1961 | Eines Tages vielleicht
Vorwort: Die folgende Geschichte ist in einem historischen Rahmen eingebettet. Allerdings habe ich einige historische Belange und Fakten so abändern müssen, dass ein paar historische Ungenauigkeiten entstanden sind. Wenn man sich genau mit dem zweiten Weltkrieg und dem geteilten Berlin der Nachkriegszeit beschäftigt, wird man schnell merken, dass manches eben doch anders war, als es hier dargestellt wird. Dies bitte ich zu beachten! Die Kurzgeschichte dient alleine der Unterhaltung und erhebt keinerlei Ansprüche auf eine historische Korrektheit!
Berlin, Sommer.
Es war ein lauer Sommerabend. Die Abendsonne tauchte die Stadt in ein rötliches Licht, das an die Flammen eines brennenden Kamins erinnerte. Die Stadt mit all ihren Narben sah in diesem Licht geradezu einladend aus. Ins rechte Licht gerückt, konnte eben alles eine Schönheit sein.
An diesem Abend war die Rote Lola, eine recht heruntergekommene Kneipe in Kreuzberg, gut besucht. Vorwiegend Männer verprassten hier ihren hart verdienten Arbeitslohn. Die wenigen Frauen, die sich hier in dieser düsteren Spelunke aufhielten, genossen sichtlich die Aufmerksamkeit, die sie von den Männern erhielten. Die Kneipenbesucher waren allesamt unterschiedlich, aber eines hatten sie gemeinsam: Sie waren alle hier, um dem Alltag zu entfliehen. Es wurde angeregt diskutiert, geflirtet und manchmal auch gestritten - natürlich alles bei einem entsprechenden Lärmpegel, wie man ihn auch nicht anders in der Roten Lola kannte.
Inmitten des bunten Treibens saßen zwei Männer an der Bar. Der eine, Uwe, war ein älter Mann mit kurzen, grauen Haaren und trug einen schwarzen Anzug. Er hatte ein freundliches Lächeln auf den Lippen und trank ein Bier. Der andere, Heinz, war ein junger Mann mit kurzen, blonden Haaren, gekleidet in eine hellblaue Jeansjacke. Die beiden Kneipenbesucher unterhielten sich schon eine ganze Weile.
»Ich muss sagen, das ist wirklich eine gute Geschäftsidee! Das ist genau das, was die Welt braucht! Du solltest dir aber besser erst das Patent sichern, ehe du jemanden davon erzählst«, sagte Uwe, dieser schlanke, ältere Mann, der erstaunlich gut zuhören konnte.
»Findest du wirklich?«, antwortete Heinz euphorisch, »Ich habe mich da schon mal informiert, aber ich habe einfach nicht genug Kohle! Weder für das Patent, noch das Startkapital für die Firmengründung und die verdammte Bank will mir auch nichts leihen. Es ist wirklich zum Mäusemelken!« Er ballte seine rechte Hand zur Faust und hämmerte fest auf den Tresen, um seinen Ärger Ausdruck zu verleihen. Dafür erntete er einen bösen Blick vom Wirt, der nur wenige Meter von ihm entfernt stand und gerade ein paar Bier für seine Gäste zapfte.
»Na, dann musst du eben welches auftreiben. Ich sag ja immer: Für seine Träume muss man kämpfen! Ich habe es selbst erlebt, dass man alles erreichen kann, wenn man nur hart genug dafür arbeitet. Ich wünsche dir auf jeden Fall alles erdenklich Gute!« Uwe setze sein Bierglas, welches kaum mehr gefüllt war, an die Lippen und goss sich den letzten Rest des goldenen Gerstensaftes in die Kehle. Dann stellte er das leere Glas ab, kramte ein paar Markstücke aus seiner Jackentasche und legte sie vor sich auf den Tisch. »Das stimmt so«, murmelte er in Richtung des Kneipenwirts, der sich freudestrahlend bedankte. Dann stand Uwe von seinem Barhocker auf und verabschiedete sich freundlich von Heinz. Leicht torkelnd verließ er die Rote Lola und ließ seine Kneipenbekanntschaft alleine zurück.
