Mobile Artillerie
»Melvin«, meldete sich seine lästige KI, während er das Gesagte sacken ließ. »Sie sagt dir nicht die Wahrheit. Ihre Körpersprache ist eindeutig.«
Aber du bist immer ehrlich mit mir, ist klar. Vorhin hast du mir noch einreden wollen, Kim und Lena gäbe es nicht, und dass ich für Geld für Violette arbeiten würde. Was für ein Schwachsinn. Dem verlogenen Teil glaubte er kein Wort mehr. Sie wollte ihn um jeden Preis zum Militär zurücklotsen. Dafür log sie wie gedruckt und redete ihm alles ein, was ihr gerade in den Kram passte. Cathrine war seine Chance, in CUBA einzudringen, um seine Familie und die anderen zu befreien. Punkt.
»Was ist?«, fragte ihn seine ehemalige Kameradin. »Warum sagst du nichts?«
»Entschuldige, ich war in Gedanken.« Sollte er ihr von der KI erzählen? Besser nicht. »Aber egal wie es in CUBA aussieht. Dort finden wir Kim, Lena und vermutlich auch alle anderen.«
»Wir?«, sie schaute ihn an.
»Ja, sicher. Wir. So wie früher. Oder willst du die Chance verstreichen lassen, die anderen rauszuholen? Uns bleiben trotz allem nur neun Stunden und noch ist es dunkel draußen. Das müssen wir ausnutzen! Bei Tageslicht ist es viel schwieriger. Und wie du gemerkt hast, bin ich nicht so leicht aufzuhalten.«
Sie kaute auf ihrer Lippe herum. Mit einem Ruck stand sie auf und lief durch das Zimmer. »Fuck. In Ordnung. Es ist jetzt fast fünf. Die Sonne geht erst gegen acht auf. Eine halbe Stunde brauchen wir zur Vorbereitung, eine weitere dauert die Fahrt. Dann bleibt uns vor Ort noch eine Stunde, bevor es langsam hell wird. Das muss reichen. Aber wir können dort nicht mit der ganzen Mannschaft aufmarschieren, sonst sitzen uns direkt die scheiß Cops oder deine Freunde vom Militär im Nacken.«
»Danke, Cath!« Erleichterung durchströmte ihn. Er erhob sich ebenfalls und trat vor, um sie zu umarmen.
Sie schrak zurück, hob ihre Arme und schob ihn weg. »Uh ... was ...?«
»Entschuldige, ich dachte ...«
»Ist schon gut«, langsam legte sie ihre flache Hand erst auf seinen zerbeulten Brustpanzer und dann – zögerlich – auf seine Wange. »Tut mir leid. Deine Erscheinung ist ein wenig ... einschüchternd. Ich kümmer mich jetzt um die Orga. Du wartest. Okay?«
Nickend trat er zurück und setzte sich wieder. Cathrine verschwand aus der Haustür und rief draußen etwas Unverständliches. Falls es noch eines weiteren Beweises bedurft hätte, dass Menschen nichts mehr mit ihm anfangen konnten, so hatte er ihn gerade bekommen. Er gehörte nicht mehr zu ihnen. Für sie war er nichts als ein Kampfroboter mit Menschenkopf. Ein Monster. Lena, Kim und die ehemaligen Bunkerbewohner würde er befreien. Koste es, was es wolle. Aber das wäre seine letzte Aktion in dieser Welt, die nicht die seine war. Was danach kam, wusste er noch nicht genau. Vielleicht würde er zurückkehren in den Dienst des Militärs. Dort hatte man wenigstens Verwendung für ihn. Seine Kameraden sahen ihn nicht als gleichwertig, aber zumindest hatten sie einen gewissen Respekt und keine Furcht.
Die nachfolgende Ewigkeit in dem leeren Raum war für ihn die persönliche Hölle. Seine Gedanken drehten sich im Kreis und er fragte sich, ob sie überhaupt die geringste Chance hatten, die anderen zu befreien. Hinzu kam, dass seine KI die Stille nutzte und die ganze Zeit auf ihn einredete. Sie versuchte, seine Idee über die Rückkehr zum Militär zu verstärken und ihm die angeblich unmögliche Rettung auszureden.
