Kapitel 3 - Gefangen mit dem Feind
»Was zur Hölle!«
Alexejs verwirrter Blick streifte mich, bevor er mir wieder den Rücken zuwandte und nach dem Knauf griff, um die Tür aufzustemmen.
Er fluchte, während er sich mit aller Kraft nach hinten lehnte, den Fuß an der Wand abstützte und zog, dass die Tür nur so ächzte und knarzte.
Einen Moment lang schöpfte ich schon Hoffnung, denn Alexej war alles andere als ein Schwächling. Zumindest, wenn man von seinem Erscheinungsbild ausging.
Er war fast zwei Köpfe größer als ich, womit er auch die meisten Jungs an unserer Schule überragte, und wäre vermutlich auch dann ein einschüchternder Anblick gewesen, wenn ihm nicht der Ruf eines Schlägers vorausgeeilt wäre.
Aber selbst Alexej, der nun mit zunehmender Gewalt vorging, konnte diese Tür nicht öffnen. Als mir das klar wurde, sackten meine Schultern nach unten.
Es war ausweglos. Wir saßen hier fest und vermutlich war das diesmal sogar meine Schuld.
»Sie klemmt nicht«, sagte ich, meine Stimme heiser vor Anspannung. »Sie ist wirklich zu.«
Ich räusperte mich, um über die Flüche des Russen hinweg gehört zu werden, aber Alexej war offenbar im gleichen Moment zum selben Schluss gekommen, denn er trat verärgert gegen den Stahl und drehte sich schließlich zu mir um.
Er musterte mich von oben bis unten und wirkte, als ob er mich erst jetzt so richtig wahrnehmen würde. Seine eisblauen Augen fanden meine und mir lief augenblicklich ein kalter Schauer über den Rücken.
Wir starrten einander an und ich konnte nicht umhin zu bemerken, dass ich ihn noch nie so richtig angeschaut hatte.
Er war zwar in ein paar von meinen Kursen, aber außer einem flüchtigen Blick, wenn er wieder einmal einen gelangweilten Kommentar von sich gab, die die meisten Lehrer mittlerweile auch schon gewohnt waren, hatte ich ihm bisher nie größere Beachtung geschenkt.
Auch die anderen in meiner Stufe hielten sich von ihm fern. Die Mädchen tuschelten hinter vorgehaltener Hand über ihn und die Jungen wussten, dass mit ihm nicht gut Kirschen essen war.
Eine steile Zornesfalte hatte sich nun in seine Stirn gegraben und die halblangen Strähnen seiner pechschwarzen Haare hingen ihm wirr in die zusammengekniffenen Augen. Sein markantes Gesicht trug einen missbilligenden Ausdruck und es lag eine Ablehnung darin, die ich nur darauf zurückführen konnte, dass ich ihm als Simons Freundin ebenfalls ein Begriff war.
Und kein sehr beliebter dazu.
»Du!«
Unwillkürlich wich ich einen Schritt zurück, als er plötzlich auf mich zukam und stolperte dabei fast über meine eigenen Füße. Alexej hatte die Hand erhoben und zeigte mit einem Finger anklagend auf mich, als wäre ich schuld an seiner ganzen Misere.
»Was verdammt noch mal geht hier ab?«
Ich zog den Kopf ein.
»Wieso hockst du hier unten in diesem dunklen Loch und fuchtelst kreischend mit deinen dürren Steckenärmchen!«, donnerte er.
Automatisch dachte ich an das Gespräch, das ich heute Morgen belauscht hatte, und fragte mich erneut, wieso Simon nicht die Flucht ergriffen hatte. Alexej thronte über mir wie ein Gewitter, kurz bevor es losbricht, und ich hatte das Gefühl zu schrumpfen.
Ich schluckte trocken und zeigte zum Waschbecken hinüber.
»Da war eine«, setzte ich an, unterbrach mich aber, als mir in den Sinn kam, dass es vielleicht nicht die beste Idee wäre, ihm die Sache mit der Spinne zu erzählen.
Die Schamesröte schoss mir in die Wangen, als ich darüber nachdachte, was für ein Bild ich für ihn abgegeben haben musste. Schreiend und um mich schlagend, wie eine Irre.
Als hätte er nicht sonst schon Grund genug, mich fertig zu machen.
