Zwischen Liebe und Leid
Als ich noch ein kleines Mädchen war, gab mir meine Mutter immer das Gefühl ich sei etwas Besonderes. Ich sei einzigartig und wunderschön und eine Bereicherung für die gesamte Menschheit. Jetzt denken sich viele von euch „Selbstverständlich, das macht doch jede Mutter!" . Doch NEIN, bei mir war es nicht diese Art von Mutterliebe. Es war anders. Es war seltsam. Es war meine Mutter!
Ich erzähle euch Mal nur eines von vielen seltsamen Ereignissen aus meiner Kindheit. Danach könnt ihr selbst urteilen ...
Meine Mutter war eine wunderschöne Frau. Sie hatte diese Art von Ausstrahlung, die alle Männer dazu brachte sie zu verehren und alle Frauen sie zu beneiden. Nur um euch ein kurzes Bild von ihr zu geben: Sie war groß und schlank, hatte langes blondes Haar und tiefgrüne, leuchtende Augen, ihre Haut war makellos, blass aber nicht unangenehm sondern eher wie samtweiches Porzellan. Alles was sie tat, wirkte elegant und mit voller Anmut. Sie dachte nicht großartig über ihre Bewegungen nach, aber es erschien immer sehr gewählt und vornehm. Der Klang ihrer Stimme war genauso edel wie ihr Erscheinungsbild. Sie sprach stets sanft in einem angenehmen Ton. Es war diese Stimme, der man gerne zuhört und dabei völlig entspannen konnte. Ich wundere mich gar nicht, dass mein Vater ihr verfallen war. Das klingt alles ziemlich perfekt, oder? Doch meine Mutter war alles andere als perfekt. Sie war genau das Gegenteil. Sie war unperfekt. Unperfekt, was für ein dämliches Wort, aber genau das trifft auf sie zu. Um wieder zu meiner eigentlichen Geschichte zukommen ...
Als kleines Mädchen dachte ich immer sie sei wohl die Beste Mom der Welt. Ich war echt zu beneiden! Sie war ein Engel, voller Liebe und Energie. Bis zu jenem Tag an dem ich anfing zu zweifeln.
Es war ein Monat vor meinem siebten Geburtstag der 05.April. An dem Tag wurde ich von meiner Rektorin mitten aus dem Unterricht geholt und meiner Mutter, die draußen auf mich wartete, übergeben. Ich erinnere mich, dass ich ziemlich überfordert mit der Situation war. Ich mochte die Schule. Warum holte mich meine Mutter so plötzlich ab? Hab ich einen Fehler gemacht? Ist etwas passiert?
Meine Mutter nahm meine Hand und führte mich zum Auto. „Mummy, was ist los?" fragte ich bisschen ängstlich. Sie antwortete nicht. „Mummy, wohin fahren wir?" fragte ich nochmals nervös. Sie antwortete nicht. Ich fühlte mich zum ersten Mal seit ich denken konnte unwohl in ihrer Nähe. Es war beängstigend. Sie war beängstigend. Ich denke nach einigen Minuten, ich bin mir heute nicht ganz sicher, da es mir wie eine Ewigkeit vorkam, lächelte sie mich mit ihrem schönsten Lächeln an und sofort verflog mein mulmiges Gefühl.
„Meine kleine Kirschblüte ..." fing sie melodisch an zu sagen. Sie nannte mich immer so. Ich hatte sie noch nie meinen Namen rufen hören. Ich vermute, es war seltsam für sie mich bei Namen zu nennen, da sie ja selber so hieß. Ja richtig, sie hatte mich nach sich selber benannt. Bis heute weiß ich nicht warum, aber was soll's. Es gibt ja tausende von Vätern, die dasselbe machten.
„Kirschblüte, neben dir liegt eine Tüte. Willst du mal nicht reinschauen?" fragte sie mich mit voller Freude.
Ich nahm die Tüte vom neben Sitz und schaute rein. Ich weiß noch, wie sehr ich mich über den Inhalt gefreut hatte und ich dachte mir in dem Augenblick „Ich bin das glücklichste Mädchen auf der Welt."
