2010 | Big Sur Palace

»Ich weiß nicht, Liza. Bist du dir wirklich sicher?« Matthew sah zweifelnd an der bereits ziemlich verwitterten Mauer hinauf.

Dave nickte zustimmend und fügte hinzu: »Ich habe ein komisches Gefühl dabei. Vielleicht ist es besser, wenn wir das hier sein lassen.«

»Kommt schon, Leute«, sagte Liza genervt. »Erzählt mir nicht, dass ihr nach drei Stunden Fußmarsch jetzt plötzlich kalte Füße bekommt und alles abblasen wollt.«

Dave verzog das Gesicht. »Du musst aber gestehen, dass das hier alles andere als einladend aussieht.«

»Und ungefährlich«, murmelte Matthew leise vor sich hin. Aber Liza hatte ihn dennoch gehört.

Sie verdrehte die Augen. »Ihr seid echt Angsthasen. Wenn ihr keine Lust habt, geh ich halt allein rein.«

»Sind das auch wirklich die richtigen Koordinaten?«

»Ja! Das sind die Koordinaten, die auf der Rückseite des Fotos gestanden haben.«

»Das Foto, das du in diesem abgegriffen, alten Notizbuch gefunden hast? Wo hast du das noch mal her?«

»Auf dem Flohmarkt in Monterey entdeckt. Tut das jetzt irgendwas zu Sache?«

»Nein«, murmelte Dave, »ich wollte nur Zeit schinden. Na gut, du wirst dich sowieso nicht aufhalten lassen. Bringen wir es schnell hinter uns und hoffen, dass uns nicht die Decke auf den Kopf fällt.«

Liza atmete erleichtert auf. Endlich! Matthew brummte nur etwas, das sie einfach ignorierte. Sie zog die Riemen ihres Rucksacks über die Schultern und setzte sich an die Spitze der kleinen Gruppe. Sie spürte, wie Aufregung und Euphorie durch ihre Adern strömten. Wie immer, wenn sie zu einem neuen Abenteuer aufbrachen.

Schon als sie dieses kleine, unscheinbare Büchlein auf dem Tisch hatte liegen sehen, hatte sie ein Kribbeln erfasst, dass sie sich nicht hatte erklären können. Es war, als würde das Buch eine magische Anziehungskraft auf sie ausüben. Ohne zu Zögern oder den Preis zu verhandeln, hatte sie es gekauft und sich erst im Anschluss mit ihrem Neuerwerb auseinandergesetzt. Es handelte sich um ein nicht sonderlich schönes, dickliches Notizbuch mit einem abgewetzten Ledereinband und einer langen Schnur, mit der das Buch zugebunden werden konnte. Viele der Seiten waren beschrieben oder besser gesagt bekritzelt, denn lesen konnte sie kaum, was da stand. Vermutlich handelte es sich noch nicht einmal um Englisch. Während sie darin herumgeblättert hatte, war ihr ein Foto in die Hände gefallen. Das Foto eines riesigen Gebäudes, mit drei oder vier Etagen und geschwungenen Dächern, die ein wenig an asiatische Architektur erinnerten. Auf der Rückseite hatte nichts weiter gestanden als ein Name und eine Zahlenkombination. Big Sur Palace. Damit hatte Liza nichts anfangen können. Mit der Zahlenkombination schon eher. Sie hatte sofort erkannt, dass es sich dabei um Koordinaten handelte. Und als sie dann auch noch feststellte, dass diese sie an einen Ort nicht weit ihrer Heimatstadt führten, hatte sie das Jagdfieber endgültig gepackt.

Ihre beiden besten Freunde für die Wanderung zu gewinnen, war ein Kinderspiel gewesen. Allerdings musste sie zugeben, dass sie nicht ganz ehrlich gewesen war, was das Ziel der Wanderung anging. Beide - vor allem Matthew - hätten sie auf jeden Fall vorher davon abzubringen versucht.

Aber jetzt waren sie hier und Liza freute sich auf die Gelegenheit, das verlassene Gebäude zu erkunden und ein paar gute Fotos zu machen.

