Mirage
"Mir geht es dank dem Antibiotikum schon besser und ich wollte sowieso mit dir reden. Persönlich ist am Besten. Mein Vater hat mir gesagt, dass ein Junge bei uns herumspioniert hat. Und du darfst gerne raten auf wen seine Beschreibung passt. Ich habe dich nicht verpfiffen und ich bin dir wirklich dankbar, für deine Hilfe, aber du hast mich echt enttäuscht. Also beim Jugendtreff hast du gesagt? Ich bin wie du weißt neu hier, schick mir mal die Adresse rüber. Und warte dort auf mich, ich werde kommen."
Ich habe gehofft, dass Dr. Markow mich durch Laras komische Kraft vergessen oder nie gesehen hat. Klingt zwar ziemlich unlogisch, aber woher soll ich schon wissen, wie ihre Kraft genau funktioniert? Jetzt kann man an der Tatsache auch nichts mehr ändern. Ich schreibe Sarah die Adresse des Jugendtreffs. Es ist der perfekte Zeitpunkt mit ihr zu reden, auch wenn sie aufgebracht ist.
"Von wem hast du eine Nachricht bekommen?", fragt mich Hannah.
"Von Sarah. Wir treffen uns im Jugendtreff. Ihr Vater hat mich in der Villa gesehen und sie scheint ziemlich aufgebracht zu sein. Da wir jetzt sowieso ein Team sind, kannst du auch direkt mitkommen."
"Sicher? Ich weiß nicht, ob es für Sarah angenehm ist, wenn ich bei eurem Gespräch dabei bin"
"Im Gespräch werden Themen fallen, die noch viel unangenehmer sind. Da macht das auch nichts mehr aus."
Hannah nickt zustimmend und wir gehen die Treppe hinunter und verlassen das Haus. Es ist wahrscheinlich etwas fies zu denken, dass uns Hannahs Mutter nicht mit noch einem Gespräch aufgehalten hat, aber ich bin einfach zu aufgeregt, um mich darauf einzulassen.
"Was willst du ihr eigentlich genau sagen?", fragt mich Hannah plötzlich auf dem Weg zur Haltestelle.
"Alles. Ich möchte sie nicht in Gefahr bringen, indem ich ihr Dinge verschweige, die ihren Vater und seine Machenschaften angehen. Außerdem hoffe ich, dass sie uns auch noch Dinge erzählen kann."
Hannah schaut mich zweifelnd an. "Denkst du nicht nicht, dass du etwas zu optimistisch bist? Sie ist ziemlich aufgebracht und nicht jeder glaubt dir so schnell wie ich. Ich hätte dir auch nicht geglaubt, wenn du nicht mein bester Freund wärst. Außerdem reden wir hier immer noch über ihren Vater und nicht über eine wildfremde Person."
"Das weiß ich alles. Aber wenn wir jetzt nicht anfangen, wann dann? Lara zählt auf mich. Sarah ist möglicherweise in Gefahr. Und nicht nur Sarah. Je nachdem was ihr Vater anstellt, könnten viele Personen noch in Gefahr sein. Wir müssen es einfach tun", sage ich, während ich nachdenklich auf den Boden schaue.
Wir sind bei der Bushaltestelle angekommen und fahren zum Jugendtreff. Ich kann es kaum erwarten, bis wir endlich mit Sarah reden können. Wir betreten den Jugendtreff und setzen uns auf die große, schwarze Couch in der Mitte des Raumes, vor der ein runder, roter Tisch steht.
Es ist Samstag und das kann man anhand der Lautstärke auch gut merken.
Auf der einen Seite spielt eine Gruppe von Jugendlichen an den Kickertischen und lachen, in der anderen Ecke sitzen Bruno und seine "Handlanger" und diskutieren über den letzten Spieltag der Bundesliga und auch sonst hört man viel Gerede und Gelächter. Die Lautstärke ist sicherlich nicht wirklich optimal, um sich zu unterhalten, aber immerhin wird keiner auf uns achten.
Gerade als ich Sarah schreiben wollte, ob sie bald da ist, sehe ich wie Hannah gespannt zur Tür schaut. Sarah betritt den Jugendtreff und sieht uns in der Mitte des Raumes sitzen und kommt zu uns rüber. Ich bin aufgeregt, aber auch glücklich. Weil sie wirklich gekommen ist und weil es so aussieht, als ob es ihr besser geht.
"Hey Florian. Und Hey..", Sarah schaut fragend in Hannahs Gesicht.
"Ich bin Hannah. Tut mir leid, dass ich auch da bin, Florian und ich waren sowieso verabredet und.." - "Das macht mir überhaupt nichts aus", unterbricht Sarah ihren Satz und lächelt freundlich. "Ich bin sauer auf Florian, nicht auf dich. Es ist schön, dass wir uns kennenlernen. Ich habe dich in der Schule gesehen, du gehst auch in unsere Klasse."
Hannah nickt bestätigend und Sarah setzt sich ebenfalls auf die Couch.
