Zerlegte Schweine

Uff ... wie drei Gongschläge hämmerten die Geschosse in seine Brustpanzerung und warfen ihn aus der Flugbahn. Es war ein schwerer Revolver, hatte aber keine panzerbrechende Munition geladen. Sein gesprungener Angriff verkam zu einem Stolpern, das ihn krachend gegen die Hauswand schmiss. Sein Kopf schlug hart auf das Holz und für einen Augenblick sah er Sterne. Intuitiv riss er seine Arme hoch. Zwei Kugeln prallten funkenschlagend ab. Verdammt. Wie ein Boxer, seine Unterarme als Deckung nutzend, kam er auf die Füße. Sein Gegenüber hielt die Waffe in beiden Händen und suchte nach einer Lücke. Dessen Reaktionen waren nach wie vor ultraschnell. Melvin kam sich vor, als bewege er sich in Zeitlupe, während er dem Kerl keine offene Flanke bieten durfte. Damit waren seine Unterarmgewehre ebenfalls nutzlos. Frustriert gab er den gedanklichen Befehl, den er eigentlich hatte vermeiden wollen.

Eine der verbleibenden vier Mini-Raketen schoss aus seiner Schulter. Sekundenbruchteile später zerplatzte der Muskelmann wie eine Bockwurst in der Mikrowelle mit einer heftigen Detonation, die durch die Straßen hallte. Um einer Lenkrakete zu entgehen, brauchte es mehr als ein paar Reflexbooster. Aber spätestens jetzt war die gesamte Gang im Viertel vorgewarnt. Gleich würde es hier von Schwerbewaffneten wimmeln, die es sprichwörtlich auf seinen Kopf abgesehen hatten.

Zeit es zu Ende zu bringen. Leider konnte er nicht sicher sein, dass sich Red tatsächlich in dem Haus befand, sonst hätten seine restlichen Raketen ausgereicht. Er musste sichergehen, dass er sie erwischte. Dafür trat er ein paar Schritte zurück, ging in die Hocke und machte sich klein. Sein nächstes Explosivgeschoss flog mitten in die Vordertür. Eine weitere, heftige Explosion verarbeitete mit einem Feuerball die halbe Front und ein Teil des Dachs zu Streichhölzern. Red brauchte das nicht zu überleben, aber sie musste identifizierbar sein. Die Wand sollte das Gröbste der Druckwelle abgefangen haben.

Noch während die rauchenden Reste im weiten Umkreis niederprasselten, stürmte er durch die Rauchschwaden vorwärts in den aufgerissenen Wohnraum. Glasscherben, zerborstenes Regale und zerfetzte Kissen bedeckten den Boden. Rechts bewegte sich ein Schatten. Eine hämmernde Salve aus seinem Sturmgewehr streckte ihn nieder. Melvin konnte ein Husten nicht unterdrücken und fluchte. Geduckt lief er zu einer eingedrückten Wand auf der linken Seite mit einer finsteren Türöffnung, die den einzigen anderen Raum in der Hausruine abgrenzte. Infrarotsicht wäre jetzt hilfreich. So blieb ihm nichts anderes übrig, als schussbereit hineinzuspähen. Es war das Schlafzimmer und auf dem ersten Blick leer. Hatte er Red bereits erwischt? Draußen erschollen Rufe und große Motoren heulten auf. Ihm verblieben maximal Sekunden. Zügig hetzte er nochmals zu der Silhouette, die er eben erschossen hatte. Hinter den Resten eines grünen Sofas lag eine schlanke blonde Frau. Eindeutig tot und nicht Red. Verflucht. War sie gar nicht hier?

»Keine Bewegung«, erklang eine ruhige Frauenstimme hinter seinem Rücken.

Kurz spielte er mit dem Gedanken, blind eine Rakete in die Richtung zu schießen, aber verwarf ihn wieder. Er musste erst das Gesicht sehen. Im Grunde war es erstaunlich genug, dass sie ihn nicht sofort abgeknallt hatte. Vorsichtig hob er die Arme.

»Stopp«, kam die Anweisung, als er langsam begann sich umzudrehen. »Klapp erst deine Artillerie ein oder ich schieße dir direkt den Kopf weg. Und glaub mir, ich bin schnell und eine exzellente Schützin.«

Oh, ja. Das war sie. Denn ihre Stimme erkannte er, auch ohne das Gesicht zu sehen. Seine Waffen und die Krallen schnappten ein.