Vielleicht hatte ihr Vater ja recht. Heinz war zwar kreativ und hatte stets gute Ideen, dennoch war er einfach chronisch erfolglos.
Er spülte seinen Frust mit einem kräftigen Schluck seines Bieres herunter. Uwes aufmunternde Worte hatten zwar ein bisschen geholfen, allerdings nicht genug, denn er fühlte sich noch immer miserabel. Er hatte in seinem jungen Leben schon etliche Niederlagen einstecken müssen - die heutige war jedoch die bislang heftigste gewesen!
Er hatte endlich Nägel mit Köpfen machen wollen und hatte Annabell, seine absolute Traumfrau, welcher er schon seit einer Ewigkeit hinterherrannte, bei ihr Zuhause aufgesucht. Blöd nur, dass ihr Alter ebenfalls dagewesen war, denn der hatte seiner Tochter schon mehrfach den Kontakt zu ihm verboten. Er sei nicht gut genug für sie, hatte er ihm ganz unverhohlen mitgeteilt. Unambitioniert, erfolglos und ein Einfaltspinsel! Keine gute Partie, kein Mann, der eine Familie ernähren könnte und erst recht kein Mann für seine Annabell. Diese Worte schwirrten noch immer durch seinen Kopf und verletzten ihn, als seien es rasiermesserscharfe Dolche.
Er wäre viel lieber mehr wie sein Bruder Günther, denn der hatte die sonderbare Gabe, dass alles zu Gold wurde, was er anfasste. Er hatte ein eigenes Unternehmen gegründet, das innerhalb kürzester Zeit zu einem der erfolgreichsten in der Branche geworden war. Günther war das genaue Gegenteil zu Heinz, der stets mit allem scheiterte. Doch er wollte kämpfen, er wollte es zu etwas bringen und genauso erfolgreich sein wie Günther - eines Tages vielleicht!
Seufzend stellte er sein Glas ab und blickte wehmütig auf den Barhocker neben seinem, auf dem eben noch der trostspendende Uwe gesessen hatte. Er hätte sich gerne länger mit ihm unterhalten, denn seine Worte waren Balsam für seine gequälte Seele gewesen.
Plötzlich erkannte Heinz ein kleines Buch, das auf dem Barhocker lag. Uwe musste es dort wohl vergessen haben. Es war ziemlich dick, hatte einen ledernen Einband, auf dem jedoch kein Titel stand, und wirkte sehr abgegriffen. Schnell schnappte er es sich Büchlein, schritt zur Kneipentür und steckte seinen Kopf hinaus auf die Straße.
»Ey Uwe! Du hast dein Buch liegen lassen!«, rief Heinz auf draußen und blickte sich nach beiden Seiten um, aber Uwe war nirgends mehr zu sehen. Er musste wohl schon zu weit weg sein. Also ging er zurück zur Bar, nahm wieder Platz auf dem Hocker, bestellte noch ein weiteres Bier und warf einen Blick in Uwes Buch. Vielleicht hat Uwe ja seine Anschrift hineingeschrieben, dachte er sich, doch bereits ein Blick auf die erste, leicht vergilbte Seite widerlegte diese Vermutung.
Was war das überhaupt für ein Buch? Ein Notizbuch? Ein Adressbuch? Ein Tagebuch? Eifrig blätterte Heinz in dem kleinen Büchlein umher und überflog Texte, doch nichts davon war wirklich interessant für ihn. Er wunderte sich, dass Uwe so einen Schund las und wieso er es überhaupt mit in die Rote Lola gebracht hatte. Als er einen hastigen Schluck von seinem neuen Bier nahm, verschluckte er sich und spuckte versehentlich ein wenig seines Getränks in das Buch.
Oh Mist!, dachte er sich. Na ja, sieht ja ohnehin schon etwas mitgenommen aus.