Wenn Alexej herausfände, dass er wegen einer Spinne hier drin festsaß, konnte ich meinen Totenschein auch gleich unterzeichnen lassen. Zögerlich ließ ich also den Arm sinken und wischte meine staubigen Hände an meiner Jeans ab.
»Ähm, ich ...«, stammelte ich verlegen, auf der fieberhaften Suche nach einer Ausrede. Aber die Mühe war vergebens, denn es fiel mir nichts ein. Außerdem war ich eine miserable Lügnerin. Schon oft hatten Leute zu mir gesagt, dass man in meinem Gesicht lesen könne wie in einem offenen Buch. Leider bedeutete das auch, dass man es mir an der Nasenspitze ansah, wenn ich nicht die Wahrheit sprach.
»Ja, du! Was, du?«, knurrte Alexej, als ich verstummte, und zog beide Augenbrauen nach oben.
Sein Geduldsfaden war offensichtlich kurz davor zu reißen.
»Ich hab mich erschrocken«, murmelte ich schließlich und versuchte seinem durchdringenden Blick standzuhalten. Es war schwierig, denn dieser schien sich direkt in meine Seele zu bohren und mich zu durchleuchten.
»Ach«, entkam es ihm aber nur.
Ich nickte in der Hoffnung, dass er nicht weiter nachfragen würde, was er zu meinem Erstaunen tatsächlich nicht tat. Ein Moment der Stille verstrich, in dem sein Gesichtsausdruck sich langsam wandelte, bis er mich schließlich musterte, als würde er sich über meinen Geisteszustand Gedanken machen.
»Herr Maibach hat mich gebeten, ein paar Karten hier runter zu bringen«, verteidigte ich mich, denn ich war vielleicht schüchtern und auch nicht immer sehr eloquent, aber verrückt war ich nicht. Bevor ich weiter erklären konnte, winkte er jedoch ab und richtete sich wieder auf.
»Spar dir die langweilige Geschichte, Barbie.« Er schlenderte davon, als wäre er es plötzlich überdrüssig, mit mir zu sprechen. »Ich hab dich vor einer Stunde mit dem ganzen Zeug hier runter gehen sehen.«
Verwundert blickte ich ihn an, doch er schien noch nicht einmal mehr Notiz von mir zu nehmen. Stattdessen hatte er begonnen, den Raum in Augenschein zu nehmen und hier und da ein Objekt aufzuheben und in der Hand zu wiegen.
War das sein Ernst?
»Du hast mich gesehen?«
Sprachlos starrte ich ihn an, während ich versuchte, die neue Information einzuordnen. Im ersten Moment wollte mir das nicht so recht gelingen, aber je länger ich das Gesagte auf mich wirken ließ, desto klarer wurde das Bild für mich. Er hatte mich absichtlich hier unten schmoren lassen.
Alexej nickte beiläufig, als würde er damit auf meine Gedanken antworten, während er einen schwarzen Stein in der Hand wog.
»Ja, hab ich. Du hast übrigens deine Tasche oben liegen lassen.«
Ich verstand nicht, wie er so ruhig bleiben konnte. Er musste gewusst haben, dass etwas nicht stimmte, als ich nicht wieder aufgetaucht war, und es hatte ihn offenbar kein Stück beunruhigt.
Mir hätte hier unten in der Zwischenzeit sonst etwas passiert sein können. Ich hätte verletzt oder mit gebrochenem Hals am Ende der steilen Treppe liegen können, während dieser Arsch nicht einmal den Anstand besessen hatte, einen Blick ins Treppenhaus zu werfen.
»Du hast es die ganze Zeit gewusst und kommst erst jetzt?«, brach es empört aus mir heraus. Ich konnte nicht nachvollziehen, wie jemand in solch einer Situation so gemein sein konnte.
»Korrekt«, bestätigte er trocken.
Augenblicklich sank meine Meinung von ihm ins Bodenlose. Ich schüttelte den Kopf und fuhr mir mit den Händen übers Gesicht. Als ich sah, wie sein Mundwinkel zuckte, fuhr ich zu ihm herum.
»Findest du das etwa witzig?«
Er sah mich an, als wäre er sich keines Fehlverhaltens bewusst, und in diesem Moment hätte ich ihm am liebsten den Stein über den Kopf gezogen. Normalerweise war ich ein ruhiger und ausgeglichener Mensch, mit versöhnlichem Gemüt. Es war mir unangenehm so laut zu werden, und ich war niemand, der andere zur Rede stellte.