"Also Florian. Magst du mir jetzt vielleicht erklären, warum du, direkt nachdem ich eingeschlafen bin, auf die Idee kamst, mein Zuhause zu durchsuchen und wie ein Geist plötzlich zu verschwinden? Ich möchte dich nicht beleidigen, weil du bist dahin einen sehr netten Eindruck gemacht hast, aber das ist eine unglaublich eklige Aktion von dir", sagt Sarah, während sie mich unglaublich vorwurfsvoll anschaut. Und ich kann es ihr ja schlecht verübeln.
Ihre Blicke durchbohren mich. Jetzt wäre der perfekte Moment gekommen, um ihr alles zu erzählen, doch ich zittere und bekomme kein Wort raus. Die Anspannung in mir ist größer, als ich es für möglich gehalten hätte.
"Dafür bin ich jetzt also hierher gekommen, damit du nichtmal eine Entschuldigung rausbekommst. Dann kann ich ja direkt wieder gehen".
Gerade als Sarah aufstehen möchte, hält Hannah sie auf.
"Bleib bitte hier, es ist wirklich wichtig. Florian hatte seine Gründe und die wird er dir jetzt auch nennen."
Sarah setzt sich wieder hin und schaut mich weiterhin fragend an.
"Was ist eigentlich mit deiner Schwester, die recht abgeschottet von dem Rest der Villa, auf der obersten Etage, ihr Zimmer hat? Geht es ihr gut?"
Sie schaut mich einfach nur mit großen Augen an. Durch diese Reaktion bereue ich es direkt, diese Frage gestellt zu haben. Sie erwartet eine Entschuldigung und ich frage Sachen über ihre Schwester. Vielleicht sollte ich es wirklich ausprobieren hauptberuflicher Stalker zu werden?
Doch auf einmal antwortet Sarah doch darauf.. und die Frage war ein absoluter Volltreffer.
"Schwester? Ich bin ein Einzelkind. Und die oberste Etage habe ich seit wir in die Villa gezogen sind noch nie betreten. Meine Eltern meinen, dass sie absolut abbruchreif ist und bald renoviert wird. Was mich bei der Villa nicht wundert. Außer dem Eingangsbereich und dem Wohnzimmer sieht alles aus wie ne Baustelle. Wie kommst du darauf, dass dort jemand leben soll? Das ist absurd."
"Absurd ist es, dass dein Vater mir mit blutverschmiertem Kittel entgegenkommt, Blut das übrigens von Menschenexperimenten bei euch im Keller kommt, und dann versucht mich zu fangen. Und das deine Schwester, oder Nicht-Schwester, mich vor ihm rettet."
"Hast du vielleicht sonst noch Storys über meine Familie zu erzählen? Du hast noch nichts über meine Mutter gesagt. Ist sie vielleicht Drogendealerin? Und habe ich einen Halbbruder, welcher Auftragskiller ist?", fragt Sarah mich sehr wütend.
"Leute, bitte streitet euch nicht. Sarah, Florian würde sowas niemals einfach nur aus Spaß sagen. Es lebt wirklich ein Mädchen in eurer Villa und dein Vater hat miese Dinge am Laufen. Warst du jemals in seinem Arbeitszimmer in der Villa?", fragt Hannah um mir Rückendeckung zu geben.
Sarah steht vor Aufregung auf, hat aber nicht den Drang zu verschwinden.
"Nein. Nein, dort war ich noch nie. Mein Vater treibt Tierexperimente für einen Chemiekonzern in der Nähe dieser Stadt und ich soll mich nicht in seinem Labor aufhalten. Ich würde mich nur aufregen, weil ich Tiere liebe und ich habe mich nicht bei meinem Vater einzumischen. Das Blut kommt wahrscheinlich von toten Versuchstieren, auch wenn es das nicht wirklich schöner macht. Aber ein Mädchen, das in unserem Haus lebt.. das ist absolut ausgeschlossen. Das wüsste ich.."
Ich versuche wieder das Wort zu übernehmen. Hannahs Worte haben mir Kraft und Mut gegeben. Ohne ihre Rückendeckung, wäre das Gespräch vermutlich eskaliert.
"Was weißt du über eine Kinderpsychiatrie, in der dein Vater gearbeitet hat?", frage ich Sarah.
"Nicht viel. Es müsste 2007 sein, als er dort gearbeitet hat. Da war ich gerade 4 Jahre alt. Warum fragst du mich das?"
"Dort haben seine Menschenexperimente angefangen. Ich war damals selber in diese Psychiatrie eingewiesen. Genauso wie das Mädchen, Lara ist ihr Name, welches bei euch lebt."
Sarah schüttelt nur mit dem Kopf. "Es tut mir wirklich leid, aber ich kann es nicht glauben. Ja, mein Vater ist manchmal komisch. Und ja, er hat kaum Zeit für mich. Aber ein Mörder? Ein Psychopath? Das kann ich nicht glauben. Ich werde jetzt nach Hause gehen. Wir sehen uns in der Schule."
