2. Kapitel: August 2017
Der zweitlängste geografische Name weltweit ist Taumatawhakatangihangak oauauotamateaturipukaka pikimaungahoronukupokaiwhe nua kitanatahu, ein Hügel in Neuseeland. Übersetzt heißt er so viel wie der Ort, an dem Tamatea, der Mann mit den großen Knien, der Berge hinabrutschte, emporkletterte und verschluckte, bekannt als der Landfresser, seine Flöte für seine Geliebte spielte.
Ich wusste nicht mehr, wo ich das gelernt hatte. Vielleicht in einem der unzähligen National Geographic Magazinen, die in meinem Zimmer verstreut lagen. Auch war mir schleierhaft, wieso ich den Namen auswendig konnte, wenn doch sonst nichts in meinem Kopf bleiben wollte.
Doch dieser Name faszinierte mich, denn er erzählte eine Geschichte. Tamatea und seine Geliebte waren längst vergessen, doch ihre Geschichte lebte in diesen 85 Buchstaben für immer weiter. Die meisten Menschen werden sich nie die Zeit nehmen, den Namen Buchstabe für Buchstabe durchzulesen, und die wenigsten werden je seine Bedeutung kennen. Und doch war sie da, zum Greifen nahe, wenn man sich nur die Zeit nahm, sie verstehen zu wollen.
Vielleicht, wenn jeder unserer Namen unsere Geschichte erzählen würde, könnten wir einander besser verstehen.
Vielleicht, wenn Mallory Benson „Die Frau, die ihre Gefühle nicht zeigen kann, aber dennoch ihren Mann über alles liebt" bedeuten würde und der Name Nicholas Benson die Geschichte von einem Mann erzählen würde, der sich eingeengt fühlte und eigentlich noch nicht bereit war, sich für immer niederzulassen – vielleicht wären die beiden dann immernoch zusammen, anstatt nun in verschiedenen Staaten zu leben und kein Wort mehr miteinander zu reden.
Und vielleicht, wenn Mary Benson „Die Frau mit dem dementen Gehirn" bedeutete, hätten wir die Symptome früher erkannt und ihr früher helfen können.
Doch nichts davon war Wirklichkeit, und so hatte sich seit Juni 2016 viel verändert.
Einige der Veränderungen waren plötzlich und schlugen ein wie ein Blitz, wie zum Beispiel der Tag, an dem Dad ausgezogen war. Das plötzlich entstandene Loch war unmöglich zu übersehen, wie eine dunkle Wolke, die über der Familie hing.
Andere Veränderungen kamen schleichend und erst im Rückblick waren die Ausmaße erkennbar.
„Willst du nicht fragen, ob Bastian dich mit zur Schule nehmen kann?", fragte Mom am Morgen des ersten Schultages nach den Sommerferien. Sie hatte uns zur Feier des Tages Waffeln zum Frühstück gemacht, und so saßen wir um den kleinen Tisch und ignorierten wie immer den leeren vierten Stuhl.
„Keine Ahnung", meinte ich schulterzuckend und goss reichlich Sirup über meine Waffeln. „Wir haben über die Ferien nicht wirklich viel geredet."
„Warum das denn?", fragte Mom überrascht, jedoch nicht ganz bei der Sache, während sie versuchte Keira davon abzuhalten, mehr Sirup auf ihre Kleidung als auf die Waffeln zu kleckern.
„Weiß nicht, hat sich einfach so ergeben.", antwortete ich wahrheitsgemäß. Wer entschied sich schon bewusst, sich auseinander zu leben?
„Wird Bas bald herkommen?", unterbrach uns Keira. Sie sah mich mit ihren blauen Augen an, die so stark leuchteten, als hätten sie das Sonnenlicht absorbiert. Mom nannte sie nicht zu Unrecht ihren Sonnenschein, auch wenn sie natürlich keine Ahnung hatte, wie sehr das der Wahrheit gleichkam.
„Er ist immer so lustig. Weißt du noch, wo er das eine Mal gestolpert und in die Topfpflanze gefallen ist?", fuhr sie fort und grinste breit.
Natürlich wusste ich das noch. Bastian und ich waren praktisch seit dem ersten Tag im Kindergarten befreundet gewesen und mehr Nachmittage bei einem von uns zuhause zusammen verbracht als ich hätte zählen können. Irgendwann war dann Erin dazugestoßen, und das Trio war komplett.
„Nun, wenn du nicht abgeholt wirst, solltest du wohl langsam loslaufen. Nicht, dass du gleich am ersten Tag den Bus verpasst.", ermahnte Mom mich halbherzig, da sie ganz genau wusste, dass ich noch nie den Bus verpasst hatte – und jemals werden würde.