Heinz stellte sein Trinkgefäß vorsichtig ab, griff nach einer Papierserviette und versuchte, die Seiten zu trocknen. Zerknirscht blickte er auf das Resultat seines Rettungsversuchs: Die Tinte des Geschriebenen war leicht verlaufen und das Papier wellte sich. Dann blätterte er weiter, um zu sehen, ob noch weitere Seiten in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Dabei erkannte er, dass auf den folgenden Seiten neben dem Text des Buches mit einer anderen Handschrift etwas geschrieben stand. Jemand hatte sämtliche freie Stellen dazu genutzt, um sich hier zu verewigen. Angestrengt versuchte er, die krakelige Schrift zu entziffern. Und tatsächlich gelang es ihm, folgende Notiz zu erkennen:
St. Joseph Krankenhaus Berlin Tempelhof 1956,
ich fühle mich so schwach und ich bin mir sicher, dass mich dieser räudige Husten bald endgültig dahingerafft hat. Es ist tragisch, dass mein Leben bald enden muss, doch was nutzt es schon in Selbstmitleid zu versinken? Mein letztes Geheimnis, möchte ich nicht mit ins Grab nehmen. Auch wenn es mir selbst nichts mehr nützt, so will ich, dass jemand anderes die Chance auf das Leben hat, welches das Schicksal mir verwehrt hat.
Nur ich allein weiß, wo der Schatz der Familie Goldstein versteckt ist, denn ich habe ihn kurz vor Ende des Kriegs gehoben. Diese cleveren Juden hatten ihre wertvollsten Besitztümer kurz vor ihrer Deportation noch versteckt, damit er nicht von den Nazis in Beschlag genommen werden konnte. Ich habe den Vater dabei beobachten können, wie er all die Vermögenswerte in ihrem Familiengrab vergrub. Er fühlte sich wohl unbeobachtet und dachte, hier seien sie gut versteckt. Er meinte wohl, sie wieder ausgraben zu können, wenn er zurückkäme. Aber er kam nicht wieder. Keiner der Goldsteins kam je wieder zurück. Ich hatte leider keine Gelegenheit, mir den Schatz zu schnappen, da ich bald darauf einberufen wurde und in der Wehrmacht dienen musste.
1945 wurde die Lage dann aussichtslos, als die Rote Armee immer weiter vorrückte. Wir wurden gezwungen, die Verteidigungsstellungen zu halten, aber das war Irrsinn. Blinder Gehorsam kostete meinen Kameraden ihre Leben! Ich bin nicht sonderlich stolz darauf, aber ich habe die turbulenten Kriegswirren genutzt, um zu desertieren. Was nutzt einem Ehre, wenn man tot ist?
Es war nicht einfach, aber ich konnte erfolgreich von der Front entkommen. Ich schlich mich nachts durch die feindlichen Linien und versteckte mich in den Wäldern. Nach Tagen der Flucht vor den Russen und den Feldjägern, die verbissen nach Fahnenflüchtigen fahndeten, erreichte ich endlich die Heimat. Ich war erschöpft und hungrig, aber ich war auch erleichtert, es lebend geschafft zu haben. Auf einem Hof stahl ich ein Pferdegespann und machte mich auf zum Friedhof. Der Schatz der Goldsteins lag noch immer im Familiengrab und ich konnte ihn im Schutze der Nacht bergen. Als ich den Schatz aufgeladen hatte und bereits auf dem Weg war, hörte ich die Sowjets aus der Ferne einen Vorstoß wagen. Ich überlegte, ob ich fliehen sollte, aber mit dem schweren Goldschatz hätte es dieser Gaul niemals rechtzeitig fortgeschafft. Wenn diese roten Hunde mich mit dem Schatz eingeholt hätten, dann hätten sie ihn ganz sicher an sich gerissen, also entschied ich, ihn samt dem Wagen im nächsten See zu versenken. Mit dem Pferd machte ich mich dann davon, aber ich ritt den Russen direkt in die Arme. Die Feinde bekamen irgendwie raus, dass ich ein Soldat war, und steckten mich in Kriegsgefangenschaft.
Mit dem Zug wurde ich irgendwo nach Sibirien verfrachtet, wo ich in einem Arbeitslager bei Wasser und Brot in einem Bergwerk schuften musste. Die Umstände im Lager waren elend, doch die Erinnerung an den Schatz, der in der Heimat auf mich wartete, ließ mich durchhalten. Ganze neun verdammte Jahre!
