.
Die Handschrift war unverkennbar die ihrer Großmutter. Sie hatte den Zettel mit dem Kuchenrezept jahrelang in einem Geheimfach in einer Schublade aufbewahrt und erst kurz vor ihrer Goldenen Hochzeit quasi als Andenken an ihre gute und lange Ehe in das Notizbuch geschrieben, dass sie für das Geheimnis recht hübsch und passend gefunden hatte.
Fein säuberlich standen dort eine Zutatenliste und einzelne Schritte zur Zubereitung des Wunderkuchens. Kurz erwischte Suzie sich dabei, das Rezept intensiv zu lesen. Doch ihr Unterbewusstsein dirigierte ihre Hand auf die Zeilen, sodass ihr der meiste Text verborgen blieb. ›Willst du das wirklich tun?‹, ging es ihr durch den Kopf. ›Mal angenommen, du wirst schwanger. Welche schlimme Auswirkung könnte der Fluch auf dich haben?‹, fragte sie sich. Würde das Baby eventuell krank auf die Welt kommen? Würde Kent etwas passieren oder ihr selbst? Würde ihr Haus, auf das sie so lang gespart hatten, dem Erdboden gleichgemacht? Oder würde nichts passieren und sie die nächsten Jahre jeden Tag auf eine Hiobsbotschaft warten?
Suzie war nicht abergläubisch. Aber sie war auch nicht dumm! Sie wusste genau: Wenn in den nächsten Jahren irgendetwas passieren würde, nachdem sie wirklich schwanger werden würde, wäre ihr erster Gedanke: ›Es ist der Fluch des Kuchens!‹
Nein! Lieber würde Suzie ein Leben ohne Baby in Kauf nehmen, als sich später Vorwürfe machen zu müssen, dass es ihre Schuld gewesen war, dass jemandem, den sie liebte, etwas passierte. Niemals könnte sie es sich verzeihen, wenn sie die Verantwortung dafür tröge. Entschlossen klappte sie das Notizbuch zu und band erneut eine Schleife um den dicken Einband, so wie ihre Oma es ihr damals gezeigt hatte. Dann eilte sie in ihre Abstellkammer und fand eine alte Keksdose, in die das Buch exakt hineinpasste. Sie verstaute die Blechdose mitsamt dem Buch zusätzlich in einer Plastiktüte und eilte, barfuß wie sie war, in den Garten hinaus. Hinter der alten Brombeerhecke bog sie nach rechts ab und ging zu dem Loch, dass ihr Mann vor einigen Tagen für den neuen Apfelbaum ausgehoben hatte. Sie legte das Buch hinein, warf etwas Erde darauf und hievte das Apfelbäumchen mitsamt der Erdkugel in das Loch. Mit bloßen Fingern begann sie Erde um den Baum anzuhäufen und eilte dann mit einer Gießkanne hinzu, um die Erde zu gießen, um sie zu verfestigen.
Als ich schließlich fertig war, hatte sich der Himmel bereits rosarot gefärbt. Ein Blick auf ihre Armbanduhr verriet ihr, dass der Morgen bereits begonnen hatte. Sie richtete sich auf, und ihr wurde kurz schwindlig. Die ungewohnte Arbeit vor dem Frühstück hatte anscheinend ihren Kreislauf zu sehr beansprucht. Sie schaute auf ihre erdigen Finger und sah, dass sie zitterten. Nie wieder würde sie auch nur ein Wort über das Buch verlieren. Vielleicht würde es irgendwann jemand finden und vielleicht würde auch irgendwann jemand den Kirschkuchen backen. Aber das war dann nicht mehr ihr Problem. Sie hatte sich entschieden: Sie spielte nicht mit dem Schicksal! Auf dem Weg zum Haus schwankte sie plötzlich erneut, und ihr wurde schwarz vor Augen. Doch sie fiel nicht auf den feuchten Rasen, sondern wurde von zwei starken Armen gefangen, die ihr zur rechten Zeit in Gestalt ihres Mannes entgegengestreckt wurden. »Liebling, was machst du hier draußen? Warum bist du voller Erde? Komm rein, geh duschen und ich mache uns Frühstück. Es war ein langer Tag gestern. Du brauchst Ruhe.«
Suzie nickte nur und warf noch einen letzten Blick auf den kleinen Apfelbaum. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Vielleicht sollten sie sich irgendwann noch einen Kirschbaum dazu kaufen.
Bobby
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