Aber Alexej brachte eine Seite in mir hervor, die ich selbst noch nicht kannte und als er nun auch noch eine Augenbraue hob, da platzte es einfach aus mir heraus: »Sag mal, was ist eigentlich dein Problem!«
Bestimmt hatte ich bereits rote Flecken am Hals, die verrieten, wie ich mich fühlte, aber ich war so aufgewühlt, dass mir das gerade absolut egal war.
Ich trat einen Schritt auf ihn zu. »Ist dir überhaupt bewusst, was du getan hast! Mir hätte hier unten sonst etwas passieren können!« Alexejs Augen weiteten sich ein wenig und wirkten sogar einen Moment lang betroffen, was mir ein Gefühl der Genugtuung verschaffte.
Aber dann tat er etwas, das meiner Selbstzufriedenheit ein abruptes Ende setzte.
Es kam so unerwartet, dass mir der Mund aufklappte.
Auf seinem Gesicht breitete sich ein höhnisches Grinsen aus. Es entstand langsam und weitete sich über das ganze Gesicht aus, bis er mich schließlich mit sichtbarem Spott in den Augen anschaute.
Alexej lachte. Alexej lachte über mich.
Ich riss ihm den Stein aus der Hand, noch bevor ich darüber nachdenken konnte, was ich damit eigentlich tun wollte.
»Was hab ich dir eigentlich getan?«, entkam es mir. »Macht es dir Spaß andere zu quälen?«
Meine Stimme klang ungewohnt hoch und meine Hände zitterten. Ich spürte, wie mir vor lauter Wut die Tränen in die Augen stiegen und presste die Lippen zusammen, weil ich mir bewusst war, wie lächerlich ich gerade wirken musste. Ich hasste solche Situationen so sehr, weil ich einfach nie die richtigen Worte fand.
»Hör sofort auf zu grinsen!«
Dies schien Alexej jedoch nur noch mehr zu amüsieren. In gespielter Abwehr hob er die Hände und trat einen Schritt zurück, doch ich konnte sehen, wie viel Beherrschung es ihn kostete, nicht in Gelächter auszubrechen.
»Du bist ein bösartiger Mensch, Morosow!« Meine Stimme kippte nun endgültig.
Mein Ärger ließ mich jegliche Angst vergessen und ich war bereit ihm zu sagen, dass ich sehr wohl wusste, was hier für ein Spiel gespielt wurde. Er hatte mich hier unten sitzen lassen, weil er Simon eins auswischen wollte. Aber ich würde ihm schon klar machen, dass er mich niemals dazu bringen konnte, meinen Freund zu verlassen.
Bevor ich jedoch den Mund ein weiteres Mal aufmachen konnte, schüttelte er in gespieltem Tadel den Kopf, packte den Stein und riss ihn mir weg. Erschrocken stolperte ich nach vorne gegen ihn, aber ich hielt verbissen fest.
Er hielt den Stein hoch, sodass ich mich auf die Zehenspitzen stellen musste, um nicht loszulassen. Ein Zischen entwich mir, als Alexej versuchte, den Stein aus meiner Hand zu entwinden und mir die kleinen Zacken auf dessen Oberfläche in die Finger schnitten. Ich spürte Alexejs warmen Atem in meinem Nacken und hörte ihn leise mit der Zunge schnalzen.
»Tztz, was für böse Worte.«
»Halt die Klappe.« Ich stemmte mich mit der freien Hand gegen ihn. Doch obwohl ich alle Kraft aufwendete, drehte Alexej den Stein schließlich aus meinem Griff heraus und hielt ihn triumphierend in die Höhe. Ich fluchte und schüttelte meine schmerzende Hand, während ich genügend Abstand zwischen uns brachte.
»Du bist ein Arschloch, weißt du das?«, sagte ich und funkelte ihn böse an. Unter keinen Umständen würde ich ihm den Gefallen tun, nach dem Stein zu haschen.
Er überbrückte den Abstand zwischen uns jedoch von selbst und senkte sein Gesicht, bis es Zentimeter vor meinem war. Ich erstarrte und spürte, wie meine Kehle eng wurde.
»Du brauchst vielleicht nicht mehr lange mit dem Arschloch in diesem Raum zu sein, denn das hier«, er hielt mir den Stein unter die Nase, »könnte uns helfen, hier wieder raus zu kommen.«
Mein Blick landete kurz auf dem Stein, bevor ich ihm wieder in die Augen schaute, aus denen jeglicher Triumph verschwunden war. An seine Stelle war ein ernster Ausdruck getreten, der auch die Wut in mir ein wenig dämpfte.