Nach einer Viertelstunde hielt er es nicht mehr aus. Falls er hier weiter im Kreuzverhör seiner inneren Stimme schmorte, würde er ihr womöglich noch Glauben schenken. Fluchtartig lief er zum Eingang und trat hinaus.
Auf der anderen Straßenseite sah er Cathrine mit zwei Gangmitgliedern vor dem Kofferraum einer älteren Limousine. Ein weinrotes, automatisch fahrendes Modell mit einigen Beulen, das im Stadtverkehr nicht auffallen würde. Neben ihr standen der Glatzkopf in der Jeansweste, der vorhin als Erster hineingestürmt war, sowie eine zierliche Frau in den Dreißigern mit asiatischen Gesichtszügen und kinnlangem Haar. Die eckige Datenbuchse in ihrem Nacken deutete darauf hin, dass sie vermutlich eine Hackerin war. Gerade luden sie eine längliche, verschlossene Sporttasche sowie ein Sturmgewehr mit Granatwerfer in den Kofferraum.
Seine ehemalige Kameradin schaute auf. »Melvin. Alles in Ordnung? Wolltest du nicht warten?«
»Tut mir leid, aber die Warterei halte ich nicht aus. Kann ich irgendwie helfen?«
»Wir sind im Prinzip fertig. Darf ich vorstellen: Das hier ist Clyde.« Der glatzköpfige Muskelmann nickte ihm zu. »Er war einer der Ersten, den ich von der Straße geholt habe, um meine eigene Crew aufzubauen. Inzwischen ist er clean und unser Mann fürs Grobe. Sie heißt Aiko. Hat schon öfters für uns gearbeitet und ist eine Cyberfee. Im letzten Monat haben wir sie rausboxen müssen, knapp, bevor die Cops ihre Wohnung zerlegt und die Ausrüstung beschlagnahmt haben. Jetzt wohnt sie ebenfalls hier.«
»Nur übergangsweise«, ergänzte Aiko.
Cathrine rollte mit den Augen. »Natürlich. Nur bis die Dinge sich beruhigt haben. So wie alle hier. Und das«, sie deutete auf Melvin und wendete sich an die anderen, »ist Melvin. Unsere Kavallerie. Ich habe euch ja schon erzählt, woher wir uns kennen.«
Er nickte den beiden zu, verzichtete nach dem Erlebnis mit Cathrine jedoch darauf, ihnen die Hand zu geben, wie er es normalerweise getan hätte. »Vielen Dank, dass ihr uns unterstützt. Ich weiß nicht genau, was uns erwartet, aber jede Hilfe ist willkommen.«
»Es gibt hier kein uns. Wir tun's für Red«, stellte Clyde klar. »Is ja nicht anzunehmen, dass es in diesem CUBA viel zu holen gibt.«
Kurz blickte Cathrine sich um. »Ich denke, wir sind fertig und können starten. Nur Clyde und Aiko begleiten uns. Mit dir auf dem Beifahrersitz ist das Auto voll und alles andere wäre zu auffällig. Eines noch, Melvin: Ich bin Red und niemand anderes. Klar?«
Erneut bestätigte er das Gesagte mit einem stummen Nicken. Das sollte ihm recht sein. Für ihn würde sie immer seine Cath bleiben, aber gedanklich versuchte er, sich an Red zu gewöhnen, um es nicht zu verwechseln. Ihr vertraute er, was er von den anderen halten sollte, wusste er noch nicht. Das beruhte dann wohl auf Gegenseitigkeit.
