Kapitel 8

Kevin

Kevin joggte zum Busbahnhof. Zum Glück war ein Bus seiner Linie gerade angekommen.

Zu Hause hetzte er die drei Straßenzüge entlang zu seiner Wohnung. Philip stand schon fertig geduscht und angezogen in seinem Zimmer, lächelte ihn an.

Kevin nahm ihn auf den Arm, küsste ihn.
„Brav gemacht, mein Großer!" lobte er.

Mary und Selina lagen noch schlafend im Doppelbett. Die Tochter hatte die Situation gleich ausgenutzt! dachte er. Aber das wäre gar keine so schlechte Idee.
Er schlief in Zukunft bei Philip und die beiden Klone im Schlafzimmer.

Leise holte er frische Wäsche und seine Arbeitsklamotten aus dem Schrank, hoffte, die Frau würde nicht aufwachen

Mary öffnete die Augen, wälzte ihre Körpermassen aus dem Bett, baute sich vor ihm auf. „Ah! der gnädige Herr erinnert sich noch an seine Familie!" ätzte sie. „Hattest du wenigstens Spaß?"

Er wich ihrem Blick aus. „Ich habe bei Dennis gepennt!" erfand er auf die Schnelle. Er hatte sich noch gar keine Ausrede ausgedacht gehabt.
Als er aus der Dusche kam, erwartete sie ihn schon in der Küche. „Bloß blöd, dass Dennis das gar nicht mitgekriegt hat! Weil er nämlich angerufen hat!" keifte sie weiter.

Philip, der auf sein Frühstück wartete, begann sich hin und her zu wiegen. Danach würde er diesen seltsamen Singsang anstimmen, der das Brüllen einleitete. Kevin kannte alle Anzeichen genau.
„Wir reden abends! Bitte, reg den Kleinen nicht auf!" flehte er.

„Den Kleinen! Och Gottchen! Den Kleinen, den Süßen, den Behinderten! Der kommt natürlich immer an erster Stelle!" kreischte sie, und im selben Moment brüllte Philip los.

Kevin nahm ihn wieder auf den Arm, streichelte ihn beruhigend. „Willst du mit Papa zur Arbeit!" flüsterte er ihm leise zu.

Sofort stellte der Junge das Schreien ein. Kevin griff sich das Buch, das sein Sohn zur Zeit immer mit sich herumschleppte und das Spiel.
Ich muss ihm mal ein Neues kaufen! dachte er.

In der Bäckerei um die Ecke holte er ein paar belegte Semmeln, die sie im Bus essen konnten.
Philip legte die Serviette fein säuberlich auf seinen Schoß, biss in das leckere Brötchen, fing jeden Krümel auf, steckte ihn in den Mund.

Eine ältere Dame, die ihnen gegenüber saß, lächelte Kevin an. „Der ist aber gut erzogen!" sagte sie und wollte dem Kind über den Kopf streicheln. Doch der Junge wich entsetzt zurück.
Die Frau blickte verunsichert. „Er lässt sich nicht gerne anfassen!" erklärte Kevin. „Aber ja, er ist sehr brav!"

Philip sah ihn mit großen Augen an. Ein kleines Lächeln blitzte in einem Augenwinkel auf.
Schon zum zweiten Mal heute! wunderte sich Kevin. Hatte es ihm so gut getan, dass er alleine schlafen konnte?
Was tat Selina ihm denn an?

„Was hältst du davon, wenn Selina in Zukunft bei Mama schläft? Und ich bleibe bei dir?"
Philip nickte begeistert.
„Hast du Angst vor Selina?" fragte Kevin nach.
Sein Sohn begann wieder, mit dem Oberkörper hin und her zu schaukeln. Kevin hielt seine Hand fest.
„Was macht sie denn?"

Das Schaukeln wurde schneller.

„Ist gut, Philip! Alles ist gut!" Er streichelte die kleinen Fingerchen, die sich vertrauensvoll um seine Hand schlossen.
Da wusste Kevin, dass etwas geschehen musste.
Sein Sohn brauchte Sicherheit.
Er selbst brauchte ein Leben!

Die Nacht hatte etwas in ihm ausgelöst, er fühlte es deutlich.
Gut! Er würde wohl Kathi nicht bekommen.

Schon gar nicht, nachdem er einfach wortlos verschwunden war. Aber er musste ja auch nicht nach den Sternen greifen.
Doch einen Weg aus der Hölle musste es geben.
Für ihn und für seinen Sohn!

Er musste die Kraft jetzt dazu aufbringen, und er würde es tun!
Er würde kämpfen um einen Zipfel vom Glück!

An seiner Arbeitsstelle machte er gleich Nägel mit Köpfen und ging zum Chef.
Josef konnte Kevin gut leiden, wusste, was er an dem kräftigen, aber auch intelligenten jungen Kerl hatte.

