Verräterische Kameradschaft

Du solltest dich jetzt stellen.

Dieser eine Satz seiner KI hallte in seinem Kopf nach. Bloodhound hatte er getötet. Das war offensichtlich. Und sicherlich auch den Vater. Aber warum konnte er sich an nichts erinnern? Und diese fremden Erinnerungen, die ihn währenddessen überschwemmt hatten, die fühlten sich real an. Viel wahrhaftiger als die Horrorszene, in der er mit seinem Maschinenkörper in diesem Moment hockte.

»Was genau hast du denn gesehen?«, wollte seine KI wissen.

Das ging das verräterische Teil Elektroschrott einen Keks an. Wer war es denn eben gewesen, der ihm die Luft abgedreht hatte? Für einen Augenblick genoss er das Hochgefühl, ein Geheimnis zu haben, von dem der Computer in seinem Kopf keine Ahnung hatte. Zum ersten Mal, solange er sich erinnern konnte.

»Mama?« Dieses Wort, das der Junge mit zittriger Stimme ausstieß, holte ihn zurück aus seinen Gedanken.

Vorsichtig rollte er den schweren Elitesoldaten zur Seite. Darunter kam die Frau zum Vorschein, auf die sich Bloodhound gestürzt hatte. Eine breite schwarze Lache hatte sich um ihren Körper gebildet und die Matratze vollständig durchweicht. Aber ihr Rücken hob und senke sich minimal. Sie lebte!

»Worauf wartest du? Hilf ihr!«

Hast du nicht eben behauptet, ich hätte sie zerfleischt? Ich dachte, du wärst im Gegensatz zu mir die ganze Zeit dabei gewesen?

»Mama!« Dieses Mal war die Stimme des Jungen deutlich kräftiger. Er krabbelte über die durchnässten Laken zu seiner Mutter und streichelte ihren Kopf. »Mama? Bist du okay?«

Endlich löste auch Melvin sich aus seiner Schockstarre. Mit eingefahrenen Krallen half er der Frau vorsichtig auf den Rücken. Sie hustete, riss die Augen auf und drehte den Kopf suchend von links nach rechts.

»Was ...? Killian!« Mit beiden Händen holte sie ihren Sohn zu sich heran und küsste ihn. Sie richtete sich halb auf und hielt ihn in Armeslänge vor sich. »Geht es dir gut?«

»Ja, aber Papa ...«, mit zitterndem Finger deutete er auf den Mann, der zusammengesunken an der Wand lehnte. Tränen benetzten seine Wangen.

Erst jetzt schien sie Melvin zu bemerkten, umarmte ihren Sohn und schob sich mit den Füßen rückwärts, bis sie von der Wand aufgehalten wurde. Kein weiteres Wort verließ ihre zusammengepressten Lippen. Kein Vorwurf. Kein Flehen. Sicherlich hatte sie schon früher mit Soldaten wie mit seinem Trupp zu tun gehabt. Ihr war klar, dass jedes Wort falsch wäre und zum Tod oder Schlimmeren führen konnte. Für die brennende Mischung aus Abscheu und Angst, die aus ihren Augen sprachen, brauchte es jedoch keine Worte. Und jedes Wort, das er selbst verlöre, wäre genauso falsch wie seine Taten es waren.

»Das würde ich auch so sehen. Und jetzt solltest du dich wirklich stellen.«

Sollte er das? Vermutlich. Er hatte einen Blackout gehabt und dabei einen Kameraden und einen Zivilisten getötet. Damit war er eine Gefahr für die Truppe. Langsam, um die beiden nicht weiter zu verängstigen, erhob er sich mit einem schmatzenden Geräusch aus der tiefen Pfütze.

»Schön, dass du das einsiehst. Jetzt verstehst du vielleicht auch, warum ich versucht habe, dich außer Gefecht zu setzen.«

Außer Gefecht? Du hast versucht, mich umzubringen! Was für ein verlogenes Teil.

