1. Kapitel: Juni 2016
Es gibt Zeiten im Leben, in denen einfach alles passt. Momente, in denen die Sonne heller scheint und ihre Strahlen eine wohlige Wärme auf der Haut verbreiten. In denen das Meer erfrischender und der Sommerregen süßer ist. Juni 2016 war so ein langer Moment, der nie enden wollte. Ich weiß nicht, ob meine Erinnerung ihn schöner machte als er eigentlich war, doch allein beim Gedanken daran huschte ein Lächeln über mein Gesicht.
Das Schuljahr war so gut wie vorbei, und Bastian, Erin und ich verbrachten die Abende damit, ziellos durch die Gegend zu streifen. Bastian war der erste von uns gewesen, der den Führerschein bekommen hatte – wenn auch erst nach mehreren Anläufen. Und so quetschten wir uns jeden Tag nach der Schule in seinen alten Subaru mit der Hintertür, die sich nicht mehr richtig schloss, und fuhren los. Nicht, dass es irgendeinen interessanten Ort in der Kleinstadt in West Virginia gab, zu dem man hätte fahren können, aber das war uns egal. Juni 2016 war Freiheit.
Ich weiß im Nachhinein nicht, was eigentlich so besonders an dieser Zeit war. Vielleicht waren es die fehlenden Pflichten und Verantwortungen, die uns die Freiheit gaben, tun und lassen zu können was wir wollten. Vielleicht aber fühlte sich Juni 2016 rückblickend so schön an, weil er vor Juli 2016 kam. Genau wie Dunkelheit die Sterne heller scheinen lässt.
Besonders in Erinnerung geblieben war mir der letzte Schultag. Bastian und ich hatte es trotz Hilfe von Erin nicht geschafft, unsere Note in Mathe zu retten, und mussten so in die Prüfung.
„Ich hab' mich noch nie so behindert gefühlt wie heute", beschwerte sich Bastian, als wir endlich das unterkühlte Schulgebäude verließen und in Richtung Parkplatz liefen. Die Mittagssonne prallte senkrecht auf den Asphalt und schon nach wenigen Sekunden zogen wir uns im Laufen die Jacken aus.
„Die alte Kuh stand die ganze Zeit direkt vor meinem Tisch und hat auf mein Blatt geschaut. Und jedes Mal, wenn ich etwas geschrieben habe, hat sie höhnisch ihren Mund verzogen.", fuhr er fort.
„Ach, du hast etwas aufgeschrieben? Das letzte Mal, als ich zu dir rüber geguckt habe, war dein Blatt noch komplett leer.", bemerkte ich trocken. Im nächsten Moment wurde ich mit voller Wucht von Bastian zur Seite geschubst und stolperte fast über meine eigenen Füße bei dem Versuch, wieder mein Gleichgewicht zu finden.
Der große Parkplatz war so gut wie leer, und außer dem grünen Subaru standen nur zwei andere Autos von Schülern da. Erin saß am Auto gelehnt und starrte auf ihr Handy. Als sie unsere näherkommenden Schritte hörte, blickte sie auf und grinste.
„Da sind ja unsere Superhirne. Wie lief's?"
Bastian grummelte ein paar abweisende Worte und ließ sich auf den Fahrersitz plumpsen. Der Beifahrersitz war voll mit Müll und leeren Flaschen, die ich unachtsam in den Fußraum schob und mich dann ebenfalls setzte. Erin nahm ihren Stammplatz auf der Rückbank ein, wobei sie mehrere Versuche brauchte, um die widerspenstige Tür zu schließen.
Die Klimaanlage des Autos hatte schon im Vorjahr den Geist aufgegeben, und so kurbelten wir die Fenster runter und genossen den Wind, während Bastian vom Parkplatz runterfuhr. Im Radio lief Uptown Girl, und Erin beugte sich vor und drehte die Lautstärke so hoch, dass mir die Ohren wehtaten.
„Wenn wir wegen dir von den Cops angehalten werden, darfst du das bezahlen.", rief Bastian laut, um die Musik zu übertönen, aber Erin ignorierte ihn und sang noch lauter mit. Ich warf ihr einen Blick durch den Rückspiegel zu. Ihre braunen Haare fielen aus dem lockeren Dutt, während sie ihren Kopf zum Rhythmus der Musik schwang, und ihre Regenbogen-Zahnspange, über die sie sich mittlerweile schämte, glänzte im Sonnenlicht. Sie hatte ihren Arm aus dem offenen Fenster gestreckt und ließ ihre Finger im Gegenwind tänzeln. Auch sie spürte die Freiheit und genoss sie offensichtlich.