Er fehlte nie wegen durchsoffener Nächte, musste höchstens Mal weg wegen seinem Sohn. Josef ahnte viel davon, was Kevin durchmachen musste. Es störte ihn auch nie, wenn er den Kleinen mitbrachte.

Kevin sah den älteren Mann offen und selbstbewusst an, etwas, das Josef blitzschnell registrierte. „Könnte ich vielleicht einen Vorschuss haben? Also, bar, nicht aufs Konto! Ich muss Philip untersuchen lassen, aber der Arzt schreibt mir keine Überweisung. Außerdem muss ich mit ihm weggehen von zu Hause. Ich muss das alleinige Sorgerecht bekommen und mir eine Wohnung suchen!" Er hatte schnell gesprochen, damit ihn der Mut gar nicht erst wieder verließ.

Puh! dachte sein Chef. Da lag ja einiges vor dem Jungen!
„Setz dich erst Mal!" bat er ruhig. „Natürlich bekommst du einen Vorschuss, oder besser einen Bonus für deine zuverlässige Arbeit. Aber das mit dem Arzt müssen wir besprechen. Du gehst zu meinem, der schreibt dir auch die Überweisung, ich rede mit ihm. Und dann sehen wir weiter."

Er stand auf, ging zum Tresor, holte ein Bündel Geldscheine heraus. „Das sind erst mal Tausend. Muss ja keiner von den anderen erfahren!"

Kevin taumelte aus dem Büro. So einfach hatte er sich das nicht vorgestellt!
Kathi! schrie es in ihm. Du hast mir echt Glück gebracht!

Kurz darauf kam der Chef in die Lagerhalle. „Heute um 16 Uhr hast du einen Termin!" erklärte er Kevin und drückte ihm einen Zettel mit der Adresse des Arztes in die Hand.
„Am Samstag?" fragte Kevin erstaunt.
„Ja! Er ist noch einer vom alten Schlag! Ein Arzt für die Menschen, nicht fürs Bankkonto!"

Der Hausarzt seines Chefs empfing ihn freundlich, hörte sich Kevins Geschichte an. Der junge Mann gefiel ihm. Er hatte sich viele Gedanken über seinen Sohn gemacht, suchte nun Hilfe für ihn.

„Also! Ich glaube jetzt auch nicht, dass das Kind geistig behindert ist, obwohl natürlich die Trinkerei der Mutter das schon hätte auslösen können. Ich vermute wie Sie eine Form von Autismus."

Er tippte etwas in den Computer, druckte die Überweisung aus. „Manchmal kann ich meine Kollegen nicht recht verstehen!" meinte er. „Sie gehen am besten ins Klinikum. Dort gibt es eine sehr gute Pädiatrie mit ausgebildeten Kinderpsychologen. Lassen Sie sich von den Damen am Telefon nicht abwimmeln. Wenn die Ihnen keinen zeitnahen Termin geben wollen, melden Sie sich noch einmal bei mir. Also länger als 14 Tage sollten Sie nicht warten!"

Kevins Herz schlug ihm bis zum Hals. Er hatte gehandelt, und es war nicht einmal sonderlich schwer gewesen. Vielleicht gab es eine Chance auf ein normales Leben für sein Kind.
Und vielleicht auch für ihn.

Zur Feier des Tages lud ein etwas glücklicher Vater einen sehr ruhigen Sohn in einen Burgerladen ein.

Doch zu Hause traf ihn sein Leben wieder mit voller Wucht. Seine Brüder samt Vater belagerten sein kleines Wohnzimmer, die Bierflaschen standen in Massen auf dem Fußboden herum.
Die Mutter lag wahrscheinlich besoffen zu Hause.

Er brachte Philip, der schon wieder mit dem Oberkörper zu schaukeln anfing, schnell ins Bett, setzte ihm seine alten Kopfhörer auf, die schon lange nicht mehr funktionierten, aber für ein wenig Schallschutz sorgten. Er küsste ihn und drückte ihn an sich.
Bald, mein Kleiner! versprach er ihm bei sich.

Dann musste er wohl oder übel nach nebenan. Er brauchte sein Ladegerät, sein Handy war mehr als leer. Das Telefon war auch einer der ewigen Streitpunkte. Er brauchte eines, um wegen Philip überall erreichbar zu sein. Aber für ein zweites reichte das Geld einfach nicht.

Der Raum war verqualmt, stank nach Bier und Männerschweiß.
„Ah! Der Herr Doktor!" rief Dennis, und alle lachten brüllend.
„Wann machst du schnell wieder dein Examen?" schloss sich Justin an die Fopperei seines Bruders an.

Kevin verschloss seine Ohren. „Ihr solltet hier nicht rauchen, vor der Kleinen!" stieß er nur hervor.
Selina tobte zwischen den Erwachsenen herum. „Halt die Klappe!" sagte sie zu ihrem Vater, und wieder lachten alle.

