Das Lied des Kirschblütenbaums

Das Lied des Kirschblütenbaums

Hörst du das Wispern der Bäume? Wie Blätter flüstern, wenn niemand ihnen Gesellschaft leistet?

Nyphila liebt es, den Stimmen der Bäume zu lauschen. Am Liebsten verbringt sie die Zeit im Königlichen Park auf einer Bank und hört den Blättern zu. So auch an diesem sonnigen Tag.

„Nichts würde mir mehr Freude bereiten, als den Rest meines Lebens an deiner Seite zu verbringen", wispert eine Stimme.

„Gerne spende ich dir Schatten, wenn die Sonne am Himmel steht und kratze die Käfer von deinem Rücken." Eine zweite, tiefere Stimme.

Nyphila seufzt zufrieden, verschränkt die Arme hinter dem Kopf und schließt die Augen.

„Hast du schon von dem neuen Lied gehört, das die Kirsche komponiert hat?"

„Nein, ich wollte es mir heute Abend anhören."

„Hoffentlich reicht die Zeit dafür noch aus. Die Chanteurs ..."

Nyphila schlägt die Augen auf. Ihr Blick schweift zu den Blättern der Buche, direkt ihr gegenüber.

Wenn es stimmt, was ich eben gehört habe, muss ich umgehend meiner Mutter Bescheid geben! Sollte das Reich in Gefahr sein, müssen wir handeln.

Nyphila steht auf und läuft zu der Buche, bis sie den Stamm mit ihrer kleinen Hand berühren kann.

„Teile mir mit, was du weißt." Nyphias glockenheller Gesang verbleibt ohne Reaktion in dem Park.

Warum kann ich das nicht? Ich bin die Prinzessin von Septimus Mundus, dem Musikplaneten. Mein Volk kann alles durch Musik erschaffen, warum gelingt mir das nicht?

Nyphila atmet tief durch, dann wagt sie einen zweiten Versuch. Das Resultat bleibt gleich.

Möglicherweise kann Thalyna mir helfen. Immerhin arbeitet sie schon seit meiner Geburt als Gärtnerin.

So schnell wie möglich rennt Nyphila zum Königlichen Palast. Vor dem vergoldeten Portal biegt sie rechts ab und nach kurzer Zeit spürt sie Kieselsteine unter ihren nackten Füßen. Die vertraute sanfte Stimme Thalynas dringt an ihre Ohren und nach wenigen Augenblicken erblickt Nyphila die Gärtnerin. Sie steht bei dem Königlichen Lilienbeet und summt vor sich hin.

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Nyphila legt die Hände an ihren Mund und formt sie zu einem Trichter. „Thalyna!"

Die schwarzhaarige Gärtnerin dreht sich um. Sie runzelt die Stirn, doch dann eilt sie auf Nyphila zu.

„Prinzessin, bitte, was habt Ihr vernommen?!" Die leichte Panik in Thalynas Stimme jagt einen Schauer Nyphilas Rücken hinunter.

„Ich ... Ich war wieder im Park und habe den Bäumen zugehört. Eine Stimme meinte, dass die Kirsche ein neues Lied geschrieben hätte, aber mehr konnte ich nicht herausfinden. Als ich die Blätter bitten wollte, abermals zu sprechen, ist nichts geschehen."

Thalyna legt eine Hand auf Nyphilas Schulter. Ihre warme Haut löst ein Gefühl der Geborgen- und Sicherheit in Nyphila aus. „Habt Geduld mit Euch, Prinzessin. Die Fähigkeiten Eurer Stimme werden sich noch entfalten, aber Ihr müsst warten können. Unter Druck und Zwang verkümmern die Töne und Eure Talente verwelken wie diese Rosen hier in der Dürre."

Nyphila schüttelt den Kopf, so dass sich eine Strähne ihres olivfarbenen Haares aus ihrem Haarkranz löst. „Bitte, kommt mit mir. Wenn die Kirsche eine Warnung hat, müssen wir sie hören. Das Reich darf nicht gefährdet werden!"

Thalyna seufzt, doch dann nickt sie. „Wie Ihr befehlt."

Die beiden setzen sich in Bewegung und stehen wenig später vor der Buche.

Thalyna legt eine Hand auf die Rinde und schließt die Augen.

„Was hört Ihr?", piepst Nyphila. Ihre Hände zittern leicht und ihre Muskeln spannen sich an.

Thalyna öffnet wieder die Augen und wendet sich der Prinzessin zu. Als sich ihre Blicke treffen, schluckt Nyphila.