»Hallo, Cath«, sagte er schlicht und drehte sich um.

Das war das Einzige, was ihm zur Begrüßung seiner früheren Kameradin einfiel. Obwohl er vorgewarnt war, versetzte ihm ihr Anblick einen Stich. Hinter der Automatikpistole zeigte sich ihr rötliches, von Brandnarben entstelltes Haupt. Auf ihrem Kopf wuchsen Büschel schwarzer zerzauster Haare, die nichts mehr von der ehemaligen roten Lockenpracht erahnen ließen. Nur ihre grünen Iriden versprühten die gleiche Entschlossenheit wie früher.

»Melvin?« Ihre Augen weiteten sich und der Pistolenlauf zitterte leicht. »Bist du es? Oder ist das ein zynischer Scherz von Violette?«

Tatsächlich war das nicht abwegig, wie er zugeben musste. Die andere Gangbossin hätte einfach eine Maske mit seinem Gesicht auf einen Kampfroboter nageln können. Nur, um Cathrine im letzten Moment zu schocken. Zuzutrauen wäre es ihr.

»Nein«, antwortete er kopfschüttelnd und wurde sich langsam der Absurdität der Situation bewusst.

Seine Cath war die direkte Konkurrentin von Violette. Diese musste das gewusst haben. Er, mehr Maschine als Mensch, wurde losgeschickt, um sie zu töten. Ihre Körper waren entstellt, ihre Seelen zerfressen. Um seine Familie zu retten, müsste er Cathrine jetzt umbringen. Und sie war es gewesen, die am Ende im Hubschrauber den Abzug gedrückt hatte, während er die Aktion hatte abbrechen wollen. Sie war der Grund, warum er heute in diesem Blechkörper steckte. Das musste Violette ebenfalls gewusst haben und hatte wahrscheinlich darauf spekuliert, dass er Cathrine auch dann tötete, falls er sie erkannte. Doch das konnte er nicht.

»Aber besser wäre es«, drang die Stimme seiner KI während der Sekunden des Schweigens zu ihm durch. Vermutlich, weil er nichts anderes mehr hatte, auf das er sich konzentrieren konnte. »Das wäre jetzt eine gute Gelegenheit deine psychopathische Ader auszuleben. Ansonsten ist zu befürchten, dass dein teurer Körper in die Hände dieser Verbrecher fällt.«

»Nein«, wiederholte er als Antwort sowohl für Cathrine als auch für seine KI, »dann wärst du jetzt längst tot. Ich bin es tatsächlich. Oder zumindest das, was von mir übrig ist. Ich ...«

In diesem Moment stürmten vier Gangmitglieder mit erhobenen Pistolen und Gewehren durch die zerstörte Front. Von draußen war das Quietschen von Reifen zu hören. Laute Rufe und das Durchladen weiterer Waffen folgen.

»Red! Alles okay?«, rief einer der Neuankömmlinge, ein Glatzkopf in Jeansweste. »Warum knallst du die Killermaschine nicht ab?«

»Weil ...«, sie zögerte. »Ich weiß nicht. Sag du es mir, Melvin, warum soll ich nicht abdrücken?« Währenddessen näherte sie sich ihm bis auf drei Schritte mit gezückter Pistole. Auf diese Distanz konnte sie ihn nicht mehr verfehlen. »Du hast gerade eine Rakete in mein Haus gejagt und zwei Redder getötet. Gute Freunde von mir. Freunde, die mir geholfen haben zu überleben und das Business aufzubauen. Im Gegensatz zu dir. Nenn mir einen guten Grund, warum ich nicht abdrücken sollte.«

Weil du es schon längst hättest tun können, beantwortete er sich die Frage selbst. Weil alle deine Freunde und Verwandten in Tanks dahinvegetieren und darauf warten geschlachtet zu werden. Weil wir gemeinsam monatelang durch dick und dünn gegangen sind und weil du es warst, die mich geküsst hatte ...