Als ich zurückkam, war ich nur noch Haut und Knochen und dieser Husten fingen an, mich zu plagen. In dieser Verfassung war ich leider nicht mehr kräftig genug, um den Schatz aus dem See heben zu können, doch ich hatte noch die Hoffnung zu genesen - eines Tages vielleicht.
Heute weiß ich, dass ich nicht mehr genesen werde. Der Reichtum der Goldsteins bleibt mir verwehrt. Vielleicht gelingt es aber jemanden, den Schatz zu finden - wenn er denn überhaupt noch da ist.
Gezeichnet V.G.
Was um alles in der Welt hatte er da gerade gelesen? Ein Schatz? Gab es sowas wirklich, oder hat sich da nur jemand etwas ausgedacht? Kannte Uwe den Standort des Schatzes? War er etwa sogar auf der Suche danach?
Heinz wusste das eben Gelesene erst nicht so recht einzuordnen, doch nach einigen weiteren Gläsern Bier beschloss er, schon am nächsten Tag in der Bibliothek Nachforschungen anzustellen, ob die Geschichte stimmen könnte. Sein Leben verlief derzeit ohnehin in eine frustrierende Sackgasse, was hatte er also schon groß zu verlieren?
Den gesamten Folgetag verbrachte Heinz in der Bibliothek. Dort wälzte er Bücher, Verzeichnisse und Zeitungen. Für ihn war das eine ungewohnte und überraschend anstrengende Arbeit. Nie hätte er gedacht, dass ihn Lesen so ermüden würde, doch die wahre Schwierigkeit bestand in erster Linie darin, die wenigen nützlichen Daten in der Fülle aller Informationen der Bibliothek herauszufiltern. Doch am Ende des Tages blickte er zufrieden in seine Notizen. Heute hatte er herausgefunden, dass es die Familie Goldstein wirklich gegeben hatte. Ezechiel Goldstein musste ein wohlhabender Kaufmann aus Strausberg gewesen sein. Er lebte mit seiner Frau und seinen fünf Kindern in einer stattlichen Villa, bis sie 1941 deportiert wurden. Über ihr weiteres Verbleiben hatte er nichts herausfinden können, doch gerade deshalb vermutete er, dass ihnen wohl ein grausiges Schicksal zuteilwurde. Strausberg war nur etwa 35 Kilometer von Berlin entfernt - es lag also nah genug, um sich bei einem Tagesausflug auf Schatzsuche zu begeben - Heinz war durch die ausgiebige Recherche nun ohnehin schon geradezu besessen von der spannenden Geschichte rund um die Familie und ihrem Schatz. Er hatte sich auch bereits eine Karte von der märkischen Stadt besorgt. Wie es in der Notiz aus dem Büchlein beschrieben war, sollte es dort auch einen See geben, in dem der Schatz versteckt sein könnte. Direkt an den Stadtkern grenzte der Straussee. Es gab allerdings auch noch weitere Seen in der näheren Umgebung: den Fängersee, den Bötzsee sowie den Ihlandsee. Leider hatte der Verfasser, dieser mysteriöse V.G., nicht deutlich geschrieben, in welchem See er den Fuhrwagen samt Schatz versenkt hatte. Das hätte die Suche deutlich vereinfacht. Aber vermutlich war ihm damals selbst nicht ganz klar gewesen, an welchem See er gerade war, als er die Sowjets bereits in der Ferne ausmachte und zum schnellen Handeln gezwungen war.
Schon am Folgetag lieh sich Heinz das Auto seines Bruders und fuhr nach Strausberg. Im Kofferraum befand sich sogar Günthers Taucherausrüstung - für alle Fälle. Er hatte sich aufgemacht, um nach dem Urheber der Notiz im Buch zu forschen und den richtigen See auszumachen. Wenn er das schaffen würde, dann könnte er sich ernsthafte Hoffnungen machen, dass er einen Schatz finden könnte. Im Ort angekommen fuhr er einige Straßen ab auf der Suche nach einer stattlichen Villa. Er hatte das sandsteinerne Anwesen der Goldsteins auf Zeitungsfotos gesehen und sich bestens eingeprägt. Aber er konnte das repräsentative Gebäude nirgends erblicken. Irgendwann parkte er den Wagen am Straßenrand und sprach eine ältere Passantin mit grauen Haaren an, die einen hellblauen Hauskittel trug und gerade einen altersschwachen Kurzhaardackel ausführte:
»Entschuldigen Sie bitte, gnädige Frau!«
»Ja bitte?« Erstaunt blickte die betagte Dame ihm entgegen.
