Künstlicher Galgenhumor
Im Sprung zog Melvin seine Beine hoch und nahm die Arme schützend vor den Kopf. Den Winkel schien er richtig abgeschätzt zu haben. Das schwarze Loch des Schachts näherte sich rasant. Mit einem harten Schlag wurde sein Kopf herumgerissen und aus der klaren Flugbahn wurde ein wildes Taumeln. Dann krachte er mit seinen angewinkelten Schienbeinen an die Kante des Einstiegs. Ein Schrei entwich seiner Kehle, da die Sensoren den Aufschlag als Schmerz übertrugen. Er versuchte, sich festzuhalten, aber kippte nach hinten, sodass er mit dem Rücken voran in den Schacht fiel. Mit seinen krallenbewährten Händen griff er nach den vorbeirauschenden Wänden. Schlug sie in den Stein, um sich zu bremsen. Die Klauen rissen erfolglos den Putz herunter, ohne ihn zu verlangsamen. Rums. Mit einem harten Schlag auf seine Wirbelsäule endete der Sturz. Staub und Geröll prasselten herab, nahmen ihm Atem und Sicht. Ruhe kehrte ein.
Hustend und spuckend drehte er sich auf alle viere. Er fuhr die Krallen ein und wischte sich den Dreck aus dem Gesicht. Sämtliche Körperteile schmerzten. Es waren nur simulierte Gefühlseindrücke, die er mit einem gezielten Gedanken wegwischte. Sie sollten ihn darauf aufmerksam machen, dass auch sein Roboterkörper nicht unzerstörbar war. Als reiner Mensch hätte er sich sprichwörtlich alle Knochen gebrochen und spätestens mit dem Aufschlag den Schädel gespalten. So hatte nur seine Panzerung diverse Dellen abbekommen. Die Gliedmaßen funktionierten noch.
»Korrekt. Du bist weiterhin voll bewegungsfähig, obwohl die Wahrscheinlichkeit dafür weniger als zehn Prozent betrug«, kommentierte die KI seinen Zustand.
Die Hoffnung, dass der Sturz dieses lästige Bauteil zerstört hatte, erfüllte sich nicht. Von oben hallte das Hämmern des schweren MGs herunter. Was zum Teufel glaubten die, war außer ihm noch in dem Haus? Ein Terroristen-Bataillon? Ein Blick zur Decke zeigte ihm den Schacht, der an der minimal helleren Öffnung endete, in die er gesprungen war. Das waren maximal drei Meter.
Erst jetzt schaltete er die Taschenlampen wieder ein und machte sich mental auf einen unschönen Anblick gefasst. Die Granate würde von der Familie nicht viel übrig gelassen haben. Was er sah, hatte jedoch nichts mit dem erwarteten Erdloch oder Keller gemein, den er erwartet hatte. Wände und Boden waren aus grobem, grauem Beton gefertigt. Weder gab es Blutspuren noch Möbel. Er befand sich im toten Ende eines Korridors, dessen Mauern er mit ausgestreckten Armen berühren konnte. Allerdings wurde der Gang in drei Schritten Entfernung von einer Stahltür blockiert.
Bumm.
Der Bunker. Wie ein ruheloser Geist rauschte er durch endlose schwarze Flure. Nur einzelne Funzeln, die mehr Schatten als Licht verbreiteten, unterbrachen die Finsternis. Das einzige Grün waren schleimige Moose, die trotz fehlenden Tageslichts an den feuchten Betonmauern emporkrochen. Es öffnete sich ein leeres Zimmer mit einer fleckigen Matratze, das er gemeinsam mit Lena und ihrem zweijährigen Sohn bewohnte. Seine Gedanken kehrten zu seiner Arbeit als Wartungstechniker zurück, die seine Tage neben dem militärischen Drill füllte. Zu seiner Hoffnung, mit seiner kleinen Familie im Bunker alt werden zu können. Zu seiner ständigen Angst, als Nächster zum Militärdienst eingezogen zu werden und damit die Sicherheit der schützenden Wände zu verlieren. Seine Familie verlassen zu müssen und in einem unbekannten Krieg zu sterben.
War er wieder zu Hause? Wo waren Lena und Kim?
Bumm ... Bumm Bumm ...
Bilder brachen über ihn herein und rauschten vorbei wie das Daumenkino, das sie in der Schule selbst gebastelt hatten. Ein leeres Militärlager. Er hetzte, immer mehrere Stufen auf einmal nehmend, eine wackelige Feuerleiter an der Außenseite eines Hochhauses herunter. Schüsse. Ein Mann, der in seinen Armen mit zerschnittener Kehle stirbt. Käfigkämpfe. Die Erkenntnis, dass Lena und Kim bald aus dem Fake-Bunker geholt und nach Kuba verfrachtet würden.
