2014 | Simba who are you?

Der Bus hielt mit einem Quietschen. Die Tür schob sich zur Seite und Maxi stieg als Einziger aus. Kein Wunder, bis auf eine ältere Dame, die jedes Mal zwei Haltestellen später ausstieg, war der Bus auch komplett leer gewesen. So wie jeden Donnerstagabend, nachdem er vom Training den Bus nach Hause nahm. Draußen empfing ihn die kalte Winterluft und sein Atem wurde vor ihm als kleine Wolke sichtbar. Ohne zu zögern, lief Maxi los. Schon jetzt dämmerte es und er wollte nicht erst im Dunkeln bei sich zu Hause ankommen. Viele Menschen waren nicht mehr unterwegs. Sie saßen wahrscheinlich gemütlich in ihrem Wohnzimmer, aßen Plätzchen und sahen sich einen Weihnachtsfilm an. So wie es in dieser Zeit in vielen Familien üblich war.

An der Kreuzung hatte er diesmal Glück gehabt. Gerade als er ankam, schaltete die Ampel auf Grün. Mit einem Schwung warf er den Sportbeutel über die Schultern und vergrub seine Hände in den Jackentaschen. Dann lief er weiter. In der Ferne durchbrach eine Sirene die Stille. In der letzten Zeit gab es immer wieder kleinere Überfälle, weswegen seine Eltern jedes Mal besorgt waren, wenn er etwas später nach Hause kam. Doch bisher ist nie etwas passiert und so blendete Maxi die nervtötenden Geräusche der Sirene einfach aus. Mit seinen Gedanken noch ganz bei der heutigen Trainingsstunde bemerkte er nicht, dass er schon an der alten Bäckerei angekommen war. Ab jetzt war es nicht mehr weit. Nur noch rechts um die Ecke, die Straße runter und er konnte endlich seinen warmen Heidelbeertee trinken, auf den er sich schon den ganzen Tag freute.

Maxi beschleunigte seine Schritte. Dann ging alles ganz schnell. Er bog gerade um die Ecke, da stieß er mit jemandem zusammen. Vor Schreck schrie Maxi auf. Graue, kalte Augen starrten ihm entgegen. Der Rest des Gesichts war mit schwarzem Stoff bedeckt. Der eigenartige Geruch des Fremden nach Rauch und Schweiß konnte Maxi auf diese Distanz gut riechen. Im Hintergrund hörte er aufgebrachte Stimmen, Sirenen und Fußgetrappel. Doch das war nicht wichtig. Im nächsten Moment hielt Maxi etwas Schweres in den Händen. Sein Gegenüber schubste ihn aus dem Weg. Maxi schlug mit dem Rücken gegen die Hauswand eines alten Backsteingebäudes. Dann war die vermummte Gestalt fort.

Völlig außer Atem ließ Maxi sich zu Boden gleiten. Sein Herz pochte wie wild in der Brust. Er brauchte ein paar Sekunden, um sich wieder zu fangen. Schon hörte er Schritte. Sie kamen näher, klangen hektisch. Maxi machte sich ganz klein. Die Angst ließ ihn erstarren. Aber es waren nur zwei Polizisten, die die Jagd auf den Maskierten begannen. Er selbst blieb unentdeckt. Erst nach ein paar Minuten rührte er sich wieder. Er hatte sich so weit beruhigt und stand nun langsam auf. Jetzt fiel sein Blick auf den Gegenstand, den der Dieb ihm in die Hand gedrückt hatte. Es war ein Buch. Verdutzt betrachtete Maxi es. Warum sollte man ein Buch klauen? Und besonders so eines? Es sah wirklich nicht außergewöhnlich aus.

Ein kleines, dickes, in abgewetztes Leder gebundenes Buch. Nichts Besonderes. Doch wenn der Dieb es bei sich hatte, musste es wichtig sein. So wichtig, dass er damit nicht erwischt werden wollte. Maxi überlegte. Sollte er es mitnehmen? Liegen lassen? Der Polizei geben? Am Ende jedoch siegte die Neugier und Maxi beschloss, es erst einmal einzupacken und es später genauer zu betrachten. Das Buch konnte er auch wann anders abgeben. Jetzt wollte er nur noch nach Hause. Mit immer noch zitternden Händen stopfte er das kleine Buch in seinen Sportbeutel, bevor er sich eilig auf den Weg machte. Ein paar Minuten später hatte er sein Haus endlich erreicht. Der Fahrstuhl war immer noch außer Betrieb, schon seit zwei Wochen. Deshalb musste er die Treppen benutzen.