»Ich untersuche das Leben der jüdischen Familie Goldstein, die hier in Strausberg gelebt haben soll. Können Sie mir eventuell sagen, wo ich die Villa finden kann?« Er hatte es kaum ausgesprochen, da bekam Heinz auch schon ein schlechtes Gewissen, da er sich bewusst nicht als Schatzsucher ausgab und daher ein wenig flunkern musste. Zumindest stimmte es, dass er Untersuchungen über die Familie anstellte, wenn es auch nur ein Teil der Wahrheit war.
»Die Villa? Ach, die gibt es schon lange nicht mehr. Ist komplett weg. Der fiel im Krieg eine Bombe aufs Dach. Ist komplett ausgebrannt und den Rest hat man dann später abgerissen.« Während die alte Frau mit ruhiger Stimme sprach, sprang ihr Hund freudig am Hosenbein ihres Gegenübers auf und ab.
»Oh, das ist schade. Können Sie mir denn sonst etwas über die Familie Goldstein erzählen?«
»Natürlich! Nun, die Goldsteins, ja, die kannte hier jeder. Ezechiel war ein findiger Kaufmann, der es zu einem stattlichen Reichtum gebracht hatte. Man munkelt, er habe in die Vereinigten Staaten auswandern wollen, nachdem es für die Juden hier immer ungemütlicher wurde. 1938 wurde die Synagoge während der Pogrome verwüstet und seinen Laden hatte er auch schon geschlossen. Da kann ich schon gut verstehen, dass er abhauen wollte! Aber irgendwas muss wohl schiefgelaufen sein, weil sie nie fortgegangen sind. 1940 wurden sie dann abgeholt und man hat nie wieder was von denen gehört. Seltsam war allerdings, dass die Familie damals nur das Nötigste mitgenommen hatte und man in der Villa auch nicht wirklich viel Wertvolles finden konnte. Entweder waren die Goldsteins doch nicht so reich, wie man immer angenommen hatte, oder sie hatten ihre Wertsachen schon irgendwie ins Ausland gebracht. Es waren einige Leute da, die sich die Villa ansahen und verwüsteten. Na ja, den Krieg überstand das Gebäude dann ohnehin nicht.«
»Oh, das ist aber schade! Dann gibt es also keine noch lebenden Familienmitglieder.«
»Ich fürchte nicht. Kann ich Ihnen sonst noch irgendwie helfen? Sie sehen so verloren aus.«
»Wenn Sie so fragen, dann habe ich tatsächlich noch eine Frage. Kannten Sie vielleicht einen Rückkehrer aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft, der hier in der Gegend gelebt hat?«
»Nun ja, ich kenne keinen persönlich, aber es hat da schon mehrere gegeben.«
»Der, von dem ich hörte, ist vermutlich vor fünf Jahren in einem Krankenhaus in Berlin gestorben.«
Die Dame überlegte einen Moment angestrengt. Man konnte in ihren Augen regelrecht sehen, wie es in ihrem Kopf arbeitete.
»Ich verstehe. Ja, da gab es mal einen, dem ging es wirklich schlecht, als er nach Hause kam. Hatte große Probleme mit seinen Atemwegen. Ständig am Husten. Mehr tot als lebendig. Ich glaube, er hieß Volker Grassmann. Der wohnte nur eine Straße weiter von mir in der Schulstraße. Hatte keine Familie. Das Leben hat es nicht gut gemeint mit dem.«
Volker Grassmann? Das passte zu den Initialen V.G. aus der Notiz! Heinz hätte vor Glück in die Luft springen können! Niemals hätte er gedacht, so viele nützliche Informationen von einer willkürlich angesprochenen Passantin zu erhalten.