Allerdings hatte Dave tatsächlich Recht. Hier sah es alles andere als einladend aus. Die Fassade war verwittert, teilweise von Pflanzen überwuchert und von der einstigen Farbe war längst nichts mehr zu sehen. Die Fenster waren nichts als leere, dunkle Höhlen. Soweit sie es bisher gesehen hatte, waren alle Scheiben samt Rahmen verschwunden. Das Gleiche galt für die Türen.

Ehrfürchtig schweigend betraten sie das Gebäude durch eine Öffnung, die vielleicht einmal ein Nebeneingang gewesen war. Sie folgten einem dunklen Flur, vorbei an weiteren Türöffnungen ohne Rahmen, bis sie eine Halle erreichten. Das Herzstück des Gebäudes.

Liza stieg über Geröll und Schutt, das den gesamten Boden bedeckte und stoppte erst, als sie in der Mitte der Halle stand. Fassungslos und fasziniert zugleich drehte sie sich um die eigene Achse. Nicht nur die Fenster- und Türrahmen waren verschwunden, sondern die gesamte Einrichtung. Als wäre ein Sturm durch das Gebäude gefegt und hätte alles mit sich gerissen. Die Atmosphäre war bedrückend, das musste sie sich tatsächlich eingestehen. Feucht, kühl, dunkel und irgendwie unangenehm. Alles Schöne – die Sonnenstrahlen, die Natur, das Leben – schien nach draußen verbannt worden zu sein. Zurückgeblieben war nur der kalte Hauch der Vergangenheit.

Dank eines riesigen Loches im Dach, wo vielleicht einmal eine Glaskuppel gewesen war, war es in dieser Halle ausreichend hell.

»Das war ein Hotel, oder?«, murmelte Matthew, als er neben sie trat und sich ebenfalls umsah. »Das scheint dann wohl die Lobby gewesen zu sein.«

Liza zuckte mit den Achseln. »Der Name Big Sur Palace lässt darauf schließen.«

»Palace?«, wiederholte Dave spöttisch. »Klingt, als hätte die Bruchbude mehr als einen Stern gehabt.«

»Wartet. Ich hole schnell meine Kamera raus.« Liza ließ ihren Rucksack von den Schultern gleiten und suchte sich einen Platz auf einem der Trümmerteile, die überall verstreut lagen. Während sie ihre Ausrüstung auspackte, nutzten die Jungs die Gelegenheit für eine kleine Stärkung. Dave gesellte sich zu ihr, packte Snacks und Trinkflasche aus. Matthew setzte nach einer kurzen Trinkpause die Erkundung fort.

Nachdem sie das richtige Objektiv ausgewählt hatte, überprüfte Liza die Einstellungen ihrer Kamera und machte ein paar Probeaufnahmen. Zufrieden sah sie sich das Ergebnis an. Das Licht war schlecht, aber das lichtstarke Objektiv, dass sie sich erst vor kurzem gegönnt hatte, leistete gute Arbeit.

Während sie weitere Probeaufnahmen machte, blieb sie plötzlich an Matthew hängen. Als hätte er etwas gespürt, hob er den Kopf und sah sie direkt durch das Objektiv an. Ein sanftes Lächeln überzog sein Gesicht und ließ seine braunen Augen, die sie immer an dunkle Schokolade erinnerten, aufleuchten. Dann wandte er sich ab und ging weiter.

Währenddessen hatte ihr Herz einen Zahn zugelegt und ein warmes Gefühl hatte sich in ihrer Magengegend ausgebreitet. Liza atmete unauffällig durch und war froh, dass er nichts davon bemerkte. Matthew war ihr bester Freund seit Kindertagen. Doch in den letzten Wochen, vielleicht sogar Monaten, hatte sich ein ganz anderes Gefühl eingeschlichen. Immer dann, wenn er in ihrer Nähe war, wurden ihre Finger feucht vor Schweiß und ihr Puls begann zu rasen. Das war etwas, worüber sie nicht gerne nachdachte, denn es durfte einfach nicht sein.

Plötzlich schnippten ein paar Finger vor ihrer Nase herum.

»Hey, genug geschmachtet?«

Liza zuckte zusammen und warf Dave einen bitterbösen Blick zu.

»Blödmann!«, zischte sie ihm zu.

