1. Kapitel - Carlotta
Eben noch träumte die kleine Carlotta selig davon in einer duftenden Blumenwiese zu liegen und dabei die Sonne auf ihrer Nasenspitze zu spüren, als sie auf einmal aus dem Schlaf schreckte: Das Muschelhorn läutete wie jeden Morgen dröhnend den Beginn des Tages ein.
Müde blinzelnd wollte sie sich gerade noch einmal umdrehen, um weiterträumen zu können, da hatte sich auch schon jemand an ihrer Schlafmuschel eingefunden, um sie davon abzuhalten: "Aufstehen, Carlotta Kind", vernahm sie schläfrig die Stimme ihrer Großmutter. ,,Du weißt doch, was heute für ein wichtiger Tag ist."
Siedend heiß fiel es ihr wieder ein: Ihre Lieblingsschwester hatte heute ihren großen Tag. Virginie wurde 15. Da musste sie sich aber wirklich beeilen, schließlich wartete das Geschenk noch immer darauf eingepackt zu werden, sie hatte versprochen ihrer Großmutter bei den letzten Vorbereitungen zu helfen und zudem wollte sie sich zu diesem besonderen Anlass selbstverständlich besonders hübsch herausputzen. Es half alles nichts, weshalb sie ihren glitzernden Fischschwanz schließlich widerstrebend aus ihrer Schlafmuschel schwang, um müde in den Tag zu starten.
*
Virginie sah schlicht wunderschön aus. So herrlich und strahlend, dass man sie kaum direkt anzusehen vermochte. Fast noch strahlender und unberührter als ihre Schwestern an ihren 15. Geburtstagen, denn Virginie war viel sanfter und ruhiger in ihrer Art, anmutiger und schlichter in ihrem Auftreten. Sie hatte es sich schon immer zur Aufgabe gemacht, Carlotta jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Sie war immer für die Jüngere da und hatte stets ein offenes Ohr. Sie verurteilte Carlotta nicht für ihre Träumereien. Und im Gegenzug überschüttete Carlotta sie mit tiefer, schwesterlicher Zuneigung. Virgine war Carlottas Idol. Ihr Herzensmensch. Und Carlotta war Virgines.
Carlotta hatte ihre anderen Schwestern deswegen nicht weniger lieb, keineswegs, aber die engste Bindung bestand doch zwischen ihr und Virginie.
Deshalb war es auch umso schlimmer für Carlotta Virginie jetzt gehen zu sehen. Denn 15 zu werden hieß im Reich ihres Vaters nicht nur endlich einmal die Oberwelt mit eigenen Augen sehen zu können, sondern gleichzeitig im heiratsfähigen Alter angekommen zu sein. Der 15. Geburtstag der Meerjungfrauen war gleichzeitig dazu da, die Schönheit der Prinzessinnen anderen Meerprinzen anzupreisen.
Und genau das machte Carlotta Angst. Sie wollte Virginie nicht verlieren. Und konnte doch nichts dagegen tun.
Also zwang sie sich ein Lächeln ins Gesicht und gab sich dem großen Tag ihrer Schwester zuliebe Mühe. Immerfort war sie an ihrer Seite, hielt sich aber im Hintergrund, sorgte dafür, dass sie genug zu essen und zu trinken hatte und half Virginie die Geschenke und Glückwünsche entgegen zu nehmen.
Am Ende des Tages war Carlotta vom vielen aufrecht sein und dem ständigen Lächeln ganz müde. Und als der Zeitpunkt des Abschieds gekommen war, konnte sie ihre Trauer vor Virginie nicht mehr verbergen. Virginie wusste sofort, was in Carlotta vorging, ohne dass sie etwas sagen musste. Sie nahm sie einfach beruhigend in den Arm. "Ich komme doch wieder", murmelte sie warm an ihrem Ohr. ,,Vergiss das nicht. Ich bin immer für dich da."
Zenaidine und Yaiza nahmen Virginie in ihre Mitte und so schwammen sie gemeinsam in Richtung Oberwelt. Was für ein unwirkliches und gleichsam wunderschönes Bild. Alle hatten die gleichen ozeanblauen Augen, einen porzellanfarbenen Teint und pechschwarze Haare. Bei Zenaidine und Yaiza, den beiden älteren, umspielten diese sanft ihre Gesichter. Nur Virginie hatte ihr langes dichtes Haar zu einem Kranz geflochten, der mit Perlen durchwebt war. Ein letztes Mal lächelte sie Carlotta liebevoll an, hob die schmale Hand zum Abschied und war dann, gemeinsam mit den beiden anderen Schwestern, in den Weiten des Ozeans verschwunden. Carlotta blickte ihnen noch lange nach.
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