»Nein, ich hätte nur gewartet, bis du ohnmächtig wirst. Du bist viel zu teuer, um dich ohne weitere Untersuchung komplett abzuschalten.«

Na danke. Aber warum ist eigentlich noch keiner der anderen hier? Und warum hörte er keine Funksprüche? Das Kommunikationsmodul musste beschädigt sein. Aber seine KI hatte recht, er sollte seinen Captain informieren und sich untersuchen lassen.

Langsam drehte er sich um und trat durch den abgeschnittenen Vorhang in den Wohnraum. Fliegen schwirrten um die fünf Schüsseln. Bei näherer Betrachtung merkte er, dass nur zwei Gefäße mit Löffeln am Rand des Tisches standen. Die anderen drei waren in der Mitte platziert. Sie beinhalteten eine größere Menge Brei, gebratenes Gemüse und Brot. Verflucht. Es war für zwei Personen gedeckt – nicht für fünf. Entweder Bloodhound hatte ebenfalls nicht so genau hingeschaut oder das Ganze nur als Ausrede genutzt. Aber vorhin waren doch in allen Schüsseln Brei und Löffel gewesen oder nicht? Erstaunlicherweise gab es dazu keinen besserwisserischen Kommentar der KI. Und? Hakte er daher geistig nach. Habe ich mich oder Blood sich geirrt?

»Ich denke, deine Schlussfolgerung ist korrekt«, bestätigte die KI. »Es war nur für zwei gedeckt.«

Was nicht wirklich die Frage beantwortete. Also noch mal ...

»Razorclaw!«, unterbrach ihn die gedämpfte Stimme Warhammers von draußen. »Bist du in Ordnung? Von Bloodhound empfange ich keine Lebenszeichen.«

Daran hatte er nicht mehr gedacht. Ihr Combat-Link verband die taktischen Systeme aller Soldaten und übertrug nicht nur Funk, Bilder und Positionen, sondern auch Vitalwerte. Seine Verbindung war offensichtlich beschädigt worden, als er sein Visier inklusive der Elektronik abgerissen hatte.

»Ja, ich bin in Ordnung«, rief er und stapfte in Richtung des grellen Rechtecks, das auf den Platz führte. »Alle Gegner eliminiert. Bloodhound hat es erwischt.«

»Es? Du warst das. Und nach ›dich stellen‹, klingt das für mich nicht.«

Seine Gedanken rasten. Was sollte er tun? Von seinem Aussetzer erzählen? Wie konnte er Frau und Kind schützen?

»Moment!«, setzte er laut hinzu. »Ich hole Blood, ist eine ziemliche Schweinerei hier drinnen.«

»Was hast du vor?«

Das solltest du doch wissen, oder nicht? Damit ging er zurück in das finstere, blutbesudelte Schlafzimmer, in dem die beiden erneut zusammenzuckten, als er wieder auftauchte. Mit einem weiteren Schritt war er an der Falltür und hob die Holzbohlen an.

»Los!«, zischte er sie an und deutete auf das schwarze Loch vor ihm. »Runter in das Versteck! Dort seid ihr sicher.«

»Razor!«, kam ein erneutes Rufen seines Captains. »Was zur Hölle machst du? Komm raus!« Und leiser: »Frost? Rip? Geht nachschauen, was unser Kugelfang da drin treibt. Seid vorsichtig.«

»Du handelst gegen einen ausdrücklichen Befehl und hilfst dem Feind«, schlug seine KI in die gleiche Kerbe.

Nein, ich gehe ja raus, aber das hier sind Zivilisten, keine Feinde.

»Es sind Kollaborateure. Sie hatten Terroristen versteckt.«

Währenddessen lösten Mutter und Sohn sich aus ihrer Starre und kletterten zügig hinunter. Melvin beachtete seine KI nicht weiter. Leise schloss er die Klappe und schleifte mit einiger Mühe die Matratze, auf der Bloods Leiche lag, darüber.

Keine Sekunde zu früh. Frostbite und Riptide drängten sich mit angelegten Sturmgewehren durch den Durchgang. Zwei Ameisenköpfe mit glühenden Augen, nur unterscheidbar durch die aufgemalten Rufnamen.