Ich nickte und stand auf.
„Hab' einen schönen Tag", rief Mom mir hinterher, während ich in meine Schuhe schlüpfte und mir den Rucksack über die Schulter warf.
„Du auch.", antwortete ich. Für einen Moment blieb ich stehen und lauschte kurz. Ich hätte schwören können, dass sie nebenan das gleiche tat. Das war normalerweise der Moment, in dem sie ein Foto von Dad und mir gemacht hätte, wie an jedem meiner zehn vorherigen ersten Schultage. Ich war noch nie gut darin gewesen, die richtigen Worte für solche Situationen zu finden, und so öffnete ich nach kurzem Warten die Haustür und trat ins Freie.
Der Schulbus war überfüllt mit Schülern, die sich lautstark über ihre Sommerferien austauschten. Ein kurzer Blick sagte mir, dass Bastian nicht hier war. Hätte ich einen fahrbaren Untersatz gehabt, hätte ich mir die Busfahrt ebenfalls erspart.
An der Schule angekommen ließ ich die anderen Schüler vor mir aussteigen, und ließ meinen Blick dabei aus dem Fenster und über den gefüllten Parkplatz gleiten. Es dauerte nicht lange, bis ich den grünen Subaru in der Ecke bei den Tribünen stehen sah. Selbst von hier aus konnte ich sehen, dass die hintere Tür nicht ganz geschlossen war. Bastian stand daran gelehnt, mit den Händen in den Hosentaschen vergraben.
Als unsere Blicke sich trafen, hob er seine Hand zum Gruß.
„Hey.", sagte ich, als bei ihm angekommen war. Bastian war ein wenig gewachsen, oder er stand einfach nur gerader da als üblich. Ansonsten hatte er sich keineswegs verändert, seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten. Außer, dass er vielleicht ein bisschen brauner geworden war. Auf seinem Gesicht zeichneten sich helle Linien von einer Sonnenbrille ab, die er wohl ziemlich oft getragen hatte.
„Hey, Mann.", antwortete er und lächelte verlegen. „Lange nichts mehr von dir gehört."
„Ja...", stimmte ich ihm zu, nicht ganz sicher, was ich darauf antworten sollte. „Es war viel los."
„Wie geht's deiner Oma?", fragte Bastian und seine Verlegenheit verwandelte sich in Mitleid. Natürlich hatte er davon gehört.
„Gut, gut." Er schien zu ahnen, dass dies nicht ganz der Wahrheit entsprach, und legte mir etwas unbeholfen die Hand auf die Schulter.
„Du weißt, dass ich für dich da bin, oder? Auch wenn...auch wenn die letzten Monate etwas...du weißt schon" Mir lag ein Spruch über seine Unbeholfenheit auf der Zunge, doch ich verzichtete darauf und nickte nur. Ich wusste noch nicht, wofür der Name Riley Benson stehen würde, aber Unbeholfenheit wäre auf jeden Fall Teil davon.
„Was hast du heute so für Fächer?", wechselte Bastian schließlich das Thema, während wir uns auf den Weg zum Schulgebäude machten. Die meisten Schüler waren bereits zu ihren Kursen aufgebrochen und so war der Parkplatz so gut wie leer.
Ich zog meinen zusammengefalteten Stundenplan aus meinem Rucksack und überflog schnell die Kurse.
„Englisch mit Clem, Mathe mit Reger-"
„Oh Mann. Ich dachte, wir wären dieser Schreckschraube endlich entkommen", unterbrach mich Bas.
„-danach Psychologie mit Gloves und Geschichte mit Carr", fuhr ich fort. „Ach ja, und Fitness im letzten Block."
„Richtiger Scheißtag also", war Bastians Urteil. „Naja, immerhin haben wir zwei Kurse zusammen. Besser als nichts."
Das Schulgebäude der High School war gefüllt von Schülern, die sich über die Ferien austauschten und Neuntklässlern, die verzweifelt den richtigen Raum suchten. Eigentlich machten mir solche Menschenmassen normalerweise nichts aus, zumindest nicht am Tage. In der Dunkelheit jedoch war es ein einziger Albtraum.
Im Gehen hielt ich Ausschau nach Erin, konnte sie jedoch nirgends sehen. Genau wie Bas hatte ich sie die ganzen Ferien über kaum gesehen und es fühlte sich irgendwie nicht richtig an, nur zu zweit durch die Gänge zu streifen. Bastian regte sich über die Gruppe Mädchen auf, die ständig direkt vor uns stehen blieb, um irgendwem Hallo zu sagen, und erwähnte dabei Erin nicht ein einziges Mal. Froh darüber, dass das Schweigen zwischen uns beiden gebrochen war, beschloss ich, das Thema fürs Erste ruhen zu lassen.