Das amüsierte Funkeln in seinen Augen war nicht zu übersehen. Im Gegensatz zu Matthew empfand sie für Dave nach all den Jahren ihrer Freundschaft immer noch das Gleiche: Er war wie ein nerviger kleiner Bruder, der keine Gelegenheit ausließ, sie zu ärgern. Zu ihrem großen Bedauern schien er genau zu wissen, was zwischen ihr und Matthew vor sich ging.

»Los, lass uns endlich loslegen. Bevor Matt noch irgendwo verschwindet.« Er schulterte seinen Rucksack und wartete bis auch sie so weit war. Gemeinsam verließen sie die Halle und betraten den angrenzenden Gang.

Schweigend gingen sie durch die leeren Gänge. Mit jedem Schritt schien sich die bedrückende Atmosphäre mehr auf ihre Stimmung zu legen. Lizas anfängliche Euphorie war verflogen, und sie verspürte immer mehr den Wunsch, wieder ins Licht zu treten. Die Taschenlampen, die Matthew und Dave inzwischen ausgepackt hatten, halfen ihr nicht. Sie fragte sich, warum sie sich hier so unwohl fühlte. Es war nicht das erste verlassene Gebäude, das sie erkundeten. Und abgesehen von dem verwahrlosten Zustand und dem völligen Fehlen von Möbeln unterschied es sich nicht von den anderen. Als Dave auf einen kleinen Stein trat, der mit einem leisen Knacken zerbrach und das Echo von den Wänden widerhallte, wusste sie plötzlich, was sie so störte.

Es war zu still.

Außer den Geräuschen, die sie selbst verursachen, hörte man nichts. Keine Vögel, kein Rascheln anderer Tiere. Als würde sich kein einziges Lebewesen mehr in dieses Gebäude trauen.

Als ihr das bewusst wurde, konnte Liza den Schauer nicht mehr unterdrücken. Die Worte, ob sie nicht lieber gehen wollten, lagen ihr bereits auf der Zunge, aber sie hielt sie zurück. Nein, das konnte sie nicht bringen. Dave würde es ihr ewig vorhalten, wenn sie jetzt kneifen würde. Außerdem war die Neugier immer noch größer als die Angst.

Über eine dunkle Treppe gingen sie ein Stockwerk höher und entdeckten einen weiteren großen Raum, der an einer Seite mit mehreren Säulen und Rundbögen verziert war. Eine breite Öffnung, die sich über die gesamte Länge des Raumes erstreckt, führt auf eine Art Terrasse oder Balkon. Vielleicht war dies einmal ein Restaurant gewesen. Aber auch in diesem Raum war alles nackt und nur noch die Mauern des Gebäudes vorhanden. Der bröckelnde Putz ließ keinerlei Hinweise mehr darauf, welche Farbe die Wände einmal gehabt haben mochten.

An einer kurzen Seite entdeckte Liza eine Öffnung, durch die ebenfalls Sonnenlicht einfiel, allerdings ziemlich weit oben. Das helle Licht wirkte wie ein Magnet und weckte ihre Neugier. Liza ging hinüber und stellte sich auf die Zehenspitzen, aber sie war viel zu klein.

»Brauchst du Hilfe, Zwerg? Soll ich dich hochheben?«, bot ihr eine warme, freundliche Stimme an.

»Zwerg?« Liza fuhr herum und warf Matthew einen vernichtenden Blick zu, den er mit einem breiten Grinsen beantwortete. »Kann ja nicht jeder so ein Koloss sein, wie du!«

Tatsächlich hatte er mit seiner 1,90-Basketballer-Statur keinerlei Probleme, das Loch zu erreichen. Neugierig warf er einen Blick hindurch, zuckte dann aber mit den Schultern.

