Heißkaltes Donnern
»Schön. Und jetzt? Du hast nur noch vier Minuten«, ätzte seine KI.
Ob die Zeit ausreichen würde, wusste Melvin auch nicht, während er sich umdrehte und grob in Richtung der Außenmauer sprintete. Der Mauer, die dem Stadtkern gegenüberlag und an die Wüste grenzte.
Seine Beine wirbelten trommelnd über den Straßenbelag, sein Körper war schräg nach vorne gelehnt. Er beschleunigte seinen Roboterkörper auf die maximale Geschwindigkeit von fast fünfzig Kilometern pro Stunde und ließ die Wachen hinter sich. Das Piepen seines Armdisplays wies ihn darauf hin, dass er damit viel Energie verbrauchte und demnächst einfach zusammenklappen würde. Aber das gesamte Areal hatte einen Durchmesser von rund zwei Kilometern. Selbst wenn er kurvigen Straßen folgen musste, sollte er es in ein bis maximal zwei Minuten durchquert haben. Netterweise gab es keinen Verkehr und aufgrund der niedrigen Kuppeldecke konnte der Sicherheitsdienst hier keine größeren Flugobjekte einsetzen. Ob die Richtung exakt stimmte oder nicht, darauf kam es nicht an.
Die Außenmauer schälte sich im Dämmerlicht zwischen ein paar höheren Bäumen hervor. Auch auf dem künstlichen Himmel kündigte sich der Sonnenaufgang langsam an. Mit einem kurzen Gedanken schoss er seine letzte Rakete knapp über dem Boden auf die Betonbarriere und lief, ohne innezuhalten, hinterher. Aufblitzen und die knallende Detonation folgten. Falls er die Bombe nach draußen werfen konnte, sollte die massive Wand das Gröbste abhalten.
»STOPP!«, brüllte seine KI und er bremste bereits im gleichen Augenblick, sprang ab und streckte seine Beine schräg nach vorne. Erdreich spritzte auf und wurde in einer Fontäne davon geschleudert, als er seine Hacken in den Boden rammte. Mit versteiftem Körper kam er knapp vor der Wand zum Stehen. Erde und letzte Betonbrocken von der Explosion prasselten auf ihn herab.
Vor ihm führte kein rettendes Loch in den goldenen Sonnenaufgang in der Wüste. Seine letzte Rakete hatte einen tiefen Krater in den Stahlbeton gefressen – aber ihn nicht durchschlagen.
»Noch zwei Minuten. Falls du die Bombe jetzt liegenlässt und nochmals in Höchstgeschwindigkeit davonrennst, solltest du es schaffen können. Es sei denn, der Rucksack beinhaltet einen mikrothermonuklearen Sprengkörper. Dann dürfte selbst das knapp werden«, schlug seine KI mit ruhiger Stimme vor. »Vielleicht findest du irgendwo einen Keller, um der Druckwelle aus dem Weg zu gehen. Die Strahlung wäre ein Thema für sich.«
Zwei Minuten. Scheiße. Aber Keller. Das war das Stichwort. Nochmals sprintete er los. Auf das Geratewohl nach rechts. Hoffentlich war seine Theorie richtig, ansonsten würde es ihn gleich in seine Moleküle zerlegen. Schon nach zweihundert Metern wurde er fündig: Ein runder Kanaldeckel. Er hackte seinen Finger unter und warf die Betonabdeckung zur Seite. Ohne sich damit zu beschäftigen, wie tief der Schacht sein könnte, sprang er in das Loch. Alles, was die folgende Explosion dämpfen würde, war gut.
Betonwände rauschten an ihm vorbei. Dann schlug er mit den Füßen auf und rollte sich ab. Es waren maximal drei Meter gewesen. Nicht viel höher als sein Sprung vorhin aus dem ersten Stock. Im Licht seiner aufflammenden Taschenlampen zeigte sich ein eckiger Korridor mit einem grün-bräunlichen Streifen kurz unter der Decke. Der Gang kam von außen und verlief in Richtung Zentrum des Villenviertels.
»Noch eine Minute dreißig. Jetzt lass das Teil liegen und klettere wieder hoch«, forderte seine KI. Doch er hatte andere Pläne.
Erneut beschleunigte er seine Schritte, den Korridor hinab, unter der Mauer durch. Wohlwissend, dass es für ihn selbst keine Rettung gab. Aber mehr Abstand war besser.
