~ Die letzten Tage des Lebens ~
Donnerstag - 7:30 Uhr
Durch das erschreckende Klingeln seines Weckers wachte der Mann auf. Langsam öffneten sich seine Augenlider und er bewegte sich dazu, aufzustehen.
Tatsächlich, liebe Leser, war dieser Mann ein hoch angesehener Arzt, einer der besten seiner Art. Man sollte meinen, jemand diesen Berufes sollte nichts gegen etwas Musik haben, doch da irrt ihr euch. Lest selbst:
Nach dem täglichen Frühstück, dem Ankleiden und den nervenden und durchaus stressenden Telefonaten, war es doch Zeit für einen netten Spaziergang - wenn man schon einmal einen Tag frei hatte.
Doch sobald der davor noch so gut gelaunte Mann vor die Tür trat, lauschte er einer hellen, melodischen Stimme, die mit einem genauso eleganten Instrument begleitet wurde - einer Harfe.
Anstatt die schöne Musik am Morgen zu genießen, verzog der Mann das Gesicht und machte sich auf den Weg denjenigen zu finden, der es wagte seine Ruhe zu stören. So etwas war schließlich nicht erlaubt!
Auf einer grünen Lichtung, umringt von Bäumen und Büschen aller Art, saß eine Person in einem Gewand - einer Robe - wie Flieder und spielte eine hölzerne Harfe mit goldenen Saiten. Offensichtlich war es eine Frau, doch anstatt sich zu verlieben, tat der Mann etwas ganz anderes: er stoß das schöne Instrument um.
Minutenlang brüllte er ein ganz geschocktes Gesicht an, warum diese Frau es sich denn erlaubte mitten auf einer Wiese so ein schreckliches Lied zu spielen. Diese verdeckte ihren Blick mit Haaren in den schönsten Brauntönen, nur himmelblaue Augen waren zu erhaschen.
Als der Hals des Mannes begann, sich über das Schreien zu beschweren, war es ihm tatsächlich zu viel und er verlies den Platz der „furchtbaren" Musik wieder. Fest war er davon überzeugt, dass diese bescheuerte Dame ihn nun in Ruhe lassen würde. Er hatte keine Lust auf tägliche Melodien und Gesinge, die ihn bei seiner Arbeit störten. Er brauchte Konzentration, selbst an freien Tagen.
Freitag - 8:46 Uhr
Man könnte meinen dieser Tag wurde entspannter - vielleicht sogar spaßig - jedoch hatte das Glück den Mann mal wieder im Stich gelassen. Die Töne der Harfe erklangen schon als er seine Augen geöffnet hatte und ein weiteres Mal trottete er zur selben Lichtung mit derselben Dame. Sie saß wie am Tag zuvor auf einem rubinfarbenen Hocker aus Samt und poliertem Holz - sehr edel, man könnte meinen, die Frau sei reich gewesen.
Doch das war sie nicht.
Eine kurze Sekunde bevor der Mann begann zu meckern, stoppte die Harfenspielerin beim Singen und blickte zu ihm auf. Seine Frisur war vom leichten Wind etwas zerzaust, seine kastanienbraunen Haare standen in verschiedene Richtungen ab. Zornige grüne Augen starrten sie an, während die Dame nur ruhig auf ihrem Hocker saß - die Harfe schützend vor sich gestellt.
Heute konnte der Mann andere Details ihres Gesichtes erkennen: Volle, rote Lippen und eine spitze Nase mit leichten Sommersprossen. Ihre Augenbrauen waren genauso dunkel und gleichzeitig edel wie ihr Haar.
Ja, man konnte sie schon fast als schön bezeichnen, liebe Leser, nur erkannte der Mann dies nicht - er war ganz blind vor Zorn. Vielleicht hätten die beiden ein Paar werden können, doch nicht in dieser Welt. Nicht unter diesen Umständen.
Samstag 6:30 Uhr
Sicherlich wundert es euch nicht, wenn ich euch sage, dass dieser Morgen nicht anders als die anderen verlief. Sogar der Umstand, dass der Mann dadurch zu spät zur Arbeit kam hinderte ihn nicht daran, heute wieder zu der Lichtung zu stapfen, an der er die Dame das erste mal erblickt hatte.
Sie sang wieder dasselbe Lied, mit denselben Tönen. Ihre Finger flogen beinahe über die verschiedenen Saiten ihres Instruments, was sie keine Mühe zu kosten schien. Andere würden nun vielleicht verzaubert von der schönen Dame sein, nur nicht der Mann. Nicht dieser Mann.
Das Spektakel der letzten Tage wiederholte sich, was hätte man auch sonst erwartet?
Er war eben kein Freund der Musik, nur verlernte er es offenbar zuzuhören - obwohl das ihm vermutlich das Leben gerettet hätte.
Nun denkt ihr vielleicht, liebe Leser, dass die Frau ihn einfach auf der Stelle ermordete, mit einem versteckten Messer oder ähnlichem. Doch nein, sie ließ es sich wie die vergangenen Tage auch gefallen, so von dem sturen Mann angeschrien zu werden.
Es war ihr nicht egal, schließlich hatte sie ein Ziel vor Augen, nur hätte sie es bei ihrer Wahl besser wissen müssen - bei ihrer Wahl nach ihrem „Tribut". Ihre Entscheidung war gefallen nachdem der Mann beschloss sich lieber seiner Arbeit zuzuwenden und die Lichtung zu verlassen. Sie würde ihm keine Chance geben, keine weitere mehr.
Er hatte sein Leben verloren.
Sonntag - 12:00 Uhr
Überraschenderweise erwartete den Mann heute kein Harfenspiel. Keine schreckliche Melodie , kein nerviger Gesang. Nur er und sein verlassenes, stilles Haus. Sein Tag war gut verlaufen, zumindest glaubte er das.
Bis zu dem Zeitpunkt als eine kalte Klinge seine Halsschlagader berührte. Er hatte sie nicht kommen sehen, die fliederfarbene Robe und die braunen Haare, welche das Gesicht der Dame perfekt umrahmte.
Erst jetzt, am Ende seines Lebens, in der letzten Minute, die ihm blieb erkannte er wie schön sie eigentlich war. Wie gerne er sie besser kennengelernt oder sogar ausgeführt hätte.
Doch jetzt war es zu spät.
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Die Leiche des Mannes wurde am Tag darauf gefunden, nachdem dieser nicht zur Arbeit erschienen war.
Niemand konnte auflösen wer diesen Mord begangen hatte, nicht einmal die Polizei.
Die Frau, in derselben Robe wie immer, wurde natürlich nicht mehr gesehen - warum auch?
Niemand kannte sie, niemand sah sie, niemand liebte sie. Doch jeder kannte ihr Lied und die Lektion, die sie mit diesem brachte.
Das Lied des Todes.
[949 Wörter]
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