„Geht, Prinzessin. Findet den Kirschblütenbaum und lauscht dem Lied."

Nyphilas Herz setzt einen Schlag aus. „Wie bitte? Warum gerade ich? Ihr seid doch ..."

Thalynas Mundwinkel zucken und sie ergreift die kleinen Hände der Prinzessin. „Ihr tragt große Macht in Euch, auch wenn Ihr sie noch nicht benutzen könnt. Es gibt einen Grund, weshalb Ihr die einzige Chanteuse seid, die den Gesprächen der Bäume zuhören kann."

Nyphila runzelt die Stirn, doch Thalyna schüttelt den Kopf. „Für Erklärungen bleibt keine Zeit. Geht nun und blickt nicht zurück, ganz gleich, was Ihr hört!"

Eine Schweißperle rinnt Nyphilas Stirn hinab. Sie holt tief Luft. „Nun, gut. Wie gelange ich zu dem Kirschblütenbaum?"

Thalyna lässt ihre Hände los und blickt ihr tief in die Augen. „Du kennst die Melodie bereits. Du musst sie nur noch finden."

Dann dreht die Gärtnerin sich um und geht.

Einen Moment steht Nyphila noch wie angewurzelt da, dann setzt sie sich in Bewegung. Kaum, dass sie den Königlichen Park hinter sich gelassen hat, tanzt eine Stimme auf sie zu.

„Es waren drei Märchenprinzen, die hatten einander nicht gern."

Nyphila folgt der Lautstärke des klaren Gesangs. Sie passiert den Palast, den Marktplatz, auf dem viele Stimmen um sie herumschwirren, das vergoldete Tor der Komponisten und biegt kurz vor dem Nachtigallenpalast rechts ab.

Eine Weile läuft sie einen Hügel hinauf, als plötzlich ein Brodeln an ihre Ohren dringt. Wärme streicht über ihre nackten Füße, die mit jedem Schritt etwas zunimmt. Der Geschmack nach Tod und Angst legt sich auf ihre Zunge, doch Nyphila läuft weiter. Sie bleibt nicht stehen, bis der klare Gesang stoppt.

„Eine Chanteuse", wispert die körperlose Stimme. „Besuch habe ich nicht erwartet. Nur zu, komm näher."

Nyphila schluckt. Vor ihr thront sich ein mächtiger Kirschblütenbaum auf einer Klippe. Lavaströme fließen rechts und links der Klippe in das Meer. In ihrem ganzen Leben hat Nyphila noch nie etwas vergleichbares gesehen. Zögernd streckt die Prinzessin eine Hand nach dem Baum aus und macht einen Schritt. Die Lavaströme blubbern und brodeln, doch ihre Wärme greift nicht nach Nyphila.

Schließlich legt Nyphila eine Hand auf die raue Rinde des Kirschblütenbaums. Sie atmet tief durch. „Weise mir den Weg durch dein Lied. Ich will nicht länger im Meer der Ungewissheit treiben."

Ein tiefer Seufzer erklingt und dann legt sich Wärme über Nyphila. Wie früher, wenn sie mit ihren Freunden im Meer geschwommen ist.

Eine klare Stimme erhebt sich in Nyphilas Kopf und mit dem nächsten Herzschlag schmilzt etwas in ihr. Ein Schrei entweicht Nyphila, während sich ein Brennen durch sie hindurch frisst. Sie will die Rinde loslassen, doch ihre Hand scheint wie festgewachsen. Nyphila schließt die Augen und überlässt sich dem Brennen in sich.

„Hab keine Angst, Tochter der Musik und des Wortes. Sobald der Schmerz vergeht, wirst du deine Macht vollständig nutzen können. Du wirst deinem Volk ein großes Geschenk bereiten, auf dass ihr euer Gegenüber besser verstehen werdet." Die körperlose Stimme des Kirschblütenbaums legt sich wie ein Tuch über Nyphila.

In diesem Augenblick lässt das Brennen nach. Der Schmerz verebbt und dann strömen derart viele Töne und Lieder in Nyphilas Herz, dass sie nichts gegen die kleine Träne unternehmen kann, die ihre Wange hinunterrollt. Zitternd und erschöpft hebt die Prinzessin den Kopf. Ein schwaches Lächeln legt sich auf ihre Lippen, ehe sie ihre Stimme erhebt, um mit dem Kirschblütenbaum und den Lavaströmen zu singen.

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