Maxi nahm immer zwei Stufen auf einmal. So kam er ziemlich außer Atem im vierten Stock an. Er freute sich auf das hoffentlich schon fertige Abendessen und beeilte sich, den Schlüssel aus seiner Jackentasche hervorzukramen. Erst als er die leere Wohnung betrat, fiel ihm ein, dass seine Eltern mit seiner kleinen Schwester bei ihren Großeltern zum Geburtstag waren. Maxi seufzte. Dann würde es heute wohl wieder nur Tütensuppe geben. Doch so hatte er genug Zeit, sich das Buch in Ruhe anzuschauen, das seit wenigen Minuten ununterbrochen in seinen Gedanken herumgeisterte.

Während sich das Wasser für seinen Tee langsam im Wasserkocher aufheizte, holte er das kleine, geheimnisvolle Buch aus seinem Sportbeutel hervor. Auf seinem Weg nach Hause musste das Buch ordentlich durchgeschüttelt worden sein. Jetzt hatte es, trotz des ledernen Einbands, einige Eselsohren, die Maxi mit einem entschuldigenden Blick zurück knickte. Er wollte es gerade aufschlagen, da bingte der Wasserkocher einmal.

»Endlich«, seufzte er und goss sich das dampfende Wasser in seine Tasse. Den Rest verwendete er für die Suppe. Sein Heidelbeertee brauchte 5 Minuten, um zu ziehen. So lange musste er sich noch gedulden. Nur leider war Geduld keine seiner Stärken und so warf er der Uhr immer wieder genervte Blicke zu. Erst als er einen Schluck von dem brühend heißen Tee getrunken und sich dabei fast die Zunge verbrannt hatte, konnte er sich wieder auf das Buch vor seiner Nase konzentrieren.

Neugierig schlug Maxi es auf. Die Seiten waren an einigen Stellen leicht vergilbt. Die Ecken, die von seinem halben Marathon die Treppen hinauf stammten, waren glücklicherweise nicht mehr zu erkennen. Dafür sah das Buch anderweitig ziemlich mitgenommen aus. Auf der einen Seite klebte ein dunkler Fleck eines nicht zu identifizierenden Getränks. Dann sah er dünne Randnotizen, kaum lesbar und in einer ihm unbekannten Sprache. Er blätterte ein paar Seiten um. Er wusste immer noch nicht, was er von diesem merkwürdigen Buch halten sollte. In seinem ganzen Leben hatte Maxi erst einmal ein komplettes Buch gelesen. Und das war in der ersten Klasse gewesen, als er eine Buchvorstellung halten sollte. Dementsprechend war sein Interesse an Büchern sehr gering. Aber dieses Buch hatte es ihm angetan. Maxi wollte wissen, was es für Geheimnisse barg.

Doch schon wieder wurde er von seinem Vorhaben abgehalten. Diesmal war es sein Handy, das in regelmäßigen Abständen surrte. Es war Aaron, aus seinem Volleyballteam. Maxi konnte gerade ein paar Begrüßungsworte aussprechen, da redete Aaron schon los.

»Ich bin so am Arsch, man! Hab durch das Training komplett die Hausaufgabe für Deutsch vergessen und wenn ich die Morgen nicht habe, killt Winzer mich!«

Maxi, der sich gerade einen Löffel aus der Schublade holen wollte, erstarrte mitten in der Bewegung.

»Scheiße!«

»Wie du hast die auch nicht?!« Durch das Handy konnte Maxi Aaron fluchen hören.

»Was sollten wir überhaupt machen?« Verzweifelt vergrub Maxi seinen Kopf in den Händen.

»Keine Ahnung, man!«, rief Aaron aufgebracht.

»Warte, ich schau nach.« So schnell er konnte raste Maxi in sein Zimmer, wo er den Deutschhefter unter einem Haufen Kunstskizzen hervorzog. Eilig blätterte er sich durch die verschiedenen Themen, bis er ganz hinten angekommen war. Kommunikationsmodelle. Maxi stöhnte auf.

»Was ist los?«, wollte Aaron ungeduldig wissen. »Hast du's oder nicht?«

»Schon, aber weißt du, wie viel das ist?!«

»Schick mal!« Als Aaron sich die Aufgabe durchgelesen hatte, stöhnte auch er auf. »Ich will nicht mehr!«

Maxi nickte. »Okay, mach du Aufgabe 1 und 2 und ich mach den Rest, ja?«

»Ja, okay. Ich schick's dir dann rüber.«

»Gut«, meinte Maxi. »Bis dann.«

»Tschau.« Dann legte Aaron auf.