»Gibt eh nichts zu sehen. Das war vermutlich die Belüftungsanlage.«

Sie verließen die Etage und stiegen die Treppen hinauf in den nächste. Auch wenn die Zerstörungen hier nicht weniger waren, so sah man doch sofort, dass sie nun bei den Gästezimmern angekommen waren. Die Zimmer selbst waren nichts weiter als kahle, rechteckige Räume, die mangels Fenster nahtlos in einen kleinen Balkon übergingen. Liza trat näher an die gemauerte Brüstung heran. Die Aussicht hätte fantastisch sein können, wäre der Himmel nicht wolkenverhangen. Hatte nicht gerade noch die Sonne geschienen? Einige Nebelschwaden zogen durch den Wald, der sich unter dem Fenster erstreckte und verliehen dem Ausblick etwas Gespenstisches. Im Grunde passte das Wetter perfekt zur Stimmung in diesem Gebäude.

»Was meint ihr«, begann Dave, während er seinen Blick durch den Raum wandern ließ, »warum wissen wir nichts davon, dass hier direkt in der Nachbarschaft so ein Klotz steht. Ich meine, wie viele Zimmer muss das Ding haben? 50? Sowas muss doch bekannt gewesen sein?«

»Ich hab ein bisschen versucht zu recherchieren«, erzählt Liza. »Aber tatsächlich habe ich kaum etwas gefunden. In dem Notizbuch sind auf der Seite, in der das Foto gelegen hat, lediglich einige Eckdaten notiert.«

»Hast du das Buch dabei?«, fragte Matthew.

»Natürlich.« Sie legte sich den Riemen ihrer Kamera um den Hals, um die Hände frei zu haben. Dann griff sie hinter sich und zog nach einigem Suchen das kleine Notizbuch aus dem Fach im Deckel ihres Rucksacks.

Matthew nahm ihr das Buch aus der Hand und begann darin zu blättern. Er stand so nah, dass ihr Puls sich sofort beschleunigte. Als er die Seite erreicht hatte, in der das Foto gelegen hatte, stoppte Liza ihn.

»Hier ist es.«

Konzentriert las er sich die Notizen durch. Auf seiner Stirn bildete sich eine tiefe Falte.

»Eröffnet im April 1990. Wieder geschlossen im November 1990«, murmelte er.

Dave pfiff durch die Zähne. »Wow, ganze 8 Monate?«

Matthew schnaubte. »Wundert dich das? Wir sind mitten im Nichts. Wie sollen denn hier Gäste herkommen?«

Unzufrieden schüttelte Dave den Kopf. »Ja, zugegeben, der Standort ist miserabel gewählt. Aber das Ding steht nun mal hier. Warum haben wir noch nie etwas von einem verlassenen Luxushotel in der unmittelbaren Nachbarschaft gehört?« Nachdenklich durchschritt er den Raum. »Was ist, wenn sich hier eine Tragödie abgespielt hat und die Überlebenden sich geschworen haben, alle Zeugnisse zu vernichten, damit das Hotel in Vergessenheit gerät?«

»Wie soll das denn funktionieren?«, warf Matthew ein. »Das Hotel muss den Behörden bekannt sein und es gibt Lieferanten. Wie willst du das denn bewerkstelligen?«

Dave zuckte nur mit den Achseln. »Irgendwas davon war wohl erfolgreich.«

»Was war es für eine Tragödie?«, fragte Liza, nun neugierig geworden.

»Etwas Schreckliches. Vielleicht war dieses Hotel ein geheimer Treffpunkt für Okkultisten und schwarze Magier. An diesem abgelegenen Ort konnten sie ihre düsteren Rituale und Experimente durchführen, ohne entdeckt zu werden.«

Matthew lachte auf, aber Dave fuhr mit tiefer Stimme fort. »Eines Tages jedoch gerieten die Experimente außer Kontrolle und eine gewaltige dunkle Energie wurde freigesetzt. Sie durchdrang die Mauern des Hotels und wandelte es in einen Ort des Grauens. Die Mitglieder der Gesellschaft wurden von der Dunkelheit verschlungen und tauchten nie wieder auf.«

Liza gab einen unzufriedenen Laut von sich und schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht an schwarze Magie und so einen Quatsch.«

»Okay, dann«, Dave tippte sich mit dem Zeigefinger ans Kinn und überlegte angestrengt, »ereigneten sich kurz nach der Eröffnung des Hotels eine Reihe mysteriöser Morde an weiblichen Gästen, die bis heute ungeklärt sind. Die Frauen wurden brutal ermordet und es wird gemunkelt, dass die Seelen der Opfer das Hotel herumspuken. Seitdem hat es niemand mehr gewagt, das Hotel zu betreten. Diejenigen, die sich dennoch hierher verirren, berichten von schrecklichen Visionen und unheimlichen Geräuschen.« Wieder hatte er seine Stimme gesenkt und die letzten Worte fast geflüstert.

