Zerrissener Hoffnungsschimmer

»Was ist los?«, wollte Melvin wissen und konnte die Beunruhigung nicht ganz aus seiner Stimme verbannen.

»Los, wir gehen zu Clyde rauf. Nehmt direkt die Ausrüstung mit«, beschied Red, anstelle einer klaren Antwort. »Das möchte ich mit eigenen Augen sehen.«

Sie stiegen aus und seine ehemalige Kameradin ging ebenfalls zum Kofferraum. Zunächst holte sie einen schwarzen Ledermantel raus und warf ihn Melvin zu. »Hier. So bist du weniger auffällig. Und nimm den hier, damit dir nicht direkt die Birne weggeballert wird. Setz ihn aber erst auf, sobald wir drinnen sind.« Sie warf ihm einen anthrazitfarbenen taktischen Helm zu, wie ihn Spezialpolizisten trugen. »Falls wir da überhaupt reinkommen«, ergänzte sie leise murmelnd.

»Deine Freundin scheint von eurer Aktion ebenfalls nicht besonders überzeugt zu sein«, verlieh die KI seinen eigenen Zweifeln Ausdruck.

Anschließend griff Red sich eine ausladende Sporttasche und übergab Aiko einen kleinen, grauen Rucksack, dessen abstehende Katzenöhrchenapplikationen ihn reichlich deplatziert erscheinen ließen. Er verkniff sich einen weiteren Kommentar und folgte ihr, um die nächste Hausecke. Sie deutete auf eine Feuertreppe, die sich im Zickzack an einer verputzten Hauswand vier Stockwerke nach oben zog. Der Einstieg, eine ausziehbare Leiter, schwebte auf Höhe des zweiten Stocks über dem Boden. Red trat unter das Metallkonstrukt und zog an einem Seil, das nahezu unsichtbar vor der Wand baumelte. Metallisch schabend zog sie so das Leiterende herab, bis sie hinaufklettern konnten. Ihm fiel auf, dass das Seilende mit einem faustgroßen Enterhaken verknotet war.

Kommentarlos kletterte sie und danach Aiko die Stufen hoch. Er bildete die Nachhut und bemühte sich, sich ähnlich leise wie die beiden zu bewegen. Komplett gelang es ihm aufgrund seines Gewichts nicht, sodass die Metallkonstruktion unter seinen Schritten deutlich knirschte und metallische Gongschläge von sich gab.

Oben auf dem Dach blies ein kräftiger Wind, obwohl die meisten der umliegenden Hochhäuser ihre Position um mindestens fünf bis zehn Stockwerke überragten. Hinter der Dachkante vor ihm waren die nächsten Gebäude in weiter Ferne zu erkennen. Dazwischen musste das niedrigere CUBA liegen, von dem er aufgrund des Winkels noch nichts sehen konnte. Erneut überspülten ihn Erinnerungen an seine erste Flucht über das Dach des Bunkerhochhauses. Der damalige Ausblick über die Skyline Emeralds und die Erkenntnis, dass der Bunker nicht in der Erde vergraben war. Im Anschluss waren sie vor ihren Häschern in höchster Not geflohen und hatten nur mit Glück über eine ähnliche Feuertreppe entkommen können. Der ganze heutige Tag erschien ihm wie ein Zerrspiegel seiner ersten Flucht. Alles schien erneut, jedoch in umgekehrter Reihenfolge abzulaufen. Das wollte er für sich als positives Zeichen deuten, dass er auf dem Weg war, in diesen neuen »Bunker« einzusteigen und dort seine Familie zu finden.

»Das nennt man Déjà-vu und hat nichts mit echten Erinnerungen zu tun.« Seine KI versuchte mit ihren Lügen erneut, Zweifel zu sähen.

Er verscheuchte die Gedanken und konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt. Auch, damit er die Stimme seiner KI leichter ignorieren konnte. Geduckt huschten sie über die freie Fläche zur Silhouette Clydes, der an der umgebenden, hüfthohen Mauer hockte. Als sie sich der Position ihres Mitstreiters näherten, hatte Melvin endlich Gelegenheit, über die Dachkante zu schauen und CUBA in Augenschein zu nehmen. Der Ausblick zerriss seinen Hoffnungsschimmer augenblicklich wie die Reflexion einer Seifenblase, die vom Wind auf dem Beton zerrieben wurde. Aikos Interpretation der Satellitenaufnahme war grundfalsch gewesen. Es handelte sich nicht um eine weiß verpixelte Fläche.