Eine Frau mit lila Haaren und Iriden in der gleichen Farbe. Violette.
Ein Loch, groß wie ein Fußballfeld am Fuß eines Kraters. Eine Familie, die sich wie im Trance hineinstürzt. Treppen und Gänge, die immer tiefer führen. Eine Explosion. Das Militär. Der Kampfhubschrauber, der auf das Hochhaus zufliegt ... Cathrine ...
Bumm ... Bumm Bumm ... Bumm ... Bumm bumm ...
Tief die Luft einsaugend, wie ein Ertrinkender, den man in letzter Sekunde rettete, mit aufgerissenen Augen und rasendem Herzen schreckte Melvin hoch. Keuchend stützte er sich an der Wand ab. Der flackernde Mahlstrom aus Erinnerungen verblasste und hinterließ eine Mischung aus dumpfer Verzweiflung und dem Hochgefühl, sich endlich erinnern zu können. An alles.
Der Bunker existierte nicht. Hatte nie existiert. Und den Krieg hatte es ebenfalls nie gegeben. Das waren Lügen. Die Wände hatten keinen Schutz geboten, sondern waren ein Gefängnis gewesen. Genauso erlogen wie alles andere, aus dem sein Leben bestanden hatte. Alles und jeder hatte ihn betrogen und verraten. Zum Schluss sogar seine treue Kameradin Cathrine, mit der er gemeinsam geflohen war.
Jeder – außer Lena und Kim. Seine Familie. Sein Leuchtfeuer, an dem er sich seit seiner Flucht orientierte. Für deren Befreiung er alles geben würde. Alles. Für sie hatte er am Ende sein Leben gegeben. Oder zumindest seinen Körper vom Hals abwärts. Und er hatte sich für 132 Jahre zum Militärdienst verpflichtet, um sich die Chance offen zu halten, sie zu finden. Als halbe Maschine. Aber hatte er sie befreit? Oder waren sie in Kuba, wie im Fernsehen angekündigt? Er wusste es nicht. Noch waren nicht sämtliche Erinnerungen glasklar erfassbar, doch was auch immer sein Gedächtnis blockiert hatte – es war verschwunden.
Für den Moment hatte er drängendere Probleme. Das MG-Feuer war verklungen. Es wäre maximal eine Frage von ein bis zwei Minuten, bis man ihr hier rausholen oder direkt die nächste Granate hineinwerfen würde.
»Ich tippe auf Letzteres. Du bist offensichtlich schizophren und hast Wahnvorstellungen. Dein Erinnerungsblocker ist intakt. Was auch immer du dir einbildest – es ist nicht echt. Außerdem bist du ein Landesverräter und eine Gefahr für die Allgemeinheit. Ein Monster. Ich bin leider nicht in der Lage dich aufzuhalten, aber das werden die anderen gleich erledigen.«
Klar, da will ich Menschenleben retten und jetzt bin ich angeblich ein durchgeknalltes Monster und eine Gefahr.
»Du hast einen Zivilisten und drei Kameraden kaltblütig ermordet. Schon vergessen? Und für die letzten beiden kannst du dich nicht mit einem Blackout rausreden. Das war Absicht.«
Ja, verdammt. Du hast oft genug miterlebt, wie Bloodhound und die anderen sich verhalten haben. Eigentlich hätten sie längst vor ein Kriegsgericht gestellt werden müssen. Das hätte sie ebenfalls zum Tode verurteilt. Außerdem wollten sie die Frau und das Kind grundlos umbringen. Es sind zu viele Unschuldige gestorben. Genauso wie man Lena und Kim töten will – oder vielleicht schon getötet hat. Aber solange auch nur die geringste Chance besteht, dass die beiden noch leben, werde ich sie retten. Nicht nur sie. Im Fake-Bunker haben zweitausend Personen gelebt. Unvorstellbar, dass die alle umgebracht wurden, ohne dass jemand etwas gemerkt hat. Glaub mir, ich werde sie finden und befreien und dafür werde ich so monströs werden, wie ich muss. Und jetzt halt den Rand, ich habe zu tun.
Mit zwei langen Schritten war er an der Panzertür. Die war erwartungsgemäß verschlossen. Von der Sprenggranate hatte sie nicht mehr als ein paar Kratzer abbekommen. Daher machte er sich keine Illusionen, sie zerschießen zu können. Aber wie war die Frau mit ihrem Sohn hindurchgekommen? Und warum waren die drei anderen vor dem Angriff nicht gemeinsam mit ihnen geflohen, statt im Schlafzimmer und in diesem Raum zu verharren? Dafür gab es nur eine Erklärung: Die Tür ließ sich nicht von dieser Seite öffnen. Vermutlich war erst zu spät jemand hier angekommen, um die fünf durchzulassen. Aber dieser jemand hatte Mutter und Sohn vor Kurzem gerettet.