Kurz darauf saß er auf dem Beifahrersitz in der Limousine und hatte den Sitz komplett nach hinten geschoben. Trotzdem stießen seine metallischen Knie an das Armaturenbrett. Mit einem leisen Surren schoss das Fahrzeug durch die Nacht. Es reihte sich außerhalb des Viertels in den spärlichen Verkehr auf der Interstate ein und glitt im weiten Bogen auf einer Hochstraße durch die Stadt. Über ihnen schossen wendige Flugtaxen, Drohnen und fette, düsengetriebene Vertikalstarter dahin. Neben ihnen zogen kreischendbunte 3-D-Animationen vorbei, die für Wunderzahnpasta, billige Anwälte und Fingernageldisplays warben. Dazwischen konnte er schwarze Hochhausblöcke erkennen, in denen einzelne Fenster beleuchtet waren. Es war Viertel vor sechs und die Ersten standen auf, um sich für die Arbeit fertigzumachen. Nicht die beste Zeit für ihre Aktion.
»Wir nähern uns CUBA«, durchbrach Cathrins – nein, Reds – Stimme die angespannte Stille.
Selbst seine KI hatte es zwischenzeitlich aufgegeben, ihn zu belabern. Vermutlich sah sie ein, dass sie ihn von dieser Aktion nicht mehr abhalten konnte.
»Wir fahren jetzt runter und suchen einen ruhigen Abschnitt an der Mauer«, fuhr sie fort. »Aiko? Bringst du uns auf den neusten Stand, was du in der Kürze der Zeit bezüglich der Sicherheit rausfinden konntest?«
Die Asiatin trug eine der durchsichtigen Datenbrillen, auf deren Innenseite sich vorbeilaufende Zahlenkolonnen und Grafiken spiegelten. »Also ... viel ist es leider nicht. CUBA, das Corporate Urban Bio Asylum, scheint großen Wert auf die Privatsphäre seine Einwohner zu legen. Das gesamte Areal umgibt eine fünf Meter hohe Mauer, die natürlich komplett von Kameras überwacht ist und unregelmäßig von Drohnen kontrolliert wird. Sollte es irgendwo ein Problem geben, ist innerhalb von dreißig Sekunden eines dieser Biester vor Ort, um die Situation in Augenschein zu nehmen. Der konzerneigene Wachdienst verfügt über schnelle Senkrechtstarter und kann bei Bedarf in maximal zwei Minuten jeden Mauerabschnitt erreichen, um Eindringlinge zurückzuschlagen. Ich weiß nichts Genaueres über deren Bewaffnung, aber ich würde davon ausgehen, dass sie massiv ist. Also sollten wir uns nicht erwischen lassen. Aus dem gleichen Grund wäre es auch keine gute Idee, ein Loch in den Beton zu sprengen. Das würden die innerhalb von Minuten abriegeln. Der einzige, offizielle Eingang ist daher ebenfalls keine Option für uns. Einschleichen mit falschen Identitäten wäre vielleicht möglich gewesen – aber nicht in der Kürze der Zeit.« Sie warf einen Blick über den Brillenrand zu Melvin. »Und mit unserer mobilen Artillerie erst recht nicht.«
»Kannst du die Kameras nicht ausschalten oder so was?«, fragte er.