Das riesige Areal wurde von einer leicht gebogenen, schmutzigweißen Kuppel verschlossen, die von innen heraus zu glühen schien. Von außen nicht einzusehen und hermetisch versiegelt, genau wie damals ihr Bunker. Die fensterlosen Außenmauern, die sich wie angenommen rund zwei Etagen erhoben, schützte Klingendraht, der regelmäßig von Überwachungskameras und Scheinwerfern durchbrochen wurde. Doch auch auf der restlichen Dachkonstruktion, die am höchsten Punkt in der Mitte beinahe ihre aktuelle Höhe im vierten Stock erreichte, fanden sich gleichmäßig verteilte Kameramasten. Hinzu kamen sicherlich hundert eckige Blöcke, deren Größe schwer einzuschätzen war. Vielleicht dienten sie der Belüftung. In der Ferne konnte er zwei winzige Punkte, vermutlich Flugdrohnen, erkennen, die ihre Runden über die weiße Konstruktion zogen.

»Fuck.« Das war das Einzige, was ihm im ersten Moment dazu einfiel.

Clyde hatte vor sich ein Scharfschützengewehr mit Schalldämpfer auf der Mauer abgelegt und warf ihm einen kurzen Blick zu. »Jo, das trifft's ziemlich gut.«

Gemeinsam hockten sie sich neben ihn und ließen den Anblick für einen Moment schweigend auf sich wirken.

»Das ...«, Melvin suchte nach Worten. »Das sieht vom Prinzip her aus, wie unser Bunker damals – nur in sehr, sehr groß.«

Red holte ein Fernglas hervor und schaute sich um. Schließlich antwortete sie: »Ja. Das sehe ich auch so. Vor allem ist unmöglich zu sagen, wie stabil das Dach ist oder aus welchem Material es besteht. Es könnte Panzerstahl sein oder einfach nur fest gespannte Plastikplane.« Sie wendete sich an Aiko: »Und du findest darüber nichts im Netz? Das ist kaum vorstellbar. Es muss doch zumindest irgendwelche Spekulationen oder Verschwörungstheorien geben.«

»Das würde ich auch so sehen. Aus meiner Sicht belügen die beiden dich von vorne bis hinten«, ließ die KI ihren nächsten ätzenden Kommentar ab.

Die Asiatin lehnte mit dem Rücken an der Wand und führte mit ihren Fingern wirbelnde Gesten aus, während bunte Reflexionen über ihre Brille liefen. »Hm ... ja. Gibt es. Aber nichts Brauchbares. Mal wird von schwarzen Lastwagen und Militärtransportern berichtet, die hineinfahren, mal von Oberklasselimousinen, die regelmäßig durch das Haupttor verkehren. Auch will jemand VTOLs beobachtet haben, die durch eine Art Schleuse in den Himmel gestiegen sind. Alles Bildmaterial und konkrete Berichte werden innerhalb von Sekundenbruchteilen gelöscht. Vermutlich von einer staatlichen Stelle. In der regulären Presse findet sich ebenfalls nichts.«

»Wer es glaubt ...«

Seine ehemalige Kameradin kaute auf ihrer Unterlippe. »Dann sind wir ganz sicher nicht die Ersten, die sich überlegen dort einzusteigen, um das Geheimnis zu lüften. Offenbar war bisher niemand in der Lage von seinen Versuchen zu berichten.«

Mit einem Blick auf den Horizont, an dem sich langsam ein erster hellblauer Schein des sich ankündigenden Sonnenaufgangs abzeichnete, meinte Melvin: »Es kann alles sein. Eine Art Körperfabrik, wie Violette sie beschrieben hatte. Oder ein Militärkomplex. Vielleicht sogar ein gigantisches Studio in dem den Insassen, so wie bei uns damals, vorgegaukelt wird, in einer Scheinwelt zu leben. Egal, was es ist, falls wir jetzt nicht handeln, ist es zumindest mir Lena und Kim zu spät.« Er schaute den anderen in die Augen. »Aber ich kann verstehen, falls ihr nicht mitkommen wollt. Dann werde ich alleine mein Glück versuchen.« Er deutete auf das Dach. »Diese Kästen sind bestimmt Lüftungsanlagen oder Ähnliches. Ich werde hinaufklettern, um dadurch einzudringen. Ihr müsstet mir nur den Rücken freihalten und die Kameras und Drohnen ausschalten.«