Mit zunehmend sinkender Laune trottete Maxi zurück in die Küche. Seine Suppe war mittlerweile auch schon wieder kalt geworden und durch die Hausaufgabe hatte er jetzt keine Zeit mehr für das Buch. Maxi warf ihm einen letzten bedauernden Blick zu. Dann machte er sich an seine Aufgaben. Eine halbe Stunde später war er endlich fertig und konnte seine Augen auch nur mit Mühe offenhalten. Schnell fotografierte er seine Lösungen und schickte sie Aaron. Den Rest würde er morgen abschreiben. Oder es einfach ausdrucken, das würde er dann entscheiden. Geduscht hatte er schon nach dem Training. So musste er sich nur noch schnell umziehen, bevor er geschafft ins Bett fiel und auch sofort einschlief.

Am nächsten Tag wurde Maxi von einem merkwürdigen Klackern geweckt. Blinzelnd starrte er ins Halbdunkel, das nur von der Straßenlaterne erleuchtet wurde. Es dauerte eine Weile, bis er erkannte, woher das Geräusch kam. Mit einem Mal war er komplett wach.

»Oh, Fuck!« Wegen der Deutschhausaufgabe hatte er gestern Abend voll vergessen, Tommy zu füttern. Betreten vergrub Maxi seinen Kopf im Kissen. Warum mussten die Lehrer kurz vor Weihnachten auch noch so viele Hausaufgaben aufgeben? Nun konnte er aber auch nichts mehr daran ändern. Da es keinen Sinn mehr machte, jetzt noch liegen zu bleiben, quälte Maxi sich langsam aus dem Bett und schlurfte zu dem Käfig herüber.

Tommy, der sein Kommen bemerkte, fing an, wie wild an der Gittertür entlangzulaufen.

»Ja, ist ja gut«, murmelte Maxi. »Tut mir leid.«

Kaum hatte er die Tür geöffnet und seine Hand in den Käfig gestreckt, kam der kleine Hamster an und untersuchte seine Finger.

»Warte«, lachte Maxi. »Ich mach ja schon Essen.«

Nachdem er den Napf aus dem Käfig geholt hat, machte er auch die leere Wasserflasche aus ihrer Befestigung los, von der das merkwürdige Klackgeräusch kam. Da seine Eltern mit seiner kleinen Schwester bis Sonntag bei ihren Großeltern waren, hatte er heute früh die ganze Wohnung für sich. So war kurze Zeit später Weihnachtsmusik lautstark aus den Boxen und Maxis schiefer Gesang zu hören.

Nachdem er Tommys Essen zubereitet, Aarons Lösungen ausgedruckt und sich selbst einen Heidelbeertee gemacht hatte, setzte er sich mit seinem Tee und dem merkwürdigen alten Buch auf die Couch. Interessiert blätterte er ein paar Seiten um. Maxi wusste immer noch nicht, was er von diesem geheimnisvollen, titellosen Buch halten sollte. Es sah ganz so aus, als hätte jemand darin Tagebuch geführt. Auf einer Seite waren Worte markiert, die der Besitzer des grünen Textmarkers wohl wichtig gefunden hatte. Maxi blätterte weiter. Die nächsten Seiten waren unbeschriftet. Nur das abgenutzte Papier war an der unteren Ecke eingerissen. Wie alt dieses Buch war? Den Spuren seiner Besitzer nach musste es schon mehrere Male weitergereicht worden sein. Ein einzelner konnte ja kaum so unvorsichtig und schlampig mit dem Buch umgegangen sein, dass ihm dermaßen viele Flecken und Notizen hinzugefügt wurden.

Kaum hatte Maxi seinen Tee ausgetrunken, musste er auch schon los. Sein Bus kam in fünf Minuten, meistens mit ein paar Minuten Verspätung. Trotzdem wollte Maxi ihn nicht verpassen. Bei dieser Kälte fuhr er auf keinen Fall mit dem Fahrrad zur Schule. Kurz überlegte er, wo er das Buch vor den neugierigen Blicken seiner Schwester verstecken konnte. Dann packte Maxi es einfach ein.

»Was solls«, murmelte er. Viel mehr Schaden konnte er bei diesem Buch sowieso nicht mehr anrichten. Ein paar Knicke dazu würden nicht auffallen.

Jetzt hatte er noch zwei Minuten, bis der Bus kam. Nun doch etwas gestresst beeilte Maxi sich, seine Jacke und die Schuhe anzuziehen, seinen Rucksack zu schultern und den Schlüssel vom Haken zu nehmen. Ein letzter Blick durch die Wohnung, dass er auch ja nichts vergessen hatte. Dann knipste er das Licht aus und schloss hinter sich die Tür. Abschließen tat er jetzt nicht, auch wenn seine Mutter ihn jedes Mal dafür tadelte, wenn er es wieder einmal vergaß. Doch sein Bus würde in einer Minute vor seiner Tür stehen und wenn er den verpassen würde, müsste er wirklich noch mit dem Fahrrad fahren.