»Razor!«, es war Frostbite, deren weibliche Stimme blechern aus ihrem Helmlautsprecher drang. »Alles in ...«

Sie brach ab. Vermutlich erfasste sie erst jetzt die gesamte Szene. Das Schlafzimmer, das einem Schlachthaus glich, und Melvin, aus dessen Helm abgerissene Kabel anstelle des Visiers hingen.

»Was zur Hölle ist hier passiert?!«, fragte sie und behielt das Gewehr auf ihn gerichtet.

»Ich weiß es nicht. Mein Visier hatte einen technischen Defekt und dann habe ich keinen Sauerstoff mehr bekommen. Daher musste ich es entfernen. Als ich aufgewacht bin, war Bloodhound tot«, antwortete er und hielt sich dabei an die Wahrheit – jedoch nicht an die Reihenfolge. »Ich gebe Warhammer später einen Bericht. Los, lasst uns Blood rausbringen.«

Er verließ sich darauf, dass seine KI nicht mit den anderen sprechen konnte, da sein Combat-Link defekt war.

»Das stimmt. Aber früher oder später wird das repariert und dann werde ich einen vollständigen und wahrheitsgemäßen Bericht abgeben. Und das solltest du besser auch tun.«

Seine beiden Kameraden schwiegen ein paar Sekunden. Vermutlich tauschten sie sich über Funk mit Warhammer aus. Endlich senkten sie ihre Waffen und er merkte, wie seine Spannung minimal nachließ.

»In Ordnung, Razor«, durchbrach Frostbite die Stille, »trag seinen Körper nach draußen zum Transporter. Wir folgen dir und ziehen dann ab.«

Das war logisch. Er war mit seinen Motoren wesentlich kräftiger als die beiden. Und so konnten sie ihn von hinten im Blick behalten.

»Alles klar«, antwortete er knapp, hob die schlaffe, noch tropfende Leiche auf seine Arme und ging zwischen ihnen hindurch. Im Wohnzimmer drehte er sich nochmals um, bevor er in den grellen Lichtkeil treten würde. Einer seiner Kameraden zog in diesem Moment die Matratze zur Seite und deckte die Falltür auf. Die beiden sprangen auf und hoben ihre Sturmgewehre. Verflucht! Er würde alles darum geben, zu hören, was sie jetzt über Funk besprachen. Vermutlich Ähnliches, wie er vorhin mit Bloodhound.

»Razor, stopp«, hielt ihn Riptide mit seinem blechernen Bass zurück, »hast du die Klappe schon untersucht?«

Lügen würde weder ihm noch den beiden dort unten helfen.

»Stimmt.«

»Ja. Da drin hatten sich die drei Terroristen versteckt, die wir erledigt haben. Mehr war da nicht«, zum damaligen Zeitpunkt, fügte er in Gedanken hinzu. »Los. Lasst und zusehen, dass wir wegkommen, ehe hier noch mehr von dem Gesocks aufschlägt.«

Damit wendete er sich scheinbar gelassen wieder um und tat so, als ob er desinteressiert in Richtung Ausgang marschierte. Hoffentlich fragten sie sich nicht, warum die Matratze auf der Falltür lag, wenn er sie doch bereits untersucht hatte.

»Für wie dumm hältst du deine Kameraden? Außerdem hast du dort eine breite Schleifspur aus Blut hinterlassen.«

Von hinten hörte er das Quietschen der Scharniere, das ihm bestätigte, dass die beiden seiner Aussage nicht trauten. Kein Wunder. Erneut drehte er sich um. Frostbite hockte neben der Klappe und hatte sie eine Handspanne breit angehoben. Riptide sicherte aus zwei Schritt Entfernung mit dem Gewehr. Oh, Fuck. Sie würde doch nicht ...? Doch. Sie würde. In diesem Moment zog seine Kameradin eine Sprenggranate von ihrem Brustgurt, die damit automatisch entsichert war.

»NEIN! STOPP!«, brüllte Melvin und ließ die Leiche fallen.

Bumm.

Er saß hinten in einem antiquierten Kampfhubschrauber und raste auf die verspiegelte Front eines Wolkenkratzers zu. Der Fake-Bunker. Dort waren Lena und Kim gefangen. Aber in wenigen Sekunden würden sie sich selbst befreien können. Das Ziel all seiner und Cathrins Anstrengungen.

