[1.1] Ein Grund aufzustehen...

Obwohl Nicole für ihre Verhältnisse früh schlafen gegangen war, erwachte sie mit einem gewaltigen Druck auf ihrem Schädel. Als hätte sie eine versoffene Nacht hinter sich gehabt, schlürfte die blonde Frau müde in ihr angrenzendes Badezimmer und gab sich ansatzweise Mühe, ihre Augenringe abzudecken. Das Make-up gelang ihr nur halb, da sie immer wieder durch ihre Gähn-Attacken unterbrochen wurde, bis sie es schließlich ganz abbrach und sich auf Tagescreme und Wimperntusche beschränkte.

"Nützt sowieso nichts.", sprach sie monoton zu sich selbst und kämmte gleichzeitig ihre Haare zurück, um sie in eine lockere Hochsteck-Frisur zu verstecken. Während sie sich im Spiegel beobachtete, dachte sie daran zurück, dass es endlich mal wieder Zeit für einen ausgiebigen Urlaub war. Doch durch das Annehmen ihres neuen Patienten würde sich dies noch hinauszögern, insgeheim wusste sie das schon.
Ihr Job ermöglicht jedoch auch einige Freiheiten. Je nachdem, wie gut oder schlecht es ihrem Patienten ging, war sie in gewisser Weise an diesen gebunden. Sie mochte ihren Job, das tat sie wirklich, doch er konnte einen auch belasten. Sie wusste schon, warum man oft von Außenstehende zu hören bekam:"Respekt, ich könnte das nicht!"

Aber hat nicht jeder Job seine Vor- und Nachteile? An erster Stelle für Nicole standen Menschen, die pflegebedürftig waren, um ihnen zu helfen und zu unterstützen. Anders als andere Unternehmen arbeitet ihr Chef nach einem völlig neuen Konzept. Zum Vorteil der Pfleger, da er ihre Leistung sogar recht gut bezahlte. Aber auch zum Nachteil. Verständlich, denn auch Nicole war am Anfang skeptisch gewesen. Als es hieß, ein Pfleger bekommt nur einen Patienten. Verbringt dadurch Zeit mit ihm, kümmert sich um ihn und begleitet ihn, da wo die eigene Familie scheiterte. Sie waren wie Paten für ihre Patienten.
Dabei begleitete sie den Menschen bis zum Tode, was allerdings oft an Nicoles Nerven zerrte. Ihren längsten Patienten, erkrankt an Darmkrebs, betreute sie noch ganze 14 Monate. 14 Monate, an denen sie für ihn da gewesen war, in guten und in schlechten Momenten, und auch wenn Nicole es sich oft ins Gewissen rufen musste, dass es nur ein Patient für sie war, baut man auf Dauer ein Verhältnis zueinander auf. Jedes Mal betreute sie einen Freund bis zum Tode und jedes Mal war sie kurz davor gewesen, alles hinzuschmeißen. Doch sie war nicht alleine. Ihre Kollegen und auch Ani, sie mussten alle durch denselben Mist hindurch und das schweißt zusammen. Noch nie hatte sie solch ein tolles Team kennenlernen können. Nie im Leben würde sie diese alleine lassen. Dafür war sie auch nicht der Typ, der einfach so aufgab.

Während sie an ihrer Vergangenheit dachte, schmiss sie per Knopfdruck die moderne Kaffee-Maschine an. Nicoles ganzer Stolz und Erspartes spiegelte diese Kaffee-Maschine wider, während der Duft der gemahlenen Bohnen ihre Zweizimmerwohnung durchzog. Gestärkt setzte sie sich an ihren kleinen Schreibtisch und mit der Tasse in der Hand ging sie ein letztes Mal die Unterlagen durch. Jill Tuck, den Namen sollte sie sich merken, immerhin hatte John die Hilfe nicht selbst beantragt. Doch Jill war zu seinem Vormund erklärt worden, und auch wenn John es nicht wollte, hatte er Nicole mehr oder weniger an seiner Seite. Sie hoffte einfach, dass er ihr auftauchen, nicht negativ betrachtete und ihr eine Chance geben würde. Eine Chance für ihn da zu sein, wenn seine Frau es nicht mehr konnte, oder wollte? Wer wüsste das schon?