Nach einem genervten Blick Richtung defekten Fahrstuhls hetzte Maxi die Treppen hinunter. Die letzten vier Stufen übersprang er einfach und rannte aus dem Haus. Der Bus stand schon an der Haltestelle. Gerade als sich die Tür schloss, quetschte Maxi sich hinein und zeigte dem Fahrer seine Karte. Dieser nickte nur und winkte ihn griesgrämig durch.

»Ihnen auch einen wunderschönen guten Morgen«, murmelte Maxi und verdrehte die Augen. Aaron saß wie jeden Tag direkt an der Tür. So war es für Maxi ein leichtes, seinen Freund zu finden. Immer noch leicht außer Atem setzte er sich neben ihn.

»Sag einfach nichts«, grummelte er, als er Aarons Grinsen sah.

»Wenn du ein paar Minuten früher aufstehst«, fing er an, doch Maxi unterbrach ihn.

»Ja, ja. Schon klar.« Lächelnd verdrehte er die Augen.

»Kümmer du dich um deinen Kram. Außerdem hab ich es bis jetzt doch immer geschafft.«

»Ja, bis jetzt.«

Maxi schnaubte. »Vertrau mir doch mal!«

»Mach ich ja. Ich mach mir nur Sorgen um dich«, grinste Aaron.

»Ist klar.« Maxi streckte seinen Arm aus und drückte auf den Stoppknopf.

»Was hab'n wir denn jetzt?«, fragte er.

»Deutsch, wie jeden Freitagmorgen.« Aaron verzog sein Gesicht.

»Aber danach haben wir Kunst«, fiel Maxi ein.

»Als ob das besser wäre.«

Maxi kam nicht mehr dazu, zu antworten. Schon hielt der Bus und das typische Schulbusgedränge begann. Als sie es endlich geschafft hatten, nach einer Horde Drittklässler auszusteigen, war von dem riesigen Ansturm an Schülern nichts mehr zu merken. Die meisten hatten sich schon längst auf den Weg Richtung Schule gemacht, um möglichst wenig Zeit in der Kälte verbringen zu müssen. Auch Maxi und Aaron beeilten sich, wieder ins Warme zu kommen und beschleunigten trotz der anstehenden Deutschstunde ihre Schritte.

Deutsch war so ereignislos wie immer. Sie verglichen die Hausaufgabe miteinander und arbeiteten etliche Arbeitsblätter ab, die jeder, ohne zu zögern, bei den Lösungen, die an der Tafel hingen, abschrieb. Gelangweilt ließ Maxi seinen Kopf auf den Tisch sinken. Aaron hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Kappen von Luises Faserstiften zu vertauschen. Also brauchte Maxi in dem Moment nicht mit seiner Aufmerksamkeit rechnen. Nach ein paar Minuten, in denen er nur aus dem Fenster gestarrt hatte, fiel ihm das Buch ein, das er heute Morgen in aller Eile in seinen Rucksack gestopft hatte. Jetzt war er froh, es nicht zu Hause liegen gelassen zu haben, denn so hatte er endlich eine Beschäftigung. Mit neuem Eifer kramte er es wieder hervor. Entgegen seinen Erwartungen hatte es keine neuen Knicke.

»Seit wann liest du denn Bücher?« Skeptisch sah Aaron ihn an.

Maxi zuckte mit den Schultern. »Wird auch nicht lange so bleiben, das kannst du mir glauben. Aber besser als dämliche Kommunikationsmodelle zu vergleichen.«

Luise hatte die Abwesenheit ihrer Federtasche nun bemerkt. »Hey!« Empört sah sie Aaron an. »Sag mal, spinnst du?!«

Maxi schüttelte leicht grinsend den Kopf und wandte sich endlich dem Buch zu. Aaron würde jetzt erst einmal beschäftigt sein. Aus dem Augenwinkel sah Maxi gerade noch, wie Luise mit ihrer zurückeroberten Federtasche ausholte und seinen Freund damit attackierte.