Dennoch klang meine Stimme harsch, als ich antwortete.
»Und wie soll das bitte funktionieren?«
Mein Herz klopfte laut und die hektische Farbe verließ nur langsam mein Gesicht, aber meine Neugierde war zu groß, um so zu tun, als würde ich mich nicht für seine Idee interessieren.
Außerdem war es schwierig an dem Gefühl des Ärgers festzuhalten, wenn Alexej einen so entschlossen anschaute, wie er das jetzt gerade tat.
Er wollte diesen Raum so schnell wie möglich verlassen und ich wollte ebenfalls keine Minute länger als nötig mit ihm verbringen.
Damit hatten wir wenigstens ein gemeinsames Ziel und ich entschloss mich, mir seinen Plan anzuhören. Außerdem stellte ich fest, dass es überhaupt nicht so schlimm war seinen Augen standzuhalten, wie ich bisher gedacht hatte.
Besonders, wenn ich mich auf ihre Farbe konzentrierte, anstatt auf die Kälte, die in ihnen lag. Alexej hatte nämlich bei genauerem Hinsehen eine geradezu faszinierende Augenfarbe.
Ich hatte immer gedacht, er hätte komplett blassblaue Augen, doch nun sah ich, dass sie von einem intensiven Blau waren, das sich nach außen hin zu einem schwarzen Ring verdichtete. Etwas, das sie noch viel stechender machte, als sie es ohnehin schon waren.
Sie waren schön, seine Augen.
Unwillkürlich fragte ich mich, wie sie wohl aussehen würden, wenn er lächelte. Nicht das sarkastische Grinsen, das man von ihm kannte, sondern ein richtiges Lächeln. Jeder Mensch besaß schließlich irgendwo eine weiche Seite und der Russe bildete da bestimmt keine Ausnahme.
»Ist was?«, wurde ich plötzlich angeschnauzt.
Ertappt zuckte ich zusammen und schüttelt reflexartig den Kopf.
Hatte er gemerkt, dass ich ihn angestarrt hatte? Wenn dem so war, so ließ er sich jedenfalls nichts anmerken, denn er fuhr in seiner Erklärung fort, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Siehst du die kleinen Fenster da oben?« Er ruckte mit dem Kopf zur Seite und ich folgte seinem Blick. »Ich schlag eines der Dinger ein und du krabbelst schön brav da durch. Danach wirst du hier runter kommen und die Tür öffnen, denn ich habe heute noch etwas Wichtiges vor.«
Da war er nicht der Einzige, dachte ich.
Schließlich trug er gewissermaßen die Schuld daran, dass ich bei Simons Eltern einen schlechten ersten Eindruck hinterlassen würde. Aber vielleicht wusste er ja auch von meinen Plänen und hatte mich deshalb so lange warten lassen. In diesem Fall geschah es ihm absolut recht, dass er nun mit mir hier festsaß.
Einen Moment lang überlegte ich, so zu tun als ob ich es nicht eilig hätte. Einerseits um ihm zu zeigen, dass er nicht so mit mir umspringen konnte, und andererseits, weil ich darauf hoffte, dass es noch eine andere Lösung gäbe, als durch das Fenster kriechen zu müssen.
Ich wollte mich nicht da hindurch quetschen, denn wo Fensterscheiben dreckig waren, konnten Spinnen nicht fern sein. Für einen Abend hatte ich nämlich definitiv genug Kontakt mit diesen ekeligen Vielbeinern gehabt.
»Und wenn ich das nicht will?«, fragte ich nun also, bewusst provokant.
Ein abfälliges Schnauben antwortete mir.
»Dann, Sonnenschein, werd ich dich mit Gewalt da hindurch stopfen.« Seine abschätzigen Worte ließen die Flamme der Wut wieder in mir aufflackern und ich musste mich sehr zusammenreißen, um mich nicht erneut aufzuregen.
Dieser arrogante Großkotz!
Ich schlang die Arme um mich selbst, als ich beobachtete, wie Alexej zu einem der kleinen Tische ging und ihn mit lautem Knarren und Quietschen an die Wand schob, direkt unter eines der Fensterchen.
Dann kletterte er hinauf und wog den seltsamen Stein skeptisch in der Hand.