Erin bemerkte meinen Blick und zwinkerte mir zu. Peinlich berührt, dass sie mein Starren bemerkt hatte, lächelte ich zurück und richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße vor uns.
Die Hitze hatte die meisten Leute in ihre Häuser vertrieben und der Spielplatz, zu dem es uns die meiste Zeit verschlug, war menschenleer. Wir setzten uns auf die alten Schaukeln und tranken die Milchshakes, die wir uns auf dem Weg geholt hatten.
„Endlich Ferien.", sagte Erin und schlürfte ihren Erdbeershake. Wir anderen nickten zustimmend.
„Überlegt mal, nächstes Jahr sind wir schon in der Elften und dann...war's das auch schon fast wieder mit Schule.", fuhr sie fort.
„Kann nicht früh genug kommen.", meinte Bastian.
„Ich weiß nicht.", sagte Erin schulterzuckend. „Ich mag es so, wie es gerade ist. Auch, wenn ihr beide mir die meiste Zeit tierisch auf die Nerven geht.", fügte sie neckisch hinzu.
Ich nahm einen Schluck von meinem Milchshake und schaute gedankenverloren ins Leere. Ja, eigentlich war alles gut so wie es war. Bei weitem nicht perfekt, aber die Makel und Probleme störten mich irgendwie weniger als sonst.
„Um ehrlich zu sein, möchte ich einfach nur die Zeit anhalten.", sagte Erin, als hätte sie meine Gedanken gelesen.
„Du wärst gerne freiwillig für immer mit uns auf diesem wunderschönen Spielplatz, um zu süße Milchshakes zu trinken und in der Sonne zu verbrennen?", scherzte ich, war jedoch froh, dass sie lachend nickte.
„Ihr seid zwar nervig, aber nicht unausstehlich."
„Da bin ich aber erleichtert.", sagte ich sarkastisch, aber insgeheim auch wieder nicht.
So saßen wir noch eine Weile auf den rostigen Schaukeln, bis irgendwann Erins Mutter anrief und sie darum bat, auf ihren kleinen Bruder aufzupassen. Wir packten unsere Sachen zusammen, stiegen in das Auto, welches nun eher einem Ofen glich, und fuhren zu ihrem Haus. Bastian und Erin wetteten auf dem Weg, wer von ihnen den heiß begehrten Ferienjob im Kino – und damit auch Freikarten für jede Vorstellung – bekam.
„Warum zur Hölle sollten sie dich einstellen?", fragte Bastian höhnisch. „Überleg mal, wenn ich da arbeite wird es einen Ansturm von Weibern geben. Das ist eine Win-Win-Situation."
„Pass auf, Bas, dir tropft schon der Speichel aus dem Mund.", entgegnete Erin mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Na was hätten die denn von dir?", meinte Bastian, als hätte sie nichts gesagt. „Obwohl, bei dem Anblick von deiner reizenden Regenbogenzahnspange werden die Typen bestimmt krass angelockt." Seine Stimme triefte vor Sarkasmus. Als Antwort bekam er einen Tritt in den Rücken.
An ihrem Haus angekommen stieg Erin aus, beugte sich aber zum Abschied nochmal durch mein Fenster, wobei ihre Hand auf meiner Schulter ruhte.
„Macht's gut, ihr Honks." Sie grinste, drehte sich auf dem Absatz um und schlenderte zur Tür.
„Warum sind wir nochmal mit ihr befreundet?", fragte Bastian, grinste jedoch auch.
Ja, so hätte es immer bleiben können.
Ich bat Bastian, mich an Omas Haus rauszulassen. Es hatte seit zwei Wochen nicht mehr geregnet und die Überbleibsel vom Rasen vor ihrem Haus knirschten, als ich vorbei an der Haustür und direkt zum Gartentor ging. Der dahinter liegende Garten war wie eine kleine Oase in der sonstigen Trockenheit.
Blumen in jeder erdenklichen Farbe rankten aus Töpfen und Fensterkästen; Sträucher und anderes Grünzeug umrahmten die Terrasse und ein großer Walnussbaum überragte die Szene.
„Oma?", rief ich und suchte mit den Augen den Garten nach ihr ab. Die letzten Wochen war ich fast jeden Tag hier gewesen, um ihr beim Gießen zu helfen. Jedes Mal hatte sie bei meiner Ankunft auf Knien Unkraut herausgerissen oder sich in einem der alten Gartenstühle ausgeruht.