Suchend blätterte er durch das Buch. Er hätte sich mit einem Lesezeichen die Stelle markieren sollen, wo er heute Morgen aufgehört hatte. Jetzt war es unmöglich, die Seite wiederzufinden. Alle Seiten sahen fast identisch aus. Nur die Randnotizen der vorherigen Besitzer veränderten sich. Maxi seufzte. Die Stelle von vorhin würde er nicht mehr finden. Wahllos schlug er das Buch irgendwo in der Mitte auf. Bisher hatte Maxi sich noch nicht mit dem eigentlichen Inhalt des Buches auseinandergesetzt. Doch auch jetzt fand er die Spuren seiner Vorgänger interessanter. Am unteren Rand klebte ein pinker Sticker mit der Aufschrift Home Sweet Home. Maxi schüttelte den Kopf. Wer kam denn bitteschön auf die Idee, einen Sticker in ein wahrscheinlich Jahrzehnte altes Buch zu kleben?

Aber irgendwie fand er es spannend, wie die verschiedenen Menschen vor ihm ihre eigenen Zeichen hinterlassen haben. Er überlegte. Sollte er auch etwas in dieses Buch schreiben? Nur was? Dann erschien dieser Gedanke ihm lächerlich. Er schlug ein paar Seiten um. Die nächsten Notizen zwischen den ursprünglichen Zeilen des Textes waren mit einem roten Kugelschreiber geschrieben. Hello hi how are you? Why? you look terrible Die nächsten Worte waren so eng beieinander geschrieben, dass Maxi Mühe hatte, sie zu lesen. Gerade so erkannte er die Worte okay und that's good. Auf der rechten Seite waren mehrere Haus-vom-Nikolaus-Zeichnungen zu sehen. Da hatte jemand wohl sehr viel Langeweile gehabt. Maxi schmunzelte. Derjenige, der das gezeichnet hatte, saß vielleicht, genau wie er gerade, in der Schule und hatte ebenso wenig Lust gehabt, unnötige Aufgaben zu lösen.

Eine Seite weiter waren einige Versuche einer gezeichneten Katze zu sehen. Miau stand daneben und hi I am Simba who are you? Maxi kramte in seiner Tasche und holte einen Bleistift hervor. Nice to meet you I am Maxi stand nun darunter. Er schüttelte den Kopf. Das war doch lächerlich! Wenn das jemand aus seiner Klasse sah, würden sie sich für immer darüber lustig machen. Schnell schlug er gleich mehrere Seiten um. Neonorangene Blumen geschmückten den Blattrand und waren auf dem alten Papier kaum noch zu erkennen. Auch die nächsten Buchseiten waren mit verschiedenen Farben bemalt. Bevor Maxi sie näher betrachten konnte, stand Frau Winzer auf. Sie stellte sich vor die Tafel und räusperte sich, um die Aufmerksamkeit der Klasse auf sich zu ziehen.

Nach und nach wurde es ruhig und als auch der Letzte aufgehört hatte, zu reden, sagte sie: »Ich sehe, ihr seid fertig mit euren Aufgaben. Dann könnt ihr schon einmal leise zusammenpacken und heute fünf Minuten eher gehen.«

Mit einem Mal herrschte Unruhe in der Klasse. Schlagartig fingen alle an, mit ihrem Nachbarn zu quatschen und die Deutschhefte in ihren Rucksack zu packen.

Frau Winzer hatte Mühe, erneut die ungeteilte Aufmerksamkeit zu erlangen, und rief: »Bedenkt, andere Klassen haben noch Unterricht! Seid also leise, wenn ihr zu eurer nächsten Stunde geht!«

Doch keiner beachtete sie mehr. Die ersten Schüler hatten den Raum bereits verlassen und niemand dachte noch daran, besonders leise zu sein. Maxi warf seiner Lehrerin ein entschuldigendes Lächeln zu, bevor er sich mit Aaron gleichzeitig durch die Tür quetschte und die grässliche Deutschstunde endlich hinter sich ließ.

»Och, ne«, fing Aaron gleich an, zu jammern. »Jetzt haben wir Kunst!«

Maxi lachte. »Sei doch froh, da kannst du dich weiter ausruhen und musst nichts machen.«

»Ich hab mich in Deutsch genug ausgeruht«, sagte Aaron. »Sport wäre jetzt cool. Dann könnten wir weiter für das Turnier nächste Woche üben.«

»Ach, das kriegen wir locker hin«, widersprach Maxi.

Im Gegensatz zu seinem Freund, der es nicht einmal auf die Reihe bekam, eine Zeile mit einem geraden Strich zu markieren, freute er sich wirklich auf den Kunstunterricht.

»Und danach schreiben wir Geschichte!«

Maxi verdrehte die Augen. Wenn Aaron eines konnte, dann seine schlechte Laune weiterzuverbreiten.

»Aber davor haben wir noch Pause«, versuchte er, optimistisch zu bleiben.