»Jetzt komm schon her!«, knurrte er in meine Richtung.
Langsam ging ich näher. Fiel mir ja nicht ein, mich von ihm herumkommandieren zu lassen.
Erschrocken zuckte ich zusammen, als ein lauter Schlag ertönte.
Ich blickte zum Fenster. Ein netzartiges Muster zog sich über die Scheibe, ausgehend von dem Punkt, an dem er sie getroffen hatte. Er holte erneut Schwung und schlug mit aller Kraft zu. Ich konnte mir vorstellen, dass es nicht so einfach war, die Scheibe zu zertrümmern, da er sie gerade so erreichen konnte und deshalb umso härter zuschlagen musste.
Die Wucht des Schlages schien außerdem ganz schön im Handgelenk abzufedern, denn er biss die Zähne zusammen.
Beim dritten Schlag zersplitterte die Scheibe endlich.
Ich drehte mich weg, als mir die Scherben um die Ohren flogen.
Böse starrte ich Alexej an und wischte mir über eine Strieme am Arm.
»Pass halt auf«, war sein bissiger Kommentar.
Ich schnaubte nur.
Alexej drehte sich wieder zum Fenster und schlug es mit vorsichtigem Klopfen gänzlich ein. Die Splitter regneten nur so auf den Boden und ich sah, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, dass Alexej ein paar Schnitte an der Hand hatte, die leicht bluteten.
»Bereit da durchzuschlüpfen?«, fragte er schließlich lässig, während er die letzten spitzen Glasränder wegschlug. Sein lockerer Plauderton wollte so gar nicht zu dem fiesen Grinsen passen, das daraufhin folgte.
»Du bist wohl verrückt«, entgegnete ich, noch immer nicht überzeugt von dieser Idee.
Es war mir sehr wohl bewusst, dass ich es trotzdem versuchen würde, aber im Moment sah das Fenster noch aus wie der Schlund eines ziemlich zahnbewehrten Hais und ich würde mir daran wohl eher den Bauch aufschlitzen als uns zu retten.
Alexej schien mein Zögern jedoch gänzlich anders zu interpretieren.
»Keine Angst, Barbie, wenn du jetzt noch nicht da durch passt, bist du in spätestens zwei Tagen dünn genug.«
Mein Mund klappte auf und ein ersticktes Geräusch entkam meiner Kehle, als ich mich beinahe an meiner Spucke verschluckte.
Wie konnte dieser Widerling es wagen!
»Arschloch!«, war alles, was ich schließlich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervorbrachte. Ich konnte nicht glauben, dass ich vor ein paar Minuten noch gedacht hatte, dass dieser Mensch einen weichen Kern haben könnte.
»Schon klar, Sonnenschein. Ich bin der Böse hier. Aber jetzt beweg deinen Arsch hierher!«
Trotzig blieb ich stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich würde mich hier keinen Schritt wegbewegen, wenn er sich nicht bei mir entschuldigte.
Es gab ein Maß an Frechheit, das sich jemand erlauben konnte und auch wenn er sich wohl gewohnt war, mit allem was er sagte davon zu kommen, so galten doch hier und heute in diesem Keller etwas andere Regeln als auf dem Pausenhof, auf dem ich mich niemals getraut hätte, so mit ihm zu reden.
Vermutlich würde alles wieder beim Alten sein, wenn wir erst einmal draußen waren, aber jetzt gerade war er auf meine Hilfe angewiesen und ich würde diese Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen.
»Entschuldige dich!«
Alexejs Blick war so überrascht, dass ich einen Moment lang versucht war zu lachen, wenn ich mich in dem Moment nicht an all die Gemeinheiten erinnert hätte, die er mir bereits an den Kopf geworfen hatte.
Entschlossen hob ich das Kinn. »Ich höre?«
Alexej runzelte die Stirn und schien zu überlegen. Ganz wie ich gedacht hatte, war er es wohl nicht gewohnt, dass jemand ihn dazu aufforderte, Reue zu zeigen. Der einzige Ort, an dem er vermutlich öfters zur Verantwortung gezogen wurde, war das Zimmer des Direktors oder wenn er nachsitzen musste.
Ich wartete noch immer.
Das Rattern in seinem Kopf war ihm unterdessen beinahe anzusehen.
»Entschuldige dich und ich helfe dir«, wiederholte ich, als weitere quälende Sekunden der Stille verstrichen.