»Klar, wenn ich meine Ausrüstung und ein paar Tage Zeit hätte ...«
»Ich denke trotzdem«, mischte sich Clyde ein, »dass das der richtige Weg ist. Ich könnte von einem Hausdach einen Kameramast zerschießen. Damit habt ihr dreißig Sekunden Zeit, um rüberzuklettern und euch zu verstecken. Wie es auf der anderen Seite aussieht, wissen wir natürlich nicht. Oder Aiko?«
»Leider nein. Auf Satellitenaufnahmen ist das ein weißer Fleck und in die Systeme konnte ich mich, wie gesagt, auf die Schnelle nicht reinhacken.«
Melvin überlegte. »Okay. Die fünf Meter schaffe ich. Wie ist das mit euch?«
»Kein Problem«, antwortete Red. »Rein kommen wir also. Lena und Kim zu finden, geschweige denn alle zu befreien, steht auf einem anderen Blatt.«
»Die Mauer kriege ich kaputt«, meinte Melvin und klopfte auf seine Schultern. »Einen der Flieger der Wachtruppe runterzuholen, sollte auch noch drin sein. Und dann würde ich sie einfach alleine so lange aufhalten, wie es geht.«
Sie schaute zu ihm rüber. »Das wäre glatter Selbstmord.«
»Ich bin doch schon zu Neunzigprozent tot«, entgegnete er. »Mir geht es nur um meine Familie und die anderen. Je mehr wir retten können, desto besser. Das reicht mir.«
»Okay«, stimmte sie zu. »Clyde? Du bleibst auf dem Dach und hilfst Melvin aus der Distanz. Aiko? Du folgst mir. Vielleicht kommst du drinnen ins Netz und kannst uns helfen, die anderen zu finden oder zumindest etwas Chaos stiften.«
Die Asiatin grinste. »Chaos stiften, ist meine Spezialität.«
»In Ordnung. Alles andere wird sich ergeben. Falls es gut läuft, kann Melvins Familie mit unserem Auto flüchten. Es kann nicht getrackt werden und bringt die beiden ins Redder-Viertel. Dort sind sie sicher. Wir kommen schon klar und folgen später. Falls weitere ehemalige Bunkerbewohner fliehen können, sind die auf sich gestellt. Mehr können wir nicht für sie tun. Alle einverstanden?«
Der Reihe nach nickten sie, während Red ihren Blick durch den Innenraum gleiten ließ. Bei Melvin verharrte sie einen Moment länger, sagte jedoch nichts und zeigte keine Regung. Kein aufmunterndes Lächeln oder nochmaliges Nicken. Sie trug ein Pokerface, das dem Violettes in nichts nachstand. Offensichtlich hatten sie sich beide deutlich mehr verändert, als er ursprünglich wahrhaben wollte – und das nicht nur körperlich.
Inzwischen schlängelte sich ihr Fahrzeug durch die typischen schmalen Gassen zwischen den Wohnblöcken und vermied die Hauptstraßen. Vielleicht hatte Aiko bei der Steuerung ihre Finger im Spiel. In diesen finsteren Schluchten konnte er sich schwer ausmalen, dass nur wenige Hundert Meter entfernt, eine Art Freiluftgefängnis stand. Was die Anwohner wohl dachten, wenn sie aus den oberen Stockwerken einen Blick auf den abgeschotteten Stadtteil warfen? So recht wollte diese Vorstellung nicht in seine Gedanken passen. Die mussten doch etwas merken, oder nicht?
Ehe er den anderen die entsprechende Frage stellen konnte, wurde ihr Auto langsamer und hielt am Ende einer Gasse. Die Mauer war von hier nicht zu sehen.
»Wir haben um die Ecke geparkt, damit uns nicht versehentlich Kameras oder Drohnen erfassen«, erläuterte Red.
»In Ordnung«, meinte Clyde und öffnete die Tür. »Ich such mir nen Posten und check die Lage. Haltet euch solang bedeckt. Besonders du, Melvin, wir wolln ja nich, dass hier ne neugierige Oma vor Schreck noch die Cops ruft. Sobald ich mich melde, muss es schnell gehen.«
Melvin konnte im Spiegel sehen, wie der Glatzkopf zum Kofferraum ging, und eine der langen Sporttaschen herausholte. Dann verschwand er um eine Hausecke. Erneut flossen die Minuten zäh dahin, ohne dass sie sprachen.
»Das ist jetzt deine letzte Gelegenheit, es dir anders zu überlegen«, gab seine KI ungefragt zu bedenken. »Da vorne warten keine Unschuldigen auf dich, die du einfach so abschlachten kannst. Die Wachen werden sicherlich über ausreichend Feuerkraft verfügen, um dich zu zerstören. Das solltest du vermeiden.«
Sie hatte ausnahmsweise recht. Aber es war ihm egal. Sobald er Kim und Lena befreit hatte, konnte mit seinem Körper passieren, was wollte. Falls er später noch lebte, würde er sich Gedanken um seine Zukunft machen. Und falls nicht – dann war das für ihn ebenfalls in Ordnung.
In diesem Moment drehte sich Red um. »Clyde ist angekommen. Aber ich befürchte, wir haben ein massives Problem.«
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