Nicole beschloss nicht länger Zeit zu verlieren. Gleichzeitig klemmte sie sich die Sachen und die Bescheinigungen der Pflege-Unterstützung unter die Arme und verließ schnell ihre Wohnung. Im Aufzug stehend, fügte sie gedanklich eine Notiz hinzu, sich endlich eine Tasche zu kaufen. Dann wäre solch ein Missgeschick wie gestern wahrscheinlich nicht passiert. Während sie beinah abwesend die Lichter der einzelnen Stockwerke an der Anzeige beobachtete. Dachte sie an den fremden Mann von gestern Abend zurück. So ein merkwürdiges Aufeinandertreffen hatte sie auch noch nie erlebt und trotzdem würde er ihr nicht so schnell aus dem Kopf gehen, das spürte sie einfach. Mit einem freundlichen Ton sprang der Aufzug auf und endlich konnte Nicole den alten Wohnkomplex verlassen und beeilte sich, um in ihrem Auto sitzen zu können.
Beiläufig schmiss sie die Unterlagen auf ihren Beifahrersitz und fuhr bereits los, bevor sie überhaupt richtig im Auto saß.

Es war ein gutes Stück. Erst mal aus der Stadt heraus zu den alten Fabrik-Geländern. Der typische morgen Verkehr machte es ihr ebenfalls alles andere als einfach und nach etwas über einer halben Stunde hatte sie endlich die verlassene Lagerhalle erreicht. Vor einem großen rostigen Tor blieb sie stehen und stellte den Motor ab. Nervös klopfte Nicole auf ihrem Lenkrad umher, als sie an dem imposanten Gebäude hoch sah. Gerade als sie das Auto verlassen wollte, stockte sie, da in den Nachrichten eine Sondermeldung erschien.

"Der Jigsaw-Killer hat wieder zugeschlagen. Polizei Beamte berichten von einem grauenhaften Fall, nachdem auszugehen ist, dass es sich bei dem Opfer um den Arbeitslosen Mark Wilson handelt. Das Opfer wurde bei -" Nicole löste die Zündung. Diese ganzen schlechten Nachrichten konnte und wollte sie jetzt nicht auf sich wirken lassen. Sie schnappte ihre Sachen und huschte aus ihrem Auto heraus.

Laut knallte die Autotür zu und vorsichtig ging Nicole zu dem rostigen Tor. Sie zögerte, doch im nächsten Augenblick schob sie das quietschende Tor bei Seite. Langsam näherte Nicole sich dem alten Gelände. Bemerkte jedoch die modernen Überwachungskameras, die jeden Schritt ihrer auszeichneten. Anscheint war dieses Gebäude tatsächlich nicht so verlassen wie angenommen. Erneut schielte Nicole auf ihre Unterlagen. Doch den merkwürdigen Namen hatte sie sich gut merken können und war nun sicher, dass sie hier richtig sein musste. Na ja, zumindest sollte die Adresse stimmen. Beherzt ging sie auf einen alten Seiteneingang zu und klopfte an der alten Tür. Niemand reagierte. Erneut klopfte Nicole, dieses Mal jedoch länger und intensiver. Sie wartete einige Zeit, doch wieder kam niemand.

"Wer weiß, wie groß das da hinter ist.", sprach sie laut zu sich selbst. Dabei drehte sie sich zögerlich um. Doch auch auf dem Gelände war weit und breit niemand zu sehen. Sie überlegte kurz, umschloss dann die Klinke mit einer Hand und öffnete laut knarrend die Tür. Nicht abgeschlossen? - dachte Nicole, als sie auch schon einige Schritte in das alte Fabrik-Gebäude trat.

"Hallo?", sprach sie beherzt, da im Inneren tatsächlich Licht brannte. Sie vernahm hämmernde Geräusche. Ja, es klang so, als würde jemand im Inneren der Halle arbeiten.

"John Kramer?", rief sie den Namen und plötzlich verstummten die Geräusche. Unwohl wartete Nicole einen Moment ab. Doch es kam nichts, keine Gegenfrage oder das Auftauchen einer Person.

"John Kramer, mein Name ist Nicole Carter. Ich würde gerne mit ihnen reden.", versuchte sie erneut und lief den langen Flur entlang, an dessen Ende sie sich vorher eingebildet hatte, jemanden zu hören. Nervös tippelte die junge Frau mit ihren Füßen auf und ab. Traute sich nicht, auch nur noch einen Schritt weiter nach vorne zu machen. Gerade als sie sich am liebsten auf der Stelle hätte umdrehen wollen, erschien am anderen Ende des Ganges ein Mann. Er trug einen weißen Overall und wischte seine von Öl verschmierten Hände in ein dreckiges Tuch.