Alexejs Kiefer war mittlerweile so angespannt, dass ich glaubte, ihn mit den Zähnen knirschen zu hören und als ich schon dachte, er würde meiner Aufforderung niemals nachkommen und wir wären stattdessen in einem Blickduell gefangen, bis einer von uns nicht mehr konnte – was zweifelsohne ich gewesen wäre – brach er den Blickkontakt ab.
Mit einer fahrigen Geste strich er sich durch die Haare und blieb schließlich so stehen, die Hände im Nacken verschränkt und mit gesenktem Kopf.
Ein paar weitere Sekunden verstrichen, bevor er ruckartig ausatmete und sich wieder aufrichtete. Auf seinem Gesicht lag ein gequälter Ausdruck. Aber schließlich nickte er und nahm die Hände runter.
»Okay«, sagt er und nickte noch einmal.
Es schien ihn Kraft zu kosten, diese Worte heraus zu würgen, und ich fragte mich unwillkürlich, ob Alexej sich überhaupt schon einmal bei jemandem entschuldigt hatte.
»Es tut mir leid.«
Alexejs Stimme klang rau und gepresst, aber die Worte waren deutlich genug und für eine Sekunde glaubte ich sogar, dass es ihm wirklich leidtat.
»Und jetzt komm endlich her!«, schnauzte er jedoch im nächsten Moment und drehte sich zurück zum Fenster, um mit dem Fuß missmutig die letzten Splitter vom Tisch zu fegen.
War ja klar gewesen, dass er seine Maskerade nicht lange aufrechterhalten konnte.
Als er die Fläche von den tückischen Scherben befreit hatte, kletterte ich vorsichtig hinauf, wobei ich darauf achtete, genügend Abstand zwischen mir und Alexej zu lassen, und schaute hoch.
Das Fenster war ganz schön weit oben. Aber wenigstens hatte er saubere Arbeit geleistet und wenn alles glatt ginge, dann waren wir bald draußen. Mit etwas Glück würde ich es sogar noch zur Party schaffen, bevor die ersten Gäste gingen.
Ich nickte entschlossen. Ich würde ganz einfach da hinausklettern, die Tür von außen öffnen oder jemanden organisieren, der das für mich tun konnte, weil die Schule ganz bestimmt schon abgeschlossen war, und dann hatte der ganze Spuk ein Ende.
Einen Moment lang kam mir sogar der Gedanke, da hinaus zu klettern und einfach nach Hause zu gehen. Alexej einfach hier in diesem Loch verrecken zu lassen. Aber das erschien mir dann doch ein wenig zu drastisch.
»Und los!«
Jäh schrie ich auf und klammerte mich erschrocken in seine Oberarme, als ich plötzlich den Boden unter den Füßen verlor. Der Russe war kurzerhand in die Hocke gegangen und hatte mich an den Oberschenkeln gepackt, um mich hochzuheben.
»Au, verdammt! Lass los du Krallenbiest!«, zischte er, als sich meine Nägel in seine Haut bohrten. »Willst du mich häuten?«
Er schüttelte mich und ich krallte mich reflexartig noch stärker in seine Arme, woraufhin er laut losfluchte und mich noch stärker schüttelte.
»Hör auf verdammt«, schrie ich, kurz davor ihm mein Knie in den Bauch zu rammen. Stattdessen ließ ich ihn los, packte ihn an den Haaren und riss kräftig daran, was ihn augenblicklich innehalten ließ.
Keuchend blickte ich nach unten in seine vor Wut blitzenden Augen und funkelte nicht minder verärgert zurück.
Reine Mordlust stand in seinem Blick. Ein mulmiges Gefühl machte sich in meinem Magen breit, aber ich hielt ihm stand.
Eine Weile starrten wir uns an, dann ließ ich ihn los und er hielt endlich ganz still.
»Also, dann mach schon!«, knurrte ich böse.
»Bin schon dabei!«, knurrte er zurück.
Eine Sekunde später war ich knapp vor dem Fenster und griff vorsichtig nach dem Rand. Er war ein wenig kantig, aber es fühlte sich nicht an, als würde ich mir die Finger daran aufreißen.
»Höher«, kommandierte ich und zu meinem Erstaunen kam er diesem Befehl umgehend nach. Mit beiden Händen tastete ich mich durchs Fenster und zog mich höher. Ein Stöhnen entrang ich mir, als mir der Geruch von verwelkten Blättern entgegen schlug und ich die Spinnweben sah, die hier überall hingen.