»Warum muss es eigentlich immer ein weibliches Opfer sein?«, fragte Liza unbeeindruckt.

Dave seufzte tief und breitete die Arme aus. »Es steht dir frei, dir deine eigene Tragödie auszudenken.«

»Ich bestehe auf Gleichberechtigung!«

»Also schön, dann war das Geschlecht der Opfer egal. Spuken tun sie trotzdem.«

»Ihr spinnt doch!«, lachte Matthew.

Ein lautes Krachen ließ sie alle zusammenzucken und zur Tür herumfahren. Das Echo hallte noch Augenblicke später durch das Gebäude.

»Was war das?«, raunte Matthew.

»Das war bestimmt nur der Wind, der etwas umgestoßen hat«, flüsterte Liza.

»Oder ein Geist«, raunte eine tiefer Stimme in ihr Ohr.

Liza erschrak und schrie auf. Sie drehte sich so schnell, dass sie stolperte und mit Matthew zusammenstieß. Schützend legten sich seine Arme um sie und verhinderten, dass sie fiel.

»Was zur Hölle?«

»Ups.« Ein breites Grinsen legte sich über Daves Gesicht und ließ seine blauen Augen funkeln. »Sorry!«

»Bist du nicht zu alt dafür?«

»Niemals.« Er zwinkerte ihr zu. Sichtlich zufrieden verließ er leise pfeifend den Raum.

Liza spürte Matthews warme Hände durch den Stoff ihrer leichten Jacke. »Irgendwann schubse ich ihn doch nochmal die Klippen runter.«

Matthews Husten klang mehr eher nach einem unterdrückten Lachen.

»Ist alles okay?«, fragte er.

Sie nickte. Als er sie losließ, vermisste sie seine Nähe sofort.

»Komm, lass uns gehen.«

Er half ihr, das Notizbuch wieder zu verstauen und sie verließen das ehemalige Hotelzimmer.

Ohne sich abgesprochen zu haben, wandten sie sich in Richtung der großen Wendeltreppe, die sie zurück in die Lobby führte, und stiegen die verwitterten Treppen nach unten.

Im ersten Stock blieb Dave, der vorgegangen war, plötzlich stehen und legte einen Finger auf seine Lippen.

»Da ist etwas!«, flüsterte er.

Angespannt lauschten sie. Und tatsächlich vernahm Liza nach wenigen Augenblicken ein leises Geräusch. Als würden kleine Steine gegeneinander prallen oder etwas über den Boden schaben.

»Schritte«, identifizierte Matthew die Geräusche.

»Also keine Geister!«, stellte Liza mit einem scharfen Blick in Daves Richtung fest. »Geister können nicht laufen!«

»Hast du schonmal einen getroffen?«

Mit einem leisen Zischen und einer eindeutigen Geste unterbracht Matthew die Kabbelei.

»Was machen wir jetzt?«, fragte er. »Und wer ist das?«

»Vielleicht noch jemand, der sich das Hotel ansehen will?«, spekulierte Liza.

»Vielleicht ist der Mörder zurückgekehrt?«, warf Dave ein, aber inzwischen hatte der Witz seine Wirkung verloren. Ihnen allen war dieser geheimnisvolle Unbekannte alles andere als geheuer.

Plötzlich wirbelte Liza herum und lauschte. Aus dem Flur direkt hinter ihnen drangen gleichmäßige Geräusche zu ihnen herüber. Es klang wie das Echo der Schritte aus dem Erdgeschoss. »Da ist noch jemand!«, hauchte sie. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Schnell drückten sie sich tiefer in die Schatten des Treppenhauses und lauschten. Angst breitete sich immer weiter in ihr aus. Ihre Hände begannen zu zittern, aber sie versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Jetzt in Panik auszubrechen, wäre mehr als kontraproduktiv. Aber mit jeder Sekunde wurde die Anspannung schwerer zu ertragen.