Weit kam er nicht. Nach nur fünfzig Metern endete der Gang in einem runden Raum mit einem Schott, unter dem Feuchtigkeit hervorsickerte sowie einem halben Dutzend sternförmiger Abzweigungen. Das war sicherlich ein anderer Raum als damals mit Roger und Sue, aber das Prinzip war das Gleiche. Falls er die Schleuse aufsprengen und die Gänge mit Wasser fluten könnte, wären die Menschen in den Häusern gerettet. Selbst wenn es sich um eine Mini-Atombombe handelte, wie seine KI angedeutet hatte. Die Masse von Hunderttausenden Kubikmetern Flüssigkeit würde definitiv die Druckwelle abfedern.
»Noch eine Minute. Wenn du jetzt Gas gibst ...«
Mit ein paar schnellen Schritten war er beim Schott. Es sollte ausreichen, wenn die Bombe nahe genug dran lag. Falls sie nicht so potent war, wie befürchtet, konnte hier unten vor der Mauer nicht mehr viel passieren. Und falls doch, würde sie gleich den Stahl zerreißen wie Papier. Er öffnete den Rucksack. Im Inneren lag eine dicke Metallröhre, die etwa den Umfang eines Kinderkopfes hatte. Beide Seiten waren mit Metallkappen verschweißt. Ein Display, Kabel oder Ähnliches suchte er vergebens. Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, legte er die Röhre auf den Boden und wendete sich ab. Sofort sprintete er einen im spitzen Winkel von der Schleuse abknickenden Gang hinab. So hätte er zumindest relativ viel Erde zwischen sich und dem Zentrum der Explosion.
»Dreißig Sekunden«, informierte ihn die KI leidenschaftslos, während der Korridor an ihm vorbeiflog.
»Zwanzig.«
Er sprintete an einer Kreuzung vorbei, abbiegen würde ihm nicht helfen.
»Zehn.«
Das dringende Piepen seines Armdisplays drang warnend zu ihm durch, aber ihm fehlte die Zeit, darauf zu schauen.
»Fünf.«
Er bremste, ging in die Hocke, nahm die Arme vor den Kopf und machte sich so klein wie möglich. Zum Glück trug er noch den Helm.
»Zwei.«
»Eins.«
Nichts geschah.
»Die Zeitangabe von Cathrine war vermutlich nicht ...«, begann die KI.
Sie wurde von einem tiefen Donnern und Grollen unterbrochen, das eine erste Schockwelle durch seinen Körper schickte. Wände und Boden erzitterten, als würde sich ein Gewitter direkt über ihm entladen. Scheiße. Das klang ganz und gar nicht nach einer kleinen Rohrbombe. Eher nach der von seiner KI befürchteten Mikro-Atombombe. Wie viele Kilotonnen mochte die ...
Wie der Baseballschläger eines Giganten schlug ihm eine Druckwelle in den Rücken und schleuderte ihn wie den Schlagball durch den Gang. Er prallte hart an Wände, Boden und Decke, als wäre er eine Flipperkugel. Augenblicke später brandete glutheiße Luft über ihn hinweg. Seiner Kehle entrang sich ein Schrei, als sich die Hitze durch die Ritzen an seinem Helm fraß und sich daran machte, ihn den Kopf vom Rumpf zu schweißen.
Immer weiter kullerte er über die Steinplatten am Boden, bis er irgendwann zum Erliegen kam. Die Gluthitze klang ab und ein wohltuender kühler Luftzug folgte. Er lebte. Das war weit mehr, als er erwartet hatte.
»Das ist tatsächlich erstaunlich, allerdings wird das vermutlich nicht lange so bleiben. Es gibt einen Grund für den Luftzug.«
Leider hatte es auch seine KI mal wieder überstanden. Und ... oh, verflucht. Da hatte sie recht. Das Wasser! Schwimmen gehörte zu den Dingen, die sein massiver Roboterkörper keinesfalls konnte.
Er bemühte sich, seine Glieder zu entrollen, aber sie reagierten nur zögerlich und quietschend. Dieses Mal war er definitiv nicht schadlos aus der Aktion herausgekommen. Offenbar waren viele seine Servomotoren außer Funktion und das Metall hatte sich verzogen. Sein Körper war ein einziger Schmerz, womit ihm angezeigt wurde, dass er dringend eine Reparatur benötigte. Trotzdem erhob er sich langsam in einen halbwegs aufrechten Stand. Das linke Bein ließ sich nicht mehr durchdrücken und sein Rückgrat blieb leicht gebeugt. Auch funktionierte nur noch eine der Taschenlampen.