„Mummy, Mummy, das ist das Feenkleid, das ich haben wollte. Ouuuh, wie schön es ist!" schrie ich vor lauter Aufregung. Wenn ich heute daran zurück denke, war es albern, aber für mich wurde ein Traum wahr. Ich hatte dieses rosa Tutu und die glitzer Flügel vor einigen Wochen beim Shoppen mit meinen Eltern im Schaufenster entdeckt und seit dem Tag betete ich jeden Abend, dass mir doch der liebe Gott die Sachen kaufen möge. Klingt albern, aber was soll ich verheimlichen, so war es wirklich. Meine Eltern lebten sehr bescheiden. Auch wenn meine Mutter aus einer sehr vermögenden Familie stammt, führten wir ein normales, mittelständisches Leben. Mein Vater war Beamter im öffentlichem Dienst und meine Mutter Hausfrau. Also habe ich nicht immer alles bekommen wonach sich mein kleines Kinderherz gesehnt hatte.
„Zieh es doch an, mein Schatz. Wir feiern heute deinen Geburtstag!" lächelte sie mich sanft an.
„Ich hab doch erst nächsten Monat Geburtstag." sagte ich verwirrt. Hatte meine Mutter das Datum verwechselt?
„Schatz, du hast jeden Tag Geburtstag. Heute feiern wir den letzten Monat, in dem du sechs Jahre alt bist." antwortete sie mir belustigt. Ich lachte und zog mir ohne großartig Gedanken zu machen mein neues Feenkleid an. Warum nicht? Dann feiern wir heute halt meinen Geburtstag. Jedes Kind würde sich doch darüber freuen, wenn es nicht nur einmal im Jahr Geburtstag hätte. Ich war so ein Glückspilz!
Nach einer Weile hielten wir vor dem Tierheim an. Ich wusste genau, wo wir waren, da ich jedes Wochenende mit meinen Eltern hierher kam, um mit den Tieren zu spielen. Meine Eltern erlaubten mir nicht ein Haustier zu besitzen, da unsere 3-Zimmer Wohnung angeblich zu klein war. Doch das machte mir nichts aus, da wir so oft wie möglich das Tierheim besuchten.
Ich erinnere mich, dass wir stundenlang mit den Hundebabys spielten und der Besitzerin halfen die ganzen Tiere zu füttern. Es war so ein wunderschöner Tag, dachte ich mir damals. Irgendwann am Nachmittag verließen wir das Tierheim um was essen zu gehen. Wir kauften uns Hotdogs im Park und aßen sie auf einer Bank. Ich liebte Hotdogs. Ich konnte sie immer und überall essen. Ich war, um ehrlich zu sein, verrückt nach Hotdogs. Doch nach diesem Tag verließ mich das Bedürfnis nach Hotdogs und ich aß nie wieder einen. Nach diesem Tag besuchte ich nie wieder das Tierheim oder auch sonst ein anderes Tierheim. Nach diesem Tag änderte sich mein Leben. Nach diesem Tag änderte ich mich!
„Mummy, ich liebe dich über alles" sagte ich aus vollem Herzen. „Ich dich auch, meine wunderschöne Kirschblüte." antwortete sie mir mit ihrer sanften Stimme und für einige Minuten hielt ich es für den besten Tag meines Lebens. Doch wer konnte zu diesem Zeitpunkt ahnen, dass es der schlimmste Tag meines jungen und restlichen Lebens sein würde.
Plötzlich stand meine Mutter auf und hob mich auf ihre Arme. Ich krallte mich schnell an ihr fest, da es ein wenig unerwartet kam. Sie ging auf den See zu und einige Minuten beobachteten wir ruhig die Enten. Ich lockerte meinen Griff und genoss ihre Wärme und ihren blumigen Duft. Sie roch wie eine Frühlingswiese. Ich schloss meine leicht müden Augen und atmete so tief ich konnte ihren Duft ein, als wollte ich jede einzelne Blume aus ihrem Parfume raus riechen. Meine Mutter bewegte sich leicht und fing an zu gehen, doch ich dachte nicht daran die Augen zu öffnen. Ich genoss zu sehr diesen Moment um ihn vorübergehen zu lassen. Sie war die beste Mom der Welt, dachte ich mir noch.
Von einer Sekunde auf die andere fing ich an zu schreien. Es war eiskalt und ich riss die Augen auf. Noch immer in den Armen meiner Mutter befanden wir uns plötzlich im See. „Mama, Mama, was machst du? Es ist kalt." schrie ich panisch. Doch sie antwortete nicht. „Mama, ich will raus aus dem See. Es ist so kalt." sagte ich bisschen leiser, doch noch immer voller Panik in der Stimme. Sie antwortete nicht. Obwohl ich zappelte und weinte, ging sie immer tiefer in den See. Sie war wie in Trance, als ob sie mich nicht hörte. Sie nahm mich gar nicht mehr wahr. Egal, wie sehr ich schrie oder trampelte oder weinte, sie bekam nichts von all dem mit. Doch wenn ich ehrlich bin, weiß ich das nicht. Ich vermute es. Wenn sie mich gehört hätte, hätte sie doch sicherlich angehalten, oder?