Erin war in so ziemlich jedem Fach besser als wir, und so überraschte es mich kaum, dass ich sie in keinem meiner Kurse sah. Es dauerte bis zur Mittagspause, dass wir sie schließlich doch noch zu Gesicht bekamen.
Bastian und ich standen in der Schlange vor der Essensausgabe, als ich plötzlich hörte, wie jemand meinen Namen rief. Ich blickte auf, und Bas sah sich ebenfalls neugierig um, bis sein Blick schließlich auf das Mädchen fiel, welches auf uns zugelaufen kam. Erin war das perfekte Beispiel dafür, wie sehr ein Sommer alles verändern konnte. Während sie damals ihre Haare immer irgendwie zusammengebunden hatte, fielen sie ihr nun in langen, glänzenden Wellen über die Schultern. Bei ihrem verlegenen Lächeln fehlte der übliche Schein der Regenbogenzahnspange, und einige Köpfe drehten sich nach ihr um, während sie zu uns kam.
„Riley, hey!" Wie üblich umarmte sie mich zur Begrüßung. „Wir haben uns wirklich viel zu lange nicht mehr gesehen.", sagte sie fast vorwurfsvoll und hielt mich auf eine Armlänge Abstand. „Du hast dich wirklich gar nicht verändert."
Ihr Blick wanderte von mir zu Bas, und ihr Lächeln wirkte etwas steifer als zuvor. „Hey Bas"
Bastian brummte nur halbherzig und drehte sich wieder um, um mit dem Jungen vor uns zu reden.
„Ich hab's versucht.", meinte Erin seufzend. So ist er halt, hätte ich gerne gesagt, doch das wusste sie ja selbst. Ich versuchte, möglichst viel Mitgefühl in meinen Blick zu stecken, denn eine andere Antwort fiel mir auch nicht ein.
„Wir müssen uns auf jeden Fall mal wieder treffen, Riles", fuhr sie fort. „Wir können uns ja wieder Milchshakes holen, wie früher. Ich kann uns auch fahren. Siehst du, das habe ich dir ja noch gar nicht erzählen können."
Sie zog einen Ausweis aus ihrer Tasche. „Ich habe meinen Führerschein bekommen. Beim ersten Versuch.", fügte sie etwas lauter hinzu. Hinter mir hörte ich Bastian leise wütend schnauben.
„Herzlichen Glückwunsch", sagte ich.
„Danke", meinte Erin strahlend. „Na gut, ich muss los. Bis bald, hoffentlich!" Sie drehte sich um und verschwand in der Schülermenge.
„Du kannst dich wieder umdrehen", sagte ich zu Bas gewandt.
„Ich dachte schon, sie geht nie", antwortete dieser genervt.
Endlich waren wir an der Essensausgabe und nahmen unsere Tabletts entgegen.
„Warum redet ihr nicht einfach mal miteinander?", fragte ich, während wir nach einem leeren Tisch suchten.
„Was soll das schon bringen?"
„Für den Anfang, dass ihr wenigstens in der Lage seid, normal in der Schule miteinander zu reden, ohne dass einer den anderen ignoriert?", schlug ich vor und setzte mich auf einen freien Platz. Bastian setzte sich mir gegenüber und schaufelte sich das Essen in den Mund.
„Ich hab' ganz vergessen, wie schrecklich das Essen hier ist.", bemerkte er, ohne auf meinen Kommentar einzugehen. Bastian war schon immer mehr der Typ gewesen, der unangenehmen Gesprächen aus dem Weg ging. Vielleicht war auch das der Grund, warum wir uns fast nie stritten. Er wollte nicht, und mir fielen nie die richtigen Worte ein.
Nach dem Mittag trennten sich unsere Wege. Bastian ging zum Spanischkurs, während ich den richtigen Raum für Psychologie suchte. Ein Blick genügte, um festzustellen, dass ich keinen einzigen der anderen Schüler im Kurs kannte. Mit gesenktem Kopf ging ich zu einem der letzten freien Plätze in der vorletzten Reihe, wobei niemand auf mich zu achten schien.
Das war das erste Mal, dass ich dich gesehen habe, Hazel. Ich wünschte ich könnte sagen, dass du mir sofort aufgefallen bist. Aber das wäre eine Lüge. Vielleicht reicht unser Name allein nicht, um unsere Geschichte zu erzählen. Vielleicht, wenn über unseren Köpfen ein großes Schild hinge auf dem „Es geht mir gut" oder „Ich bin zu schüchtern aber bitte, sprich mich an" oder „Ich brauche Hilfe" steht, vielleicht – ich weiß auch nicht, was dann wäre, aber ich wünschte, es würde etwas ändern.
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