»Oh Gott«, jammerte ich angeekelt und schob langsam den Kopf weiter hinein. Ich spürte die Gänsehaut, die sich über meine Arme zog, als ich schließlich über die Kante auf die widerlichen Spinnennester sah.
Doch dann vergaß ich meine Angst auf einmal komplett und anstatt heulend zu verlangen, dass Alexej mich sofort herunter ließe, starrte ich stumm auf die Betonwand vor mir. Als ich meinen Kopf drehte, um nach oben zu spähen, wurde meine letzte Vermutung bestätigt und ich seufzte tief.
Das Fenster führte in einen unterirdischen Schacht, der so klein und eng war, dass ich niemals eine Chance haben würde, mich darin aufzurichten. Selbst wenn das Gitter ganz oben, das sich nun deutlich vom rötlichen Abendhimmel abhob, nicht angeschraubt sein sollte, wäre es unmöglich, hier heraus zu kommen. Einmal abgesehen davon, dass ich mich hier nicht für alles Geld der Welt hineinquetschen würde.
»Hast du es bald?«, hörte ich Alexejs genervte Stimme.
Wie er wohl auf die Nachricht reagieren würde? Nun war es erwiesen, dass wir hier nicht heraus kommen würden. Nicht über das Fenster, nicht durch die Tür und wie es schien auch sonst nirgendwo.
Wir mussten wohl oder übel darauf vertrauen, dass uns irgendwann jemand vermissen würde und auf die Idee käme, hier nachzusehen.
»Ich komm wieder runter«, antwortete ich.
Langsam kletterte ich zurück und Alexej ließ mich erstaunlich sanft runter. Erwartungsvoll schaute er mich an, doch meine niedergeschlagene Miene sprach wohl bereits Bände.
»Verdammte Scheiße!«, brach es aus ihm heraus.
Ich zuckte zusammen, als er den schwarzen Stein mit voller Wucht zu Boden schmiss, sodass dieser ein ganzes Stück davon geschleudert wurde. Alexej sprang vom Tisch und trat noch einmal mit Anlauf danach, worauf dieser laut scheppernd mit einem der Globen kollidierte und in einer Ecke liegen blieb.
Erschrocken starrte ich auf Alexejs Rücken. Seine Schultern waren mit einem Mal nach unten gesunken und den Kopf hatte er in seinen Händen vergraben. Er raufte sich die Haare und murmelte irgendetwas wie ein Mantra vor sich hin.
Unruhig ging er auf und ab und ich verfolgte ihn stumm mit meinen Blicken.
Er erinnert mich an einen gefangenen Löwen, der an den Gitterstäben entlang ging und alles an ihm wirkte angespannt, als wären die schlechten Nachrichten mit körperlichen Schmerzen verbunden. Er schien gänzlich vergessen zu haben, dass ich auch noch da war. Er schüttelte den Kopf und ließ sich schließlich mit einem Ächzen an der Wand auf den Boden sacken. Sein Gesicht sah so erschöpft und bekümmert aus, dass sich Mitleid in mir ausbreitete.
Was war hier los?
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er auf diese Weise reagierte, weil ihn der Mut verlassen hatte. Die Aussicht auf Erfolg war ohnehin sehr gering gewesen und selbst wenn wir die ganze Nacht hier verbringen mussten, am Ende würde jemand kommen und uns raus lassen.
Nur eben nicht jetzt.
Ich dachte an die Panik, die ich am Anfang empfunden hatte, und überlegte mir, ob Alexej vielleicht gerade eine ähnliche Krise durchmachte. Er verhielt sich jedenfalls so und ich fragte mich wirklich, was einen Menschen wie ihn dazu bringen konnte, so verzweifelt zu wirken.
Es musste mit der Sache zu tun haben, die er heute Abend erledigen wollte.
Ich hatte das Funkeln in seinen Augen sehr wohl bemerkt, als er darauf zu sprechen gekommen war.
»Alexej«, sagte ich leise.
Ich stieg vom Tisch runter und ging auf ihn zu. Die Scherben knirschten unter meinen Turnschuhen. Er sah mich nicht an, sondern schaute auf den Boden. Als ich vor ihm in die Hocke ging, blickte er jedoch auf.
Erschrocken sog ich die Luft ein, als ich seine Augen sah.
»Alexej?«
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