Sarah steht auf und geht in Richtung des Ausgangs. "Und Sarah? Meine "eklige Aktion" tut mir wirklich leid", rufe ich ihr hinterher. Sie lächelt mich an und verlässt den Jugendtreff.
"Das ging ziemlich schief, oder?", sagt Hannah zu mir, leicht spöttisch, aber dennoch enttäuscht.
"Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass wir Stand jetzt alles getan haben, was wir machen können.
Lass uns nach Hause gehen."
...
Es ist 22:30. Ich liege auf meinem Bett und schaue mir die schäbige Decke meines Zimmers an. Meine Eltern sind wohl schon längst schlafen und ich nutze die Stille, um meine Gedanken zu sammeln. Mein Vater, ein Mörder? Ein Mädchen, das hier bei uns lebt und ich noch niemals gesehen, geschweige denn gehört habe? Das ist absurd. Genauso absurd wie die Vorstellung, dass Florian und Hannah sich all die Mühe machen, um mir irgendeinen Streich zu spielen.
Klar, ich bin die Neue hier in der Stadt und an der Schule. Aber auf meiner alten Schule haben wir neuen Leuten auch Streiche gespielt und die gingen niemals so weit, dass wir erzählt haben, dass ihr Vater Menschenexperimente im Keller vollbringt. Ich möchte das Labor meines Vaters sehen. Alleine schon um die Bestätigung zu haben, dass ich Recht habe.
Ich gehe zum Eingang zum Keller, in dem sein Labor liegt und merke, dass die Tür nicht abgeschlossen ist. Noch ein Indiz dafür, dass mein Vater unschuldig ist. Welcher grausame Wissenschaftler lässt bitteschön die Tür zu seinem Labor offen?
Wahrscheinlich einer, der davon ausgeht, dass seine Tochter ihm auch so vertraut. Was mache ich hier eigentlich? Aber jetzt stehe ich bereits hier und ich gehe ins Labor. Ich möchte die Gewissheit.
Ich betrete das Labor und mir wird schlecht. Es ist das was ich erwartet habe, aber dennoch ertrage ich den Anblick kaum. Ich sehe Tierkadaver und teilweise noch lebende Mäuse in Käfigen, welche mein Vater für seine Versuche benutzt. Kann er die Tiere, wenn er sie schon tötet, nicht direkt entsorgen? Das ist grauenhaft. Auf einem Tisch stehen viele Reagenzgläser mit chemischen Flüssigkeiten, Spritzen und ich sehe ein Diktiergerät. Vermutlich um seine neusten Erkenntnisse aufzuzeichnen. Außerdem sehe ich noch einen Schreibtisch, auf dem ein Computer, einige Akten und Schreibmaterial steht. An der Wand stehen Schränke und im Raum stehen viele, gestapelte Kisten. Es ist einfach nur ein weiterer, schäbiger Raum in dieser Villa. Auch wenns wohl der ekligste ist.
Ich habe meine Erkenntnis. Ja, die Tierversuche sind widerlich. Aber mein Vater ist kein Menschenmörder und wenn er die Versuche nicht machen würde, würde es ein anderer tun.
Gerade als ich aus dem Labor verschwinden möchte, höre ich wie sich die Treppe zum Keller öffnet. Ich verstecke mich hinter den Kisten, um nicht gesehen zu werden.
Mein Vater kommt in Doktorkittel die Treppe hinunter und nimmt das Diktiergerät, welches auf seinem Tisch liegt und schaltet es ein. Um diese Uhrzeit?
"Dr. Markow, wenige Tage bis zum entgültigen Durchbruch des "Mirage Experiments". Die neusten Tests an Proband "Lara" zeigen, dass der Zeitsprung wirklich möglich ist. Es war nicht einfach, über viele Jahre hinweg mit dem Miragekondensator die Lebenskraft aus Testobjekten zu entziehen und Probanden zu verabreichen. Durch den.. Unfall.. in Rabenfeld und dem Austritt von Benedikt Wolfahrt aus dem Projekt, hat sich der Erfolg weit nach hinten geschoben. Aber nun stehen wir kurz vor dem womöglich größten Fortschritt, den die Menschheit und die Wissenschaft jemals hervorgebracht hat.
Mit dem Zeitsprung, kann die Geschichte so angepasst werden, wie der Anwender es möchte. Und Lara steht unter meiner Kontrolle. Es war nicht einfach, sie damals unbemerkt von meinem Labor in Rabenfeld hierher zu bekommen, gerade weil ich unter Beobachtung stand. Ich bin es leid, als Tarnung mit Tieren zu expermentieren, aber meine neuen Vorgesetzten haben ganze Arbeit geleistet. Doch werden auch sie am Ende meiner grenzenlosen Macht unterlegen sein. Markow Ende."
Nachdem er sein Diktiergerät hingelegt hat, dreht sich mein Vater zu den Kisten.
Den Kisten, hinter denen ich mit Tränen in den Augen, rassendem Herzen und zitterenden Beinen sitze.
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