»Jaa, trotzdem.«

Fünf Minuten später wurde die Tür zum Kunstraum von innen geöffnet und die Klasse strömte hinein. Kaum saßen alle, fing Herr Krimer pünktlich zum Stundenbeginn an, die Aufgabe für diesen Tag zu erklären. Während sich alle langsam und mit wenig Motivation auf den Weg machten, die vorgesehenen A4-Blätter vom Lehrertisch abzuholen, hatte sich Maxi dazu schon zwei der Schachfiguren geschnappt und angefangen, diese abzuzeichnen. Der Schwerpunkt der Stunde lag auf dem Spiel von Licht und Schatten, für Maxi keine große Schwierigkeit, und so hatte er schon nach wenigen Minuten einige Zeichnungen der Schachfiguren in unterschiedlichen Perspektiven auf seinem Blatt.

»Duu, Maxi?« Aaron sah ihn mit großen Augen bittend an.

Er seufzte. »Gib dein Blatt einfach her.«

»Danke! Du bist der Beste, weißt du das?«

»Schon klar.« Maxi verdrehte die Augen. Dieser Spruch kam jede Kunststunde.

»Und Leon will auch, dass du ihm seine Figuren malst«, sagte Aaron, ohne Anzeichen eines schlechten Gewissens.

»Lass mich raten, Emil kommt auch gleich an?« Er seufzte.

»Gut möglich?«

Verzweifelt schüttelte Maxi den Kopf. »So schwer ist das gar nicht!«

»Ja, das sagst du!«

Maxi reichte Aaron sein Blatt zurück.

»Danke!«, strahlte er.

Am Ende der Stunde hatte Maxi insgesamt zehn Blätter seiner Mitschüler mit Schachfiguren gefüllt und zwei weitere Seiten in dem geheimnisvollen Buch untersucht. Hier waren seine Vorgänger besonders fleißig gewesen, ihre Spuren zu hinterlassen. Kleine Liebestexte auf Italienisch waren zwischen den gedruckten Worten zu lesen, die Maxi heimlich mit dem Googletranslator übersetzen ließ. Die eine Ecke war herausgerissen, sodass leider nur noch der erste Teil der Texte vorhanden war. Das fand Maxi schade. Nur zu gern hätte er gewusst, wie der Autor dieses Textes hieß. Ein Fußabdruck war quer über eine Seite ohne Notizen zu sehen und er fand auch weitere Zeichnungen von Herzen und Sternen. Am oberen Rand entdeckte Maxi auf einer Seite Psalm 121,2-3 HFA-Übersetzung. Er runzelte die Stirn. Soweit er das sagen konnte, war das eine Bibelstelle. Aber was bedeutete HFA-Übersetzung? Und warum sollte man eine Bibelstelle in dieses Buch schreiben? Maxi zuckte mit den Schultern. Letztendlich konnte es ihm doch auch egal sein.

Die nächsten drei Seiten fehlten. Sie waren herausgerissen worden und nur die letzten restlichen Schnipsel der Blätter hingen am Buchrücken. Bevor Maxi jedoch anfangen konnte, diese mit seinem Bleistift schwarz zu färben, beendete Herr Krimer die Kunststunde und entließ die Klasse in die Pause. Schnell packte er seinen Stift und die Kunstblätter ein und griff nach dem kleinen Buch. Verwirrt runzelte Maxi die Stirn. Die Ecke eines Zettels ragte aus den Seiten heraus.

»Hast du mir da dein Kunstblatt reingesteckt?«, fragte er Aaron, der ungeduldig auf ihn wartete.

»Ne, wieso?«

Neugierig klappte Maxi das Buch wieder auf.

Es war keine der herausgerissenen Seiten oder gehörte sonst zu diesem Buch. Der Zettel war sorgfältig gefalten und ein dunkelrotes Wachssiegel hielt das Stück Papier zusammen. Insgesamt machte es auf Maxi seltsamerweise einen wichtigen Eindruck.

»Nun aber raus hier«, scheuchte Herr Krimer sie in die Pause.

»Los, komm jetzt«, drängte auch Aaron.

»Ja, okay.« Maxi schlug das Buch wieder zu.

Aber er nahm sich fest vor, sich diesen Zettel bei der nächstbesten Gelegenheit genauer anzusehen. Irgendwie wurde das Buch immer geheimnisvoller.