»Vielen Dank, werte Dame! Sie haben mir wirklich sehr geholfen!«, dankte Heinz der Frau, die sich daraufhin verabschiedete und die Runde mit ihrem Dackel wieder aufnahm.
Jetzt wo er wusste, dass die Villa nicht mehr stand und die Notiz im Büchlein authentisch erschien, musste er nur noch herausfinden, in welchem See der Schatz versteckt war.
Ich muss den Weg von Grassmann rekonstruieren, dachte Heinz und schnappte sich den Stadtplan, den er tags zuvor in der Bibliothek ausgeliehen hatte.
Der jüdische Friedhof lag direkt am Straussee am westlichen Stadtrand. Die Schulstraße lag nur einige Meter davon entfernt in nordöstlicher Richtung. Wenn Grassmann hier den Schatz geborgen hätte, dann hätte er ihn doch sicherlich auch in sein Haus bringen können. Aber so mitten im Ort, hätten das die Leute beobachtet. Es muss also Nacht gewesen sein! Dann wird er den Schatz in der Nähe des Friedhofs im Straussee versenkt haben. Blöd nur, dass der See so groß ist!
Um sich ein genaueres Bild von den Örtlichkeiten zu verschaffen, lief er zum jüdischen Friedhof. Dieser war nicht sonderlich groß und umgeben von einer Feldsteinmauer. Inmitten von zerbrochenen Grabsteinen, die oft jüdische Symbole wie den Davidstern enthielten, suchte er nach Hinweisen auf das Familiengrab der Goldsteins. Immer wieder lief er auf und ab und versuchte, die Inschriften der Grabmale zu entziffern. Die meisten bestanden jedoch aus hebräischen Schriftzeichen, die er nicht lesen konnte. Er versuchte, sich irgendwie herleiten zu können, welches dieser Gräber den Goldsteins gehören könnte. Plötzlich hörte er Schritte hinter sich, die ihn aus seinen Gedanken rissen. Er drehte sich um und erschrak sich, als er auf einmal einen hageren Mann in einer dunklen Latzhose vor sich erblickte.
Der Mann hatte ein eingefallenes Gesicht und starrte ihn mit wütenden Augen an. »Sieh zu, dass du Land gewinnst, du Lump! Hat man diesen Leuten nicht schon genug angetan?!«, schrie der Mann und drohte mit der Faust.
»Was?«, entwich es Heinz, ehe er instinktiv zwei Schritte zurückwich.
»Unruhestifter wie dich brauchen wir hier nicht in Strausberg! Keinen Funken Anstand! Selbst die letzte Ruhestätte der Juden ist nicht sicher vor euch!« Verärgert schubste der Mann Heinz von dem Grabstein weg, den dieser eben noch untersucht hatte.
»Das muss ein Missverständnis sein!«, versuchte Heinz sich zu erklären, »Ich bin gar kein Unruhestifter!«
»Was suchst du denn dann hier auf dem Friedhof?«, fragte der Mann. »Viel ist ja nicht mehr da. Das hat man hier 1938 alles kurz und klein gehauen, so wie man es auch mit der Synagoge gemacht hat.«
»Ich suche das Familiengrab der Goldsteins«, antwortete Heinz.
»Tja, da kannst du hier lange suchen«, sagte der Mann. »Die wurden alle mitgenommen und kamen nicht zurück. Gott weiß, wo die abgeblieben sind.«
»Aber sie mussten doch vorher auch schon ein Grab gehabt haben, wo ihre Ahnen beerdigt worden waren.«
»Ja, das stimmt. So was gab es natürlich. Das war aber nicht hier in Strausberg. Das war drüben in Altlandsberg.«
»Altlandsberg?«, fragte Heinz. »Wo liegt das denn?«
»Das ist die Stadt weiter westlich hinter dem großen Wald.«
Heinz packte seinen Stadtplan aus und der Mann zeigte mit dem Finger auf den Rand der Karte. »Altlandsberg ist nicht mehr auf ihrer Karte drauf, aber hier müsste es etwa sein.«
»Ich danke Ihnen!«, antwortete Heinz und hastete in Richtung des Autos. Der Mann sah ihm nur fragend hinterher.