»Wir sind eingekesselt«, stellte Matthew mit heiserer Stimme fest.

»Aber wir müssen hier raus!«, flüsterte Liza lautlos.

Inzwischen wurden die Schritte aus dem Flur hinter ihnen ganz langsam immer lauter. Wer auch immer das war, er kam langsam und gemächlich in ihre Richtung.

»Vielleicht fragen wir einfach mal, wer es ist?«, schlug Dave vor. Das leichte Zittern in seiner Stimme verriet jedoch, dass er selbst nicht wirklich überzeugt war von seinem Vorschlag.

»Einfach fragen? Das ist nicht dein Ernst!«

»Anderer Vorschlag«, raunt Matthew. »Es ist nicht mehr weit bis zum Eingang, durch den wir reingekommen sind. Wir gehen jetzt langsam diese Treppe bis ganz nach unten und dann nutzen wir das Überraschungsmoment und rennen auf Drei so schnell wir können.«

»Die Idee ist jetzt auch nicht besser«, murrte Dave.

Matthew hob eine Augenbraue und setzte gerade zu einer Erwiderung an, als Liza die Hand hob.

»Können wir jetzt bitte aufhören, zu diskutieren, und irgendwas machen?«

Matthew nickte entschlossen und machte dann eine einladende Handbewegung. »Ihr geht vor, ich folge.«

So leise es auf dem überall herumliegenden Schotter möglich war, schlichen sie die Treppe weiter herunter. Stufe für Stufe. Inzwischen waren die Geräusche aus dem Erdgeschoss auch so nah, dass man sie eindeutig als Schritte identifizieren konnte.

Am unteren Rand der Treppe, verborgen in den Schatten, hielten die drei Freunde an. Die Lobby breitete sich vor ihnen aus und wirkte weiterhin vollkommen verlassen. Wären da nicht die Schritte gewesen.

Die Freunde wechselten einen letzten Blick miteinander. Dann hob Matthew die Hand und begann lautlos einen Countdown von drei abwärtszuzählen.

Drei.

Zwei.

Eins.

»Los!«

Liza sprintete als erste los, dicht gefolgt von ihren beiden Freunden. Sie hatten die halbe Halle durchquert, als plötzlich eine laute Männerstimme hinter ihnen ertönte.

»Hey! Stehen bleiben! Ihr habt hier nichts zu suchen! Das ist Privatgelände. Verschwindet, sonst informiere ich den Sheriff!«

Ohne langsamer zu werden oder noch einmal zurückzublicken, rannten sie hinaus und verschwanden im Wald.

↼⇁

Eine Woche später stand Liza vor einer alten Telefonzelle, die zu einem öffentlichen Bücherschrank umgebaut worden war. Das kleine, abgegriffene Notizbuch hielt sie in der Hand. Ein letztes Mal schaute sie auf die aufgeschlagene Seite, auf der zwei Bilder nebeneinander geklebt waren. Auf der einen Seite das Bild, das ihr in die Hände gefallen war. Daneben ihr eigenes Foto, das die ehemalige Lobby mit der zerstörten Wendeltreppe zeigte.

Sie musste unwillkürlich schmunzeln, als sie die Fotos betrachtete. Die Atmosphäre im Hotel war zweifellos unheimlich gewesen, aber vielleicht hatte sie ihre Fantasie etwas zu sehr angeregt. Es war ihr immer noch sehr peinlich, wenn sie daran dachte, wie sie alle drei gerannt waren. Als wäre der Teufel persönlich hinter ihnen her. Oder Daves imaginärer Mörder. Aber am Ende war es nur ein kleines Abenteuer gewesen, das sich als völlig harmlos herausgestellt hatte. Die beiden Wachmänner mussten sich sonst was gedacht haben. Mit einem letzten Blick klappte sie das Buch zu, wickelte die Schnur darum und legte es in die alte Telefonzelle. Welche Abenteuer würde das kleine Notizbuch wohl als Nächstes erleben? Mit einem letzten Blick schloss sie die Tür und wandte sich endgültig ab.

Stefanie Dallesheim

SteffiDa




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