Von alledem sagte er nichts, sondern nur: »Cath, du bist die Einzige, die mir noch helfen kann. Schon wieder. Aber wenn ich vorher gewusst hätte, dass du Red bist, dann ...« Hilflos zeigt er seine Handflächen und zögerte. »... dann hätte ich einfach geklopft.«

»Hättest du mir zwischendurch nur ein paar Sekunden zugehört ...«, meldete sich seine KI, aber er ignorierte sie.

Cathrine schüttelte ihren Kopf. Dann senkte sie die Waffe. »Willkommen bei den Reddern, Melvin. Verfluchte Kacke. Wo zum Teufel bist du wieder hineingeraten?« Ehe er antworten konnte, wendete sie sich an die zusammengewürfelte Gang, die das Schauspiel schweigend beobachtet hatte. »Na los. Runter mit den Knarren. Das hier war ein ... Missverständnis. Er ist ein Freund. Ich gehe mit ihm nach drüben. Mit der Bruchbude hier kann man nichts mehr anfangen.«

Jetzt kam Leben in die Truppe. Murrend und tuschelnd wurden die Waffen weggesteckt. Cathrine gab einige Anweisungen, damit jemand ihre Klamotten und Habseligkeiten aus der Zerstörung holte und die Leichen beseitigte. Wirklich schockiert war hier niemand von der Gewalt und den Toten. Kein Wunder, es war immer noch eine Gang, bei der Schießereien und Morde vermutlich zur Tagesordnung gehörten. Am Ende winkte sie ihm, damit er folgte. Sie gingen über die Straße zu dem Haus, in dem vorhin die laute Musik gespielt hatte. Auch wenn kein Lauf mehr auf seinen Kopf gerichtet war, hielten sich immer ein paar der Redder, wie sie die Gangmitglieder betitelte, in seiner Nähe auf. Sie behielten ihm im Blick und hatten ihre Hände locker auf Pistolen oder Gewehre gelegt.

Eine Viertelstunde später waren sie allein in dem Einfamilienhaus. Red hatte alle anderen rausgeschickt. Ein paar Kartons und ein halbes Dutzend Schubladen mit ihren Klamotten standen auf dem fleckigen Teppich. In der Luft hing noch der Gestank von vergossenem Alkohol, Schweiß und kaltem Rauch von der vorherigen Party, die er im wahrsten Sinne des Wortes gesprengt hatte. Cathrine schien sich daran nicht zu stören. Sie fegte Pizzareste und leere Flaschen von einer Couch, setzte sich und schaute ihn an.

»Setz dich«, forderte sie ihn auf. »Ist hier doch fast genauso gemütlich wie in der abgerantzen Wohnung damals in den Shadows.«

Einen Moment zögerte er. Irgendwie empfand er es als unpassend, sich als raumhohe Kampfmaschine auf eines der geblümten Sofas zu setzen. Erneut wurde ihm deutlich vor Augen geführt, wie wenig diese zivile Welt noch die seine war.

»Stimmt. Daher will ich dich ja schon die ganze Zeit dazu bewegen, endlich zum Militär zurückzukehren.«

In der Stille ließ sich die Stimme der KI leider schwer ignorieren. In einem hatte sie recht: Das hier war nicht mehr seine Welt. Ein normales, menschliches Familienleben kam für ihn nie wieder infrage. Vielleicht würde er am Ende wirklich zum Militär zurückkehren – zu seinen Bedingungen. Aber vorher hatte er noch etwas zu erledigen. Und es war mehr als fraglich, ob er das Überleben würde. Nach kurzem Zögern ging er zur Küchenzeile. Langsam setzte er sich auf einen der Stühle, der bedenklich knackte und unter ihm wirkte wie ein Kinderstuhl.

»Cath«, begann er und stützte seine Ellenbogen auf die Knie, um nicht ganz so groß zu wirken. »Was ist nur mit uns passiert? Warum ...?«

»... ich so geworden bin wie Violette? Eine Diebin und Mörderin?« Sie hob ihre Augenbrauen, von denen nur noch einzelne Härchen übrig waren. »Um zu überleben. Warum sonst. Und warum bist du eine Kampfmaschine geworden? Was ist deine Ausrede?«

Sie hatte recht. Er sollte ihr dankbar sein und sich entschuldigen. Vor ein paar Minuten hätte er sie beinahe umgebracht. Und wer war er, um über ihr Leben zu urteilen. Als Soldat hatte er mindestens genauso viele Unschuldige getötet wie sie. Auch er hatte natürlich eine Wahl gehabt. Die hatte man immer.