Es war eine längere Fahrt durch den Wald bis nach Altlandsberg, doch in dem kleinen Ort fand sich Heinz sofort zurecht und entdeckte den alten jüdischen Friedhof direkt auf Anhieb. Die letzte Ruhestätte lag am Rande des Ortes, umgeben von hohen Bäumen. Er parkte das Auto und ging zu Fuß über das Gelände. Die meisten Grabsteine waren verwittert und kaum noch lesbar. Aber er hatte Glück. In einer Ecke des Friedhofs fand er ein großes Grabmal mit dem Namen Goldstein. Er hatte es tatsächlich gefunden! Hier muss er also einmal versteckt gewesen sein, der Schatz der Goldsteins. Zumindest bis Volker Grassmann von der Front zurückkehrte und ihn ausgrub. Vor seinem inneren Auge sah er ihn genau vor sich, wie er schwere Kisten auf die Kutsche lud.
Nun nahm Heinz wieder die Karte zur Hand und versuchte, sich vorzustellen, welchen Weg Grassmann genommen haben musste, wenn er zurück nach Strausberg gehen wollte. Er fuhr mit dem Zeigefinger über die Karte und blieb am Bötzsee stehen. Klare Sache: Hier musste der Schatz versteckt worden sein!
Angespannt schwang sich Heinz nun wieder hinters Steuer und fuhr die kurze Strecke zum See, indem er unermessliche Reichtümer vermutete. Umgeben von uralten Bäumen lag der See ruhig da. Er strahlte in einem satten Blau, auf dem sich die Sonnenstrahlen spiegelten, während sanfte Wellen auf das Ufer trafen. Er war groß und recht tief. Heinz wusste, dass es lange dauern würde, bis er hier etwas finden würde. Aber es war einen Versuch wert!
Als er am See ankam, parkte er sein Auto und machte sich bereit für den Tauchgang. Er zog sich seine Taucherausrüstung an und überprüfte, ob alles in Ordnung war. Dann ging er ins Wasser. Der See war kalt und trüb, aber Heinz ließ sich davon nicht abschrecken. Er tauchte ab und begann, den Grund des Sees zu erkunden.
Den restlichen Tag verbrachte Heinz damit nach dem Schatz zu tauchen. Wieder und wieder tauchte er ab und suchte systematisch, aber auch vergeblich nach einer Spur, doch alles, was er am Grund fand, war Müll und Unrat. Als es langsam dunkel wurde, war Heinz müde und frustriert. Ihm war schon ganz übel, denn er bekam den widerlichen Geschmack des Gummis der Tauchermaske nicht mehr aus seinem Mund. Außerdem war er schon ganz durchgefroren. Er hatte schon so viel Zeit und Mühe investiert, und jetzt schien alles umsonst gewesen zu sein. Er wollte schon fast aufgeben, da entdeckte er am Rand des Gewässers schließlich einige rostige Metallkisten, die mit Seilen zusammengebunden waren. Mit Steinen als Ballast wurden sie am Grund des Sees gehalten. Er wusste sofort: Das musste der Schatz sein!
Heinz war sehr nervös, als er die Kisten schließlich heben wollte. Er wusste, dass es ein wertvoller Schatz war, und er wollte ihn nicht verlieren. Zu viele Hoffnungen verband er damit und er hatte lange für diesen Moment gearbeitet und er wollte ihn nicht vermasseln. Dieses Mal nicht! Er tauchte noch einmal zu der Stelle hinab und wickelte ein stabiles Abschleppseil um die Metallkisten. Dann tauchte er auf und band das andere Ende des Seils an die Stoßstange des Autos.
Nun war es an der Zeit den Schatz der Goldsteins zu heben! Was diesem Volker Grassmann nicht gelungen war, würde er nun versuchen. Heinz startete den Motor des Wagens und fuhr langsam an. Der Schatz war sehr schwer und Günters Auto plagte sich, beinahe wäre es sogar rückwärts in den See hineingerutscht, aber Heinz gelang es schließlich, die Kisten an Land zu ziehen.