Wie jeden Tag gingen Maxi und Aaron zum Essen in die Cafeteria. Draußen war es dafür definitiv zu kalt. In dem Punkt waren sich alle Schüler einig und so herrschte auf den Gängen ein einziges Chaos. Manche hatten sich auch einfach mitten auf den Flur gesetzt und behinderten so alle anderen Leute, die vorbei wollten. Auch Maxi und Aaron hatten so ihre Probleme, bis zur Cafeteria zu gelangen. Schließlich schafften auch sie es und die beiden ließen sich erleichtert neben einer Gruppe Fünftklässler nieder, die sie gekonnt ignorierten. Während Aaron die von seiner Mutter geschmierten Brote hervorholte, sah sich Maxi lieber noch einmal seine Mitschriften von Geschichte an.

»Was ist das eigentlich für ein Buch, das du heute mit dir rumschleppst?«, fragte Aaron mit vollem Mund.

Maxi sah auf. »Ach, hab ich zu Hause rumliegen gesehen und dachte, so schlimm wirds nicht sein.«

Warum er seinen Freund anlog, konnte Maxi selbst nicht sagen. Aber irgendwie hatte er das Gefühl, dass nicht alle die Sache mit dem Dieb wissen mussten. Am Ende verboten seine Eltern es ihm noch, allein zum Training zu fahren!

»Aha«, machte Aaron bloß.

»Warum fragst du?«

»Nur so. Du und ein Buch, ist ziemlich ungewöhnlich«, sagte Aaron weiterhin skeptisch. Trotzdem war für ihn dieses Thema wohl schon abgehakt, denn er fragte nicht noch einmal nach.

»Ja, stimmt schon«, gab Maxi zu.

Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass sie noch fünf Minuten hatten, bevor die nächste Stunde begann.

»Wir sollten langsam los«, meinte er.

»Hmm...« Aaron nickte wenig überzeugt. »Ist gut. Lass mich wenigstens noch mein Brot zu Ende aufessen.«

»Gut, beeil dich.«

»Mach kein Stress«, nörgelte Aaron. »Wir haben doch noch einen Haufen Zeit.«

Doch er aß tatsächlich schneller und war binnen weniger Sekunden fertig.

»Wir können.«

Zusammen drängelten sie sich durch die Schülermassen zurück ins Hauptgebäude.

Ziemlich gelangweilt starrte Maxi an die Tafel. Es waren die letzten Minuten vor Schulschluss und ihr Französischlehrer schien es wirklich für nötig zu halten, sie selbst in den letzten Minuten vor dem Wochenende noch mit neuen Vokabeln belästigen zu müssen. Wenigstens waren es Weihnachtsvokabeln wie Schneemann oder Geschenke, die sie jedes Jahr durchnahmen und so keine Neuigkeit mehr für Maxi waren. Nur leider bestand sein Lehrer darauf, dass seine Schüler alle Vokabeln mitschrieben, und so konnte er sich nicht einmal mit dem Buch beschäftigen. Doch auch diese letzten Minuten vergingen und so läutete die Schulglocke sieben Minuten später das Wochenende ein, nach dem sich alle Schüler sehnten.

Das typische Gedränge begann wieder und bevor Maxi den Raum verlassen konnte, rief Aaron ihm hinterher: »Sei pünktlich beim Spiel!«

»Immer!«, versicherte Maxi.

Dann rissen ihn seine Klassenkameraden mit auf den Gang.

Das Spiel würde erst gegen 16 Uhr beginnen. So hatte er genug Zeit, um noch einmal zu sich nach Hause zu fahren, einen Tee zu trinken und dann ganz gemütlich mit seinen Sportsachen zur Halle zu fahren. An der Bushaltestelle stand er heute allein. Verwundert sah Maxi sich um. Normalerweise fuhren noch einige Schüler aus den anderen Klassen mit demselben Bus wie er. Nur heute war, bis auf einen älteren Mann auf der anderen Straßenseite, keiner mehr weit und breit zu sehen. Maxi sah auf die Uhr. Nein, der Bus sollte in fünf Minuten kommen. Er hatte ihn nicht verpasst. Doch auch nach fünfzehn Minuten war der Bus immer noch nicht da. Mit einem unguten Gefühl besah sich Maxi den Fahrplan am Halteschild.

»Echt jetzt?« Genervt stieß er die Luft aus.

Ein Zettel hing am Schild mit der Aufschrift 13-17 Uhr Busausfall wegen technischer Störungen. Da hatte er seine Antwort, warum er so ganz allein an der Haltestelle stand. Wenig motiviert lief Maxi los. Bis er bei sich zu Hause ankam, war es bestimmt schon so spät, dass er dann auch gleich wieder losmachen konnte. Nur wie wollte er zum Volleyball kommen, wenn der Bus so lange ausfiel? Maxi stöhnte auf.

»Schlimmer kanns ja nicht kommen«, murmelte er.