Fieberhaft suchte er nach einem Mechanismus oder einem Spalt, wo er einen Hebel ansetzen konnte. Vergeblich. Die Tür war aus glattem Panzerstahl und fugenlos in den Rahmen eingepasst. Es gab weder Griffe noch sichtbare Elektronik. Das eiserne Bollwerk schützte den Gang dahinter, damit Soldaten wie er nicht Eindringen konnten.
»Razorclaw?«, erklang die heisere Stimme seines Captains. »Wir werfen dir eine Leiter runter. Komm langsam raus.«
Mist. Seine Zeit war abgelaufen und ihm fehlte ein Plan B. Schnell löschte er seine eigenen Taschenlampen und sah, wie zwei Kegel von oben den Schutthaufen in der Mitte beleuchteten. Eine Strickleiter mit eisernen Stufen entrollte sich aus dem Loch in der Decke und schlug mit einem metallischen Klirren auf dem Boden auf.
Oben waren sie nur noch zu zweit. Warhammer und Frostbite. Kämen sie runter, hätten sie keine Chance gegen ihn. Kletterte er hinauf, konnten sie ihm direkt den Schädel wegschießen. Deren Verstärkung würde eine Weile benötigen, um anzukommen.
»Razor. Bist du in Ordnung? Warum kommst du nicht rauf? Sag was.«
Klang da echte Besorgnis aus der Stimme? Hatten die nicht mitbekommen, wer die anderen getötet hatte? Denkbar wäre es.
»Ich an deiner Stelle würde raufklettern. Er klingt ehrlich besorgt«, kam der erwartbare Kommentar.
Ja, natürlich. Du suchst ja auch nach einer Möglichkeit mich abzuschalten, nicht wahr? Damit hatte er seine Antwort. Allerdings half ihm das nicht weiter. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die versuchen würden, ihn auszuräuchern oder besser: zu sprengen. Jeden Augenblick konnte hier unten eine Granate landen. Und dieses Mal vermutlich keine einfache Splittergranate, die ihm nicht viel anhaben konnte, sondern eine Panzermine oder Ähnliches. Blöd waren die beiden da oben nicht.
»Razor. Wir geben dir zehn Sekunden«, kam die entsprechende Ansage.
Ihm blieb nur noch eine Möglichkeit. Alles oder nichts.
Mit der eisernen Faust hämmerte Melvin gegen das Stahlblech und schrie: »Hey, lasst mich durch! Ich bin auf eurer Seite. Ich habe die Frau und das Kind gerettet! Hallo! Macht auf!«
Damit war es raus. Er hatte seine Wahl getroffen. Falls auf der anderen Türseite niemand zuhörte, dann war es eh zu spät. Für Warhammer und Frostbite hatte er ein klares Zeichen gesetzt.
»Oder man hört dich, traut aber einem zwei Meter zwanzig großen Militärcyborg nicht über dem Weg.«
Entwickelst du jetzt auch noch Galgenhumor?
»Hey! Lass mich rein«, brüllte er nochmals kräftig hämmernd.
Klonk. Das kam nicht von der Tür. Eine rot blinkende Metallkapsel in Konservengröße war in der Mitte des Schutthaufens gelandet. Scheiße. Mit einem Hechtsprung warf er sich in Richtung Granate, ergriff sie mit der Hand und warf sie noch im Sprung nach oben, zurück durch den Schacht. Ha! Schluckt euer eigenes Gift!
Der Metallzylinder flog aufwärts, schien die eckige Öffnung zu erreichen. Kurz vor dem Ende prallte er an den geborstenen Resten einer Stufe ab und fiel wieder herab. Oh, Fuck. Ein ohrenbetäubender Knall und die Druckwelle der Detonation schleuderten ihn krachend gegen die gegenüberliegende Mauer. Erneut hörte er nicht mehr als ein langgezogenes Piepen, während er sich hustend aufrappelte.
Der Sprengkörper war noch im Schacht explodiert. Putz und Steine polterten herunter. Im Licht seiner Taschenlampen bildeten die Brocken in der Raummitte einen größeren Haufen. Aber die nächste Granate würde nicht lange auf sich warten lassen und hätte vermutlich einen kürzeren Zeitzünder eingestellt. Er war geliefert. Das mit der Rettung von Lena und Kim würde nichts werden und ...
»Los! Worauf wartest du?«, kam eine flüsternde Stimme aus der Dunkelheit.
Im Lichtkegel seiner Lampe stand die gepanzerte Tür schulterbreit offen. Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Mit den Händen stieß er sich von der Wand ab und sprang in dem Moment über den Schutthaufen, als von oben die nächste, blinkende Dose herabfiel.
Anzahl Wörter: 8.000 (Törööö)
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