Irgendwann blieb sie stehen und ließ mich alleine mitten im See los und ging ohne jegliche Regung nach mir weiter. Ich erinnere mich nicht mehr an alle Einzelheiten, aber ich weiß immer noch wie panisch ich war und strampelte, um mich über Wasser zu halten. Es war so eiskalt. Ich hatte so große Angst. Mein ganzer Körper wurde von der Panik beherrscht. Ich konnte nicht schwimmen und tauchte dadurch immer wieder ab. Ich schrie so oft ich konnte, ich strampelte so schnell ich konnte, ich rief nach meiner Mutter so gut ich konnte.
Und irgendwann wurde mir schwarz vor Augen ... Nach diesem Tag ging ich nie wieder ins Wasser. Dieser Tag bestimmte mein ganzes restliches Leben.
Das nächste an das ich mich erinnere ist, dass ich in meinem Bett lag und hörte wie meine Eltern stritten. Irgendwelche Passanten hatten mich aus dem See gerettet und natürlich waren da noch das Krankenhaus und mein Vater der panisch nach uns gesucht hatte. Doch an diese ganzen Details erinnere ich mich kaum. Jetzt, wo wir zu Hause waren, hörte ich meinen Vater schreien, wie er meine Mutter verrückt und verantwortungslos nannte und dass sie sich endlich behandeln lassen muss und dass die Krankheit sie zu sehr beherrschte und er nicht so weiter leben konnte. Meine Mutter war krank? Seit wann war meine Mutter krank? Was hatte meine Mutter? Ich verstand das Ganze nicht. Wie sollte das auch ein sechs jähriges Mädchen verstehen? Sogar heute noch verstanden es viele nicht.
„Papa?" sagte ich weinerlich und stand an der Wohnzimmertür. Meine Eltern standen am Balkon und sahen bisschen erschrocken zu mir herüber. Ich war verängstig über den Ton meines Vaters. Ich war verängstig vom Verhalten meiner Mutter. Alles überforderte mich. Ich fühlte mich verloren.
Mein Vater kam zu mir herüber, hob mich vorsichtig hoch und drückte mich an seine Brust. „Meine Süße, warum schläfst du nicht? Du musst nicht weinen. Alles ist gut!" sprach mein Vater sanft zu mir und strich über mein Haar. Alles ist gut? Es war gar nichts gut! Es war alles andere als gut! Alles war schrecklich und es sollte noch schrecklicher werden.
Das letzte an was ich mich erinnern kann, ist dass mein Vater mich trug und ich mich mit beiden Armen an seinen Hals klammerte. Ich weinte immer noch und sah zu meiner Mutter herüber, die auf dem Balkon stand, wie sie mich mit ihrem wärmsten Lächeln an lächelte. Ihr Lächeln war wunderschön und normalerweise beruhigte es mich und ließ mich jegliche Sorgen vergessen. Doch diesmal war es anders. Es hatte etwas leeres, verlorenes. Ihre Augen sahen komisch aus. Waren das Tränen? Weinte sie? Ich bin mir nicht sicher, aber das was als nächstes geschah, würde ich nie vergessen. Dieses Bild werde ich mein ganze Leben vor meinen Augen haben.
Sie stürzte sich vom Geländer nach hinten. Ich schrie auf und kurz darauf hörten wir ein dumpfes Geräusch. Mein Vater drehte sich um, setzte mich ab, lief zum Balkon und schrie. Ich hörte meinen Vater zum ersten Mal schreien. Er schrie und schrie und hörte nicht auf zu schreien. Da lag ihr blutüberströmter, toter Körper sieben Stockwerke unten durchstochen von einem Zaun.
Nach diesem Tag änderte sich mein Leben.
Heute weiß ich, dass meine Mutter an einer manisch-depressiven Krankheit litt, eine bipolare Störung. Doch wen interessierte das? Es änderte nichts daran, dass dieser Tag meine zukünftige Entwicklung, mein Verhalten, mein ganzes Leben bestimmte. Ich zweifelte an die Menschen um mich herum. Ich zweifelte an mir selber. Ich zweifelte an die Liebe.
Leonardo da Vinci hat einmal gesagt: Wo viel Gefühl ist, ist auch viel Leid.
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