»Tut mir leid«, meinte er schließlich. »Es war nicht als Vorwurf gemeint. Ich freue mich wirklich, dich zu sehen. Egal, warum du damals im Hupschrauber die Raketen abgeschossen hast.«

»Gibst du mir etwa die Schuld, dass unsere Befreiungsaktion gescheitert ist?«, fragte sie mit erhobener Stimme. »Hast du schon vergessen, dass du es warst, der uns mit seiner selbstmörderischen Aktion am Hochhaus fast umgebracht hat? Ich habe es nur durchgezogen, das ist alles. Am Ende habe ich die Scheiße hier«, sie machte mit dem Finger eine kreisende Geste um ihr vernarbtes Gesicht, »dir zu verdanken.«

Das saß. Und ließ sich nicht leugnen.

»Entschuldige. Du hast recht. Und im Grunde war es ja eh schon zu spät gewesen. Man hatte sie bereits vorher nach CUBA gebracht. Deswegen habe ich Violettes Auftrag übernommen.«

In Cathrines Gesicht spiegelte sich Verwirrung. »Das kapier ich nicht.«

Melvin holte tief Luft und erzählte ihr von CUBA , das nicht Kuba war, der Einrichtung, in der die Körper der Bunkereinwohner als Organlager vorgehalten wurden. Auch von Violettes »Bestellung«, die in weniger als neun Stunden den Tod von Kim und Lena zur Folge haben würde.

»... daher brauche ich deine Hilfe. Um Kim, Lena und die anderen zu befreien. Nur dafür lebe ich noch. Falls man es so nennen kann. Auf Violettes Unterstützung kann ich jetzt wohl nicht mehr zählen.«

»Hm ...« Sie knetete wie früher nachdenklich mit den Fingern ihre Unterlippe. »Die Schlampe hätte dir sowieso nicht geholfen, sondern dir lachend die ausgebluteten Körper der beiden vor die Füße geklatscht, so wie ich sie kenne. Aber von CUBA habe ich schon gehört. Das ist ein Stadtteil, den man im Osten am Rand zur Steppe gebaut hat. Extrem gut gesichert. Hohe Mauern, Wachen, Stacheldraht. Das volle Programm. Mir war nicht klar, dass die dort lebenden Menschen als Ersatzteillager dienen und dass es die ehemaligen Bunkereinwohner sind. Bist du da sicher?«

»Ein Stadtteil?«, hakte er verwundert nach. »Ich hatte angenommen, dass es eher eine Sammlung von Nährstofftanks ist, in denen man die Körper aufbewahrt oder so was.«

»Nein. Das macht keinen Sinn.« Sie schüttelte entschlossen den Kopf. »Das wäre zwar möglich, aber im großen Stil technisch extrem aufwendig und teuer. Ein paar Tausend Menschen in einem Lager gefangen zu halten, ist viel simpler. Wenn du mich fragst, war das schon immer die Aufgabe unseres Fake-Bunkers gewesen: Kräftige, menschliche Ersatzteillager züchten. Und nebenbei eine lukrative Realityshow betreiben. CUBA ist vermutlich einfach ein zweiter Standort oder das Nachfolgeprojekt. Nur mit weniger Publicity. Die hat sich dank uns am Ende als ziemlich problematisch erwiesen. Wer weiß, vielleicht glauben die Menschen da drin sogar, auf der Insel Kuba zu leben. Genau wie wir damals dachten, in einem Bunker aufzuwachsen.«

Bei dem Gedanken schluckte er. »Du meinst ... das, was uns dieser Reporter damals als erste Geschichte versucht hatte zu verkaufen, war schon deutlich näher an der Wahrheit, als wir annahmen? Und all unsere Freunde ... unsere Eltern, die den Bunker verlassen mussten, ... die sind alle ...«

»... zerlegt worden wie Schweine im Schlachthof? Scheiße, ja, ich befürchte, so ist es. Nur das ergibt einen Sinn und erklärt, warum wir nicht in der Lage waren, die kleinste Spur von ihnen zu finden.«

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