Red schüttelte ihren Kopf mit verkniffenem Gesichtsausdruck. »Nein. Wir gehen zusammen. Du vergisst, dass ich ebenfalls in dem Bunker war. Und wir brauchen Aiko, damit sie sich drinnen ins Netz hackt und die Standorte unserer Zielpersonen ermittelt.«

»Danke, Cath ... äh, Red.« Ihm fiel ein Stein vom Herzen, auch wenn es irgendwie nicht so klang, als würde sie ihm einen Gefallen tun. »Gehen wir runter, ehe es hell wird.«

»Sie nutzt dich nur als Mittel zum Zweck«, schaltete sich seine KI ein. »Lass es endlich gut sein. Du hast eh keine Chance.«

»Warte«, Red hielt ihn zurück, als er sich umdrehte. »Wir gehen von hier. Unser Ziel ist der erste Kasten, direkt auf zwölf Uhr. Sobald wir drüben sind, versuchen wir, das Teil zu öffnen, herauszureißen oder so. Was uns drinnen erwartet, wissen wir nicht. Da müssen wir improvisieren.«

Damit öffnete sie die Sporttasche und holte eine Armbrust hervor, die sie ausklappte. Mit geübten Bewegungen legte sie einen unterarmlangen Pfeil mit Enterhaken auf. Anschließend drückte sie Aiko und ihm jeweils eine einklinkbare Seilwinde in die Hand.

»In den Griffen sind Hebel. Ziehst du die Faust zusammen wird gebremst, ansonsten beschleunigt. Verstanden? Okay. Alle bereit?«, fragte sie und wartetet kurz ihr Nicken ab. »Clyde. Du schaltest die Kameras in der Nähe aus. Die Drohnen sind gerade auf der anderen Seite. Dann los.«

Sie stellte sich breitbeinig vor die Mauer, während aus Clydes Scharfschützengewehr vielfaches Knallen erscholl. Es war allerdings so leise, dass es kaum über den pfeifenden Wind zu hören war. Nahezu ein Dutzend Kameragehäuse im Zielumkreis zerplatzten. Der Pfeil schoss im Bogen hinüber und ein hauchfeiner Draht wickelte sirrend von einer Rolle ab. Der Haken landete neben einem toten Kameramast und zog sich daran fest. Red nutzte auf ihrer Seite die Armbrust als Gegenanker. Im Anschluss setzte sie sich selbst einen Helm auf, genau wie Aiko. Er folge ihrem Beispiel. Die Sicht wurde von dem Visier kaum verengt und er fühlte sich schon fast wieder wie auf Mission.

»Das ist Blödsinn. Du bist mit drei Kriminellen auf einem Selbstmordkommando. Mehr nicht.«

»Erst ich, dann Aiko und Melvin«, erklang ihre elektronisch verstärkte Stimme in seinem Helm, der offenbar über Funk verfügte.

Zum Schluss setzte sie sich auf die Mauer, schwang ihre Füße über die Kante und ließ die Winde einrasten. Keine zwei Sekunden später rauschte sie mit angezogenen Beinen in Richtung der weißen Kuppel. Aiko zögerte nicht und flog ebenfalls über den Abgrund. Er hoffte nur, dass das dünne Kabel sein Gewicht aushielt, und setzte sich auf die niedrige Mauer. Die gähnende, vier Stockwerke tiefe Schlucht ließ ihn kurz innehalten. Gut, dass er keinen echten Magen mehr hatte. Nochmals atmete er durch und hakte seine Winde klackend ein. Dann packte er mit beiden Händen fest zu und schwang sich in den Abgrund.