Ungeduldig und gespannt machte er sich an einer Kiste zu schaffen und nach einer Weile gelang es ihm auch sie zu öffnen! Seine Augen strahlten sogar noch mehr, als es der Inhalt tat: Die Kiste war bis obenhin gefüllt mit Goldbarren! Es war Wasser in die Kiste eingedrungen, aber es hatte dem Gold nichts anhaben können! Schnell öffnete er noch die weiteren Kisten und auch diese waren mit Gold gefüllt! Heinz konnte seinen Augen kaum trauen! Er hatte es geschafft! Er war reich! Diese Notiz in diesem abgenutzten Büchlein hatte ihn dorthin geführt. Es war alles echt! Fortan würde sich einiges in seinem Leben ändern! Er war nun endlich auf der Erfolgsspur! Er würde es Annabells Vater beweisen und um ihre Hand anhalten! Einer wunderbaren Zukunft stand nun nichts mehr im Wege!
↼⇁
Einige Tage später macht sich Heinz auf den Weg zu Annabell und ihrem Vater. Er hatte sich bei einem Herrenausstatter gut einkleiden lassen und trug über seiner vor Stolz geschwollenen Brust einen teuren Herrenanzug, der seinem Stand als Geschäftsmann würdig war. Denn er hatte einen Teil des gefundenen Goldes dazu genutzt, seine eigene Firma zu gründen und seine brillante Geschäftsidee patentieren zu lassen. In einem schicken ledernen Aktenkoffer trug er all den Papierkram mit sich. Damit wollte er bei Annabells Vater mächtig Eindruck schinden und direkt um ihre Hand anhalten. Wie sollte er ihn denn jetzt noch als schlechte Partie für seine Tochter ansehen können, jetzt wo er ein ambitionierter und ehrgeiziger Macher geworden war?
Heinz war schon sehr aufgeregt, als er sich dem Checkpoint näherte. Er hatte sich so lange auf diesen Moment gefreut, endlich Annabell wiederzusehen und ihr seine Liebe zu gestehen.
Doch am Checkpoint, an dem er für gewöhnlich von Ost- nach Westberlin ging, wurde er aufgehalten. Unbeeindruckt ließ der Grenzbeamte nicht mit sich diskutieren: »Haben Sie denn nicht mitbekommen, dass wir hier kürzlich eine Mauer aufgebaut haben, die uns endlich von den Leuten im Westen schützt?«
»Nein«, sagte Heinz, »ich war die letzten Tage nicht in der Stadt und sehr beschäftigt.«
»Ein jeder hat mitgeholfen, sie zu errichten. Durch den Zusammenhalt der Genossen ging es ganz schnell. Man nennt es den antifaschistischen Schutzwall. Er wird uns fortan schützen!«
»Aber ich muss doch in den Westen! Ich muss meiner Traumfrau die Liebe gestehen.«
»Ich fürchte, das wird nicht gehen! Aber glauben Sie mir, Sie sind sicherlich besser dran ohne so eine kapitalistische Frau!«
Geschlagen und genervt ließ Heinz von dem Beamten ab. Waren denn plötzlich alle verrückt geworden?! Die Stadt war ja schon eine Weile getrennt, aber sollte ein übertreten der Grenze zwischen den beiden Staaten nun etwa gar nicht mehr möglich sein? Nein! Das durfte doch nicht wahr sein! Gab es denn gar keine Chance, von der DDR in die Bundesrepublik zu gelangen?
Es war für ihn unmöglich geworden den Ostteil der Stadt in Richtung Westberlin zu verlassen. Frustriert lief er die Mauer entlang. Nun hatte Heinz zwar den Schatz der Goldsteins gefunden und war zu Reichtum gekommen - doch sein eigentliches Ziel, Annabell, war unmöglich geworden! Er war also wieder einmal erfolglos - eine weitere herbe Niederlage in seinem Leben! Und dieses Büchlein, das Uwe in der roten Lola liegen gelassen hatte, war für ihn nur noch ein Symbol seiner Niederlage, welches ihn hämisch angrinste, wie er es so in seiner Hand hielt.
»Dies ist wahrlich ein nutzloses Büchlein!«, rief Heinz verärgert und warf es in einem hohen Bogen über die Mauer. Dann machte er sich auf, um die nächstgelegene Kneipe aufzusuchen.
Wuerzburg
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