Wenn er bis nachher niemanden fand, der ihn hinbringen konnte, konnte er gleich absagen. Nun richtig schlecht gelaunt stapfte er weiter. Vielleicht konnte er seine Tante fragen, die nur zwei Straßen von ihm entfernt wohnte. Oder seine Nachbarn, die ihm und seinen Eltern immer wieder ihre Hilfe anboten, sollten sie diese benötigen. Doch erst einmal musste Maxi zu Hause ankommen, bevor er sich um dieses Problem kümmern konnte.

So in Gedanken ganz bei dem anstehenden Spiel und wie er dorthin kommen sollte, merkte er nicht, dass die Ampel schon auf Rot geschalten hatte. Erst das drängende Hupen eines anfahrenden Autos schreckte ihn aus diesen Überlegungen. Schnell eilte er auf die andere Straßenseite. Fast sofort vergrub er seine Hände wieder in den Jackentaschen. Ihm schien es, als sei es noch kälter als heute Morgen. Als Maxi schon dachte, seine Finger würden ihm abfrieren, kam er an der großen Kreuzung an. Hier in der Nähe wohnte Fabian, mit dem er um einige Ecken verwandt war. Jeden Samstag trafen sie sich bei ihm, um an ihrem nächsten Kunstprojekt, einem großen Gemälde einer weit entfernten Galaxie, weiterzuarbeiten.

Er überquerte die Kreuzung, wobei er diesmal auch daran dachte, nach Autos Ausschau zu halten, und bog nach links in eine Seitenstraße ab. Um diese Uhrzeit war es auf den Hauptstraßen immer so voll, dass Maxi für diesen Weg nur halb so lang brauchte. Jedenfalls wenn er mit dem Fahrrad fuhr. In den dicht verwinkelten Gassen dagegen waren fast keine Menschen unterwegs. Als Maxi das sah, erheiterte sich seine Laune. So hatte er zu Hause vielleicht doch noch fünf Minuten für sich, ehe er wieder losmusste. So richtig sicher fühlte er sich in diesen abgelegenen Straßen jedoch nicht und so beschleunigte Maxi seine Schritte. Der komische Typ von gestern würde ewig in seinen Erinnerungen bleiben.

Passend zu seinen düsteren Gedanken machte sich eine Gänsehaut auf seinen Armen breit. Unauffällig sah Maxi sich um. Mit einem Mal fühlte er sich beobachtet. »Was soll der Scheiß?«, flüsterte er. Doch richtig wohl wurde ihm nicht. Maxi hetzte weiter, die prüfenden Blicke einer Frau mit roter Handtasche ignorierend. Hinter der nächsten Ecke zwang er sich, stehen zu bleiben. Was war los mit ihm? Seit wann war er so paranoid? Maxi atmete tief durch. Es war alles gut. Er ging jetzt ganz entspannt nach Hause, machte sich einen Tee und kümmerte sich dann darum, wie er zum Spiel kam. Doch bevor er wieder loslaufen konnte, hörte er Schritte hinter sich.

Maxi brauchte sich nicht einmal umdrehen, um zu erkennen, wer hinter ihm stand. Dieser Geruch hatte sich in seinem Gehirn eingebrannt. Schweiß vermischt mit Rauch. Wie erstarrt blieb er stehen. Alles in ihm schrie, wegzurennen. Zu fliehen. Weg von diesem unheimlichen Mann. Aber er konnte nicht. Im nächsten Moment hatte der Dieb ihn an seinem Rucksack gepackt und nach hinten gezerrt. Maxi schrie auf. Er konnte nichts tun. Angst ließ ihn unbeweglich stehen bleiben. Seine Gedanken rasten. Schon hatte der Mann ihn umgedreht, sodass er stolperte, und mit dem Gesicht voran an die nächste Hauswand gedrückt wurde.

Er hörte, wie sein Rucksack aufgerissen wurde. Dann war er plötzlich um einiges leichter. Der Druck an seinem Rücken verschwand. Trotz aller Bedenken drehte er sich langsam um. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er zu dem Maskierten. Nur seine Augen waren zu sehen. Das Buch lag aufgeklappt in den Händen des Diebes. Der Zettel, den er im Kunstunterricht entdeckt hatte, lag zwischen den geöffneten Seiten. Mit einem Knall schlug der Mann das Buch wieder zu. Seine grauen Augen trafen die von Maxi. Ein kalter Schauer rann ihm über den Rücken. Der Dieb nickte ihm kurz zu. Dann drehte er sich langsam um und verschwand. Und das Buch mit ihm.

Emsen08

Emsen08




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