Das Seil sackte durch, doch fing ihn einen Moment später auf. Überraschend schnell raste die weiße Fläche auf ihn zu. Red und Aiko standen bereits auf den Seiten. Es waren nur noch wenige Meter. Jeden Augenblick würde er wie ein Komet einschlagen.

»Bremsen!«, scholl Reds Warnung aus seinen Helmlaufsprechern und er presste seine Fäuste panisch zusammen.

Ein Schlag zog durch seine Arme, der einem Menschen die Schultern ausgekugelt hätte, und warf seinen Körper nach vorne. Ein weiterer Ruck folgte und er flog unkontrolliert vorwärts. Krachend, den Hintern voran, landete er auf der weißen Dachfläche. Red war sofort heran und hielt ihn fest, damit er sein Gleichgewicht fand. Der Winkel war nicht sehr steil, aber trotzdem wäre er ansonsten vermutlich direkt wieder hinabgerutscht.

Auf allen vieren rappelte sich Melvin auf. »Puh. Danke. Das war nicht besonders elegant, befürchte ich.«

»Stimmt. Und vom Seil hast du auch nichts übrig gelassen«, kommentierte Red die Aktion.

Ein Blick zeigte ihm, dass er durch seine Vollbremsung offenbar das Seil oder die Verankerung zerstört hatte. Egal. Sie brauchten es nicht mehr. Jetzt standen sie vor einem der Kästen, der sich als mannsgroß herausstellte. Die Stahllamellen setzten bereits Rost an und ein Luftzug bestätigte seinen Verdacht, dass es sich um Lüftungsanlagen handelte. Das Dach schien aus einem Kunststoff zu bestehen, auf dem die Regengüsse im Laufe der Zeit ihre braunen und grünen Spuren hinterlassen hatten. Irgendwas an der Szenerie störte ihn. Ein Zupfen an seinem Unterbewusstsein, dass ihn auf etwas Wichtiges aufmerksam machen wollte.

„Ja, darauf, dass du die Aktion endlich abbrechen solltest", meinte die KI.

»Lasst uns schauen, wie wir das Teil aufbekommen«, sagte er laut und rüttelte an dem Metall.

Es wirkte massiv und bewegte sich keinen Millimeter. Der gesamte Kasten schien aus sauber verschweißtem Stahl gefertigt zu sein.

»Ihr solltet Gas geben«, kam Clydes Stimme aus dem Helmlautsprecher. »Ich habe die kleinen Drohnen vom Himmel gepustet. Maximal zwei Minuten, bis die fliegende Kavallerie bei euch eintrifft. Ich tauch jetzt ab und such mir ne neue Position.«

Mist. Dann musste er mal wieder die Holzhammermethode auspacken.

»Tretet zurück«, warnte er seine beiden Begleiterinnen, »ich sprenge es auf.«

»Nein, stopp«, hielt ihn Red auf. »Damit wären die drinnen vorgewarnt. Sie sind bereits alarmiert, aber wir müssen sie ja nicht mit der Nase darauf stoßen, wo wir eindringen. Ich bin auf so was vorbereitet.«

Zügig holte sie eine Tube aus ihrem Rucksack und verteilte zwei Streifen einer weißen Paste links und rechts auf den Lamellen. Einen Moment später war deutliches Brutzeln und Zischen zu vernehmen. Ätzender Gestank stieg in seine Nase, während die Schmiere sich brodelnd durch das Metall fraß. Keine zehn Herzschläge danach polterte das Dutzend Metallstreben klirrend zu Boden und rutschte das Dach hinab. Sie verschwanden über der Kante. Kurz darauf klirrte es erneut. Nicht unbedingt, was er unter leise verstand, aber zumindest würde man innerhalb der Anlage nichts davon mitbekommen haben.

Red warf einen Blick durch das Loch: »Sieht gut aus. Wir können uns abseilen.«

Sie holte ein weiteres feines Seil aus ihrer Ausrüstung und verknotete es an einem vorstehenden Metallrest.

»Du solltest vorgehen, Melvin«, meinte sie.

Immerhin nannte sie ihn nicht Kugelfang. Aber sie hatte natürlich recht damit, ihn vorzuschicken. Er warf selbst einen Blick nach unten. Der Anblick überraschte ihn erneut.

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