Mit einem roten Fadenkreuz markierte ihr Pilot den Einschlagspunkt mittig auf der Fassade. Rund fünf Meter über dem Gehweg, auf dem sich in diesem Moment die Passanten umdrehten und mit den Fingern auf sie zeigten. Dort standen Familien. Mütter, die ihre Kinder an der Hand hielten. Väter, die Kinderwagen schoben. Teenager, die ahnungslos mit dicken Kopfhörern und gesenkten Blicken nichts von dem drohenden Unheil bemerkten.

„NEIN! STOPP!" Die Worte schossen in einem heiseren Schrei aus Melvins Kehle, ohne, dass er darüber nachdachte. Nicht noch mehr Tote! Er hatte genug Unschuldige auf dem Gewissen. Das war es nicht wert!

„Doch", es war Cathrine, die das sagte. In diesem Augenblick löste sie ihren Anschnallgurt und hechtete vorwärts zwischen die Pilotenstühle. Mit wutverzerrtem Gesicht drückte sie den roten Knopf am Steuerknüppel und brüllte: „ER MUSS STERBEN! JETZT!"

Einen Wimpernschlag später zerplatzte die Fassade des Hochhauses in einem Feuerball. Im letzten Moment zog der Helikopter hoch, durchstieß Feuer und Rauch, die ihm entgegenschossen. Sie schafften es nicht. Die Trümmer der Explosion zerstörten ihre Triebwerke. Einen Augenblick schienen sie schwerelos zu schweben, dann stürzten sie Heck voran zu Boden.

Das Heben und Senken seiner Brust, war das Letzte, was er vor dem Aufschlag spürte. Seine letzten Atemzüge als echter Mensch.

Bumm.

Die Zeit war stehen geblieben. Zumindest schien es so. Frosts Hand schwebte weiterhin über dem Spalt der Falltür. Mit einem einzigen, gezielten Gedankenbefehl schoss er zwei Miniraketen auf die Soldaten vor ihm. Seine Sturmgewehre sprangen aus den Armen.

Zu spät. Die Granate verschwand im schwarzen Schlitz.

Lena! Kim! Nein! Während Riptide in Zeitlupe sein eigenes Gewehr herumschwenkte, zogen die zwei Treibladungen in glühenden Parabeln auf die beiden zu. Melvin stürzte ungeachtet des Infernos, das sich in Sekundenbruchteilen ausbreiten würde, nach vorne. Das strophoskopartige Mündungsfeuer Riptides blitzte auf. Geschosse prallten funkenschlagend von seiner Panzerung ab. Seine fingerlangen Raketen fanden nahezu gleichzeitig ihre Ziele. Die doppelten Detonationen ließen die Körper seiner Kameraden zerplatzen und hämmerten ihm entgegen. Melvin wurde zur Seite geschleudert und riss seine Arme schützend vor das Gesicht. Jetzt war auch der Zeitzünder von Frosts Granate im Kellerloch abgelaufen. Eine weitere Explosion verwandelte die hölzerne Falltür, sowie alles, was sich in dem Erdloch befunden haben mochte, in zahnstochergroße Splitter. Holzreste und Steine prasselten auf ihn herab. Ein Fiepen füllte seine malträtierten Trommelfelle und verdrängte alle anderen Geräusche.

In diesem Moment wurde eine Reihe greller Löcher in die Hauswand gestanzt und zog unerbittlich auf ihn zu. Das Maschinengewehr auf ihrem Militärtruck! Keine Zeit nachzudenken. Die uranverstärkten Zwanzigmillimeter-Geschosse würden ihn genauso durchlöchern, wie alles andere. Noch nicht wieder ganz bei Sinnen sprang er auf und hetzte vorwärts. Es gab nur einen Ort in diesem Haus, der ihm – zumindest kurzzeitig – Schutz bieten würde.

Mit zwei langen Sätzen katapultierte er sich hoch und winkelte die Beine wie beim Weitsprung an. Die Geschosse des panzerbrechenden MGs, die quer durch die Gebäudefront gezogen wurden, erreichten seine Position.

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