"Was wollen sie?", begrüßte er sie grob und kam näher auf Nicole zu.

"Hallo, mein Name ist -" "Ich habe nicht gefragt, wer sie sind, ich habe gefragt, was sie wollen?", unterbrach John sie in einem unfreundlichen Ton.

"Ich bin hier, um ihnen zu helfen, John." Ohne zu zögern, überreichte Nicole dem skeptischen Mann vor ihr, ihre Papiere und neugierig überflog John die Zeilen.

"Pflege Unterstützung? Für mich? So ein Schwachsinn. Verschwinden sie hier!", fluchte der im ersten Moment nicht gebrechlich wirkende Mann und als er gerade Nicole zur Tür bringen wollte. Zwang sein aufkommender Husten ihn in die Knie. Reflexartig stützte Nicole John, und eh er sich versah, brachte sie ihn zurück in seine Halle. Schnell sah Nicole sich um, als sie auch schon einen Stuhl inmitten der abgedeckten Tische entdeckte. Behutsam ließ sie den gebrechlich wirkenden Mann auf den Stuhl nieder. Vor zwei Minuten hatte man ihm seine Krankheit noch nicht angesehen, doch solche Momente verhalfen ihr, sich zurückzuerinnern, warum sie dies alles überhaupt tat. Nachdem John sich einigermaßen gefasst hatte, blickte er stur an Nicole vorbei. Langsam kniete diese sich zu ihrem neuen Patienten hinunter und lächelte ihn freundlich an.

"John, ich bin wirklich hier, um ihnen zu helfen. Mein Name ist Nicole Carter. Ihre Frau Jill möchte das ich sie in ihrem Alltag ein wenig unterstütze."

"Ich brauche ihre Hilfe nicht!" Ernst sah John Nicole an, die ihn jedoch immer noch sanft beäugte.

"Hören sie. Ich weiß, dass es vielleicht komisch für sie klingen mag. Aber wir unterscheiden uns von anderen Pflege-Diensten. Ich helfe ihnen. Mache das, was sie wollen und wenn es erst mal nur einkaufen ist. Ich möchte wirklich nicht, dass sie denken, dass ich nur hier bin, weil ich es muss. Ich bin für sie da, John. Und wenn sie ehrlich zu sich sind. Sie merken doch selbst, dass sie langsam Hilfe brauchen." Behutsam legte Nicole ihre Hand auf dessen Knie ab und mit einem durchdringlichen Blick sah er die blonde Frau vor sich an.

"Sie glauben ernsthaft, dass sie einfach hier so auftauchen und ich mich darüber freuen soll? Geschweige denn ihnen mein Leben anvertrauen soll? Sagen Sie meiner Frau, dass sie sich das Geld sparen kann und mich in Ruhe lassen soll." Erneut wurde John durch aufkommenden Husten unterbrochen und enttäuscht löste Nicole sich von dem krebskranken Mann.

"Ich erwarte vieles, jedoch keine Wunder Mr. Kramer und dennoch bin ich jetzt hier und so schnell werden sie mich auch nicht mehr los.", grinste Nicole und sah sich neugierig in der Werkstatt um. Alles war durch rote Tücher abgedeckt worden und angespannt verfolgte John Nicoles Blick.

"Woran arbeiten sie, wenn ich fragen darf?"

"Nein, dürfen sie nicht!", wimmelte John ruhig Nicoles Frage ab und abwartend verschränkte diese ihre Arme vor der Brust.

"Na gut, hier ist meine Nummer. Rufen Sie mich an, wenn sie irgendetwas brauchen. Ich werde morgen wiederkommen. Wann passt es ihnen am besten?"

"Gar nicht!"

"Na gut, dann dieselbe Zeit wie heute. Also John, ich wünsche ihnen einen angenehmen Tag und denken sie daran. Melden Sie sich bei mir, ich bin für sie da!" Nicole zog aus ihrer Jeans eine kleine Visitenkarte und zögerlich nahm John ihr diese aus der Hand. Musterte die Karte und warf sie schließlich achtlos in die Ecke. Mit einem sanften Lächeln auf dem Gesicht verabschiedete Nicole sich von diesem und verschwand schnell aus der alten Lagerhalle. Draußen angekommen schnappte die junge Frau nach Luft. Solch einen Patienten hatte sie auch noch nie erlebt. Als sie in ihr Auto einstieg, bemerkte sie nicht das schwarze Auto und dessen Fahrer, der nur darauf wartete, dass sie endlich wegfahren sollte.

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