Doch heute konnte ich sie nirgends sehen.
„Hallo?" Ich klopfte an der Tür zum Wohnzimmer und spähte durch die Scheibe ins Innere des Hauses.
„Riley?", hörte ich sie dumpf antworten. Sie stand verdutzt vom Sofa auf und öffnete mir die Tür.
„Was machst du denn hier?"
Verwundert sah ich sie an. „Na dasselbe, wie die ganzen letzten Tage schon. Dir im Garten helfen.", fügte ich hinzu, als sie mich immernoch fragend ansah.
Ihr Blick huschte an mir vorbei zum Garten. „Ach ja...der Garten." Sie nickte langsam, schlüpfte in ihre Schlappen und folgte mir hinaus in die sengende Hitze. „Oh je, ist das schon wieder warm.", sagte sie und klang nun wieder mehr wie sie selbst.
Ich brummte nur zustimmten, während ich zwei volle Gießkannen hinter ihr herschleppte. Mit einem leichten Stöhnend hievte ich eine von ihnen hoch, um die Blumen in den Fensterkästen zu gießen.
„Du musst mal ein bisschen mehr Kraft bekommen, Riley. Du bist mit deinen 15 Jahren noch nicht alt genug, um sowas schon anstrengend zu finden", tadelte Oma mich. „Du weißt nie, wie lange du mit einem gesunden Körper gesegnet bist."
„Ich bin 16, Oma", bemerkte ich.
„Natürlich bist du das. Habe ich dir schon von meiner Freundin Patty erzählt? Ihre Enkelin hat einen Tumor, oder wie auch immer man das nennt, die Arme. Da lernt man erstmal die eigene Gesundheit zu schätzen, nicht wahr?"
Die Sonne schien schon längst nicht mehr so stark wie am Mittag, und doch war mein T-Shirt am Rücken komplett durchgenässt, während ich eine Gießkanne nach der anderen befüllte und wieder über den Pflanzen leerte, auf die Oma zeigte.
„Das sollte für heute erstmal reichen.", meinte Oma schließlich und erleichtert ließ ich mich in einen der Gartenstühle fallen. Oma begutachtete unsere Arbeit und blieb schließlich vor den riesigen Hortensien stehen.
„Dieses Jahr duften die überhaupt nicht so schön wie die letzten Jahre.", bemerkte sie und steckte ihre Nase in die großen, weißen Blütenköpfe.
„Wirklich? Also ich kann den Duft bis hier hin riechen."
Sie runzelte die Stirn. „Vielleicht liegt das an meinem Schnupfen. Letzte Nacht habe ich vergessen, die Klimaanlage auszumachen, ich Dussel." Sie sah zu mir hinüber und ein sanftes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
„Du solltest wahrscheinlich nach Hause gehen, bevor deine Eltern sich wieder beschweren, dass du zu spät zum Abendessen kommst."
Ich nickte und stand auf. Im Stehen überragte ich sie um mindestens einen Kopf. Sie kniff mir zum Abschied in die Seite.
„Bis morgen, Oma. Hab' dich lieb" Ich gab ihr einen Abschiedskuss auf die Wange und genoss den Duft nach Erde und Sonnencreme, den ich schon immer mit Oma verbunden hatte.
„Bis morgen, Riley. Richte dem Rest der Bande liebe Grüße von mir aus."
Der Himmel färbte sich orange, und irgendwo saß eine Zikade und erfüllte die Luft mit ihrem Zirpen. Ein leichter Wind ließ die Blätter der Bäume leise rauschen und verteilte den süßen Duft verschiedenster Blumen des großen Gartens. Oma begleitete mich zum Gartentor, die Hand um meine Hüfte gelegt, während meine Hand auf ihrer Schulter ruhte. Zuhause würde es Lasagne geben, wie jeden Donnerstagabend.
Dad und Mom und Keira würden wahrscheinlich schon auf mich warten, und ich würde Fragen nach der Prüfung aus dem Weg gehen, natürlich erfolglos.
Ich muss mich daran erinnern, dass mein Gehirn all diese Erinnerungen verschönerte, und dass ich zu dem Zeitpunkt wahrscheinlich ein Ziehen im Bauch bei der Vorstellung hatte, Dad von meiner katastrophalen Leistung in der Prüfung zu erzählen. Dass das Zirpen der Zikade mir tierisch auf den Geist ging und ich eigentlich gar kein Appetit auf Lasagne hatte.
Und dennoch. Juni 2016 war Freiheit, und ich würde alles dafür geben, die Zeit wieder zurückdrehen zu können.
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