Ehe er sich orientieren konnte, walzte bereits eine kniehohe Welle durch den Gang und hätte ihn beinahe von den Beinen gerissen. Er musste dringend hier raus! Sobald er einmal umfiele oder das Wasser zu hoch stieg, würde er ertrinken. Mit der Lampe leuchtete er zur Decke, die sich nur wenige Zentimeter über seinen Scheitel befand, auf der Suche nach einem Wartungsschacht zum Herausklettern. Währenddessen stieg ihm die kalte Flüssigkeit bereits zur Hüfte. Dort! In nur fünf Schritten Entfernung sah er ein schwarzes Loch im Beton, durch das er sich retten könnte. Leider lag es entgegen dem Strom. Von seiner letzten Wanderung hier unten wusste er noch, dass der nächste Schacht stromabwärts mindestens zweihundert Meter entfernt läge. Da könnte er genauso gut am anderen Ende des Universums liegen.
Mühsam kämpfte er sich mit protestierenden Gelenken und verbogenem Bein gegen die Wassermassen an. Er hatte es bis hier überstanden, also würde er den Rest ebenfalls schaffen. Inzwischen erreichte der Wasserspiegel seine Rippenbögen. Nur noch ein paar Hinkeschritte. Zu mehr war er nicht fähig. Noch ein Meter. Seine glühende Halskrause wurde von kühlem Nass überspült. Um nicht im eigenen Helm zu ertrinken, riss er ihn herunter. Gleich. Gleich war er angekommen, aber jeder Schritt wurde schwerer und das Wasser drückte gegen seinen gesamten Körper. Er musste bereits den Kopf recken, um zu atmen. Zwischen seiner Nase und der Decke lagen nur wenige Handbreit Luft.
Endlich. Das Loch war zum Greifen nahe, aber das Wasser stieg unbarmherzig. Ein letztes Mal atmete er tief ein und hielt die Luft an. Schob sich Hinkeschrittchen für Hinkeschrittchen weiter an die rettende Öffnung. Mit den Händen tastete er die Betondecke entlang. Da! Er hatte den Durchbruch erreicht. Mit fahrigen Fingern suchte er nach einer Metallsprosse, um sich hochzuziehen. Hoffentlich war nicht gerade hier die unterste weggerostet.
Seine Hand packte rundes Metall, während in seinem Brustkorb alles danach schrie, durchzuatmen. Er zog sich wie in Zeitlupe vorwärts, die verbleibenden Motoren protestierten. Endlich bekam auch die zweite Hand eine Sprosse zu fassen und er konnte sich mit einem Klimmzug in den Schacht ziehen.
Uff. Durchatmen war angesagt. Die plätschernden Wellen echoten in der engen Röhre. Aber noch war es nicht überstanden. Langsam zog er sich hoch, wobei ihm jetzt das Wasser mit dem Auftrieb half. Einige Herzschläge später hatte er sich die ersten Sprossen hochgehangelt und setzte bereits den Fuß auf die unterste Stufe.
Im Trockenen drang das energische Piepen seines Armdisplays überdeutlich zu ihm durch. Endlich hatte er die Muße, einen kurzen Blick darauf zu werfen. Hätte er es besser nicht getan. Neben diversen kritischen Fehlermeldungen und Systemausfällen blinkte die rote Energieanzeige: Zwei Prozent.
Okay, er musste hier raus. Schnell. So gut es ging, kletterte er zum Ende des Revisionsschachtes. Der Deckel saß fest. Mist. Es war nicht unwahrscheinlich, dass der Zugang unter einer Sanddüne verschüttet lag. Nochmals hämmerte er auf den Stahl in der Hoffnung, dass er nur festgegammelt war und sich lösen würde. Immer wieder schlug er zu, bis die Anzeige auf ein Prozent sank. Bewegen tat sich nichts. Auch hörte er keinen Widerhall. Das sprach leider dafür, dass der Deckel von irgendwas bedeckt wurde.
Das ließ nur eine Schlussfolgerung zu: Diese enge Röhre würde zu seinem Grab werden.
Um nicht ins Wasser zu fallen, wenn ihm gleich die Energie ausginge, hakte er sich mit beiden Armen unter die Sprossen und verkantete sie. Zumindest war er sicher, dass er Kim und hunderte Menschenleben gerettet hatte. Auch Cathrine hatte sich in Sicherheit gebracht. Lena war ihm egal, sie war eine Verräterin und Lügnerin, genau wie alle anderen seiner Weggefährten. Sie hätten es verdient, im atomaren Feuer auf ewig geröstet zu werden.
Aber wer weiß, vielleicht fand hier irgendwann jemand den Roboterkörper mit seinem mumifizierten Schädel.
»Endlich siehst du es ein. Ich hoffe, dass es das Militär sein wird. Dann hätte zumindest ich meine Aufgabe erfüllt. Das hättest du auch wirklich einfacher haben können.« Damit verstummte die KI.
Zusammen mit ihrem Schweigen fiel die Anzeige auf null Prozent, flackerte kurz und erlosch.
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