Mary sah, was er in den Händen hielt. „Oh! Der Herr muss telefonieren! Das Vögelchen vögelt nämlich wieder!" Sie kreischte vor Lachen. „Aber nicht mich!" Alle schlugen sich auf die Bäuche, leerten die Flaschen.

Kevin verließ das Zimmer fluchtartig, sah aber noch aus den Augenwinkeln, wie Dustins Hand unter Marys viel zu kurzen Rock glitt. Die Türe hatte sich schon seit langem verzogen, schloss nicht mehr richtig.

So musste er anhören, was sein ältester Bruder nicht gerade leise sagte: „Nicht rauchen vor der Kleinen! Meine Tochter wird halt nicht so verzärtelt wie der Krüppel! Die hält das schon aus! Hat ja nicht seine kaputten Gene!"

Kevin erstarrte, aber nur kurz. Das war ja die beste Nachricht des Jahrhunderts! Selina, dieses Kind, für das er einfach keine Gefühle entwickeln konnte, war nicht von ihm, sondern von seinem Bruder!

Er blieb noch eine Weile vor der Türe stehen. Vielleicht bekam er noch einige gut gehütete Familiengeheimnisse mit.
„Der Trottel hat aber schön brav bezahlt für sie und dich!" setzte Dustin noch eins drauf.
Und Ronny hatte auch noch etwas beizutragen. „Das war schon cool, wie du ihn damals entjungfert hast! Nach zwei Bier war der fix und alle! Ein Wunder, dass er noch einen hochgebracht hat!"

„Na ja! Ich hab schon ein bisschen nachgeholfen!" kreischte Mary. „Es musste ja sein! Ich musste ja schwanger werden! Sonst hätte euer Plan ja nur halb geklappt!"

Kevin wurde speiübel. Er schaffte es gerade noch zur Toilette. Er hatte schon gewusst, dass seine Brüder ihn absichtlich abgefüllt hatten, Mary auf ihn angesetzt hatten.

Aber, dass sie es auf eine Schwangerschaft abgesehen hatten, voll bewusst sein Leben zerstört hatten, weil sie ihn kannten, weil sie genau gewusst hatten, dass er sich seiner Verantwortung nicht entziehen würde, das war ihm neu.
Das hätte er allen nicht zugetraut.
Dafür hatte seine Fantasie nicht ausgereicht.

Als er wieder klar denken konnte, als ihm das ganze Ausmaß dessen, was er eben gehört hatte, bewusst wurde, handelte er. Er stopfte seine Klamotten und Toilettenartikel in verschiedene Taschen, einen Koffer hatten sie nicht. Dann ging er ins Kinderzimmer, packte auch Philips Sachen ein, weckte den Jungen, nahm ihn auf den Arm und verließ Wohnung und Haus.

Erst dann überlegte er, wo sie überhaupt hinsollten.
Er hätte sein Handy erst aufladen sollen! Aber wen hätte er anrufen sollen?
Die Verzweiflung drohte ihn zu überrollen.
Aber er musste stark sein!
Für Philip!
Da fiel ihm das Geld von seinem Chef ein. Sie konnten sich ein Zimmer in einer Pension nehmen!

Oder in einem kleinen günstigen Hotel. Bei der Uni war eines, er fuhr täglich mit dem Bus daran vorbei. Morgen war Sonntag, sein Handy würde funktionieren, morgen würde er weitersehen.
Er musste vorwärts sehen, vorwärts gehen!
Nicht mehr zurück!
Nie mehr zurück!
Der Portier beäugte ihn skeptisch, die vielen Taschen und Tüten machten ihn misstrauisch.

Kevin versuchte ein Lächeln von Mann zu Mann. „Meine Frau hat meine ganzen Sachen aus dem Fenster geworfen. Nur den Koffer dazu nicht!"

Der Portier lächelte mitfühlend. „Und der Kleine?"
„Ist nicht von ihr. Den hab ich in die Beziehung mitgebracht. Sie konnte ihn nie leiden!"
Damit hatte er gewonnen. Eine Frau, die ein Kind ablehnt, und beide dann vor die Türe setzt, das ging gar nicht!

Er legte ein Meldeformular vor Kevin, der es akribisch ausfüllte.

„Soll ich im Voraus bezahlen? Ich weiß aber nicht, wie lange wir bleiben!"
„Passt schon! Ich denke, ich kann Ihnen vertrauen!" bekam er zur Antwort.

Das hatte er auch noch nicht oft gehört, noch dazu von einem Wildfremden! dachte er.

Er brachte Philip und all die Behältnisse mit ihrem gemeinsamen Hab und Gut nach oben ins Zimmer, wunderte sich ein bisschen, dass der Junge alles so gelassen wegsteckte. Aber außerhalb der Wohnung schien er immer ruhiger zu sein als zu Hause.
Er musste das unbedingt in der Klinik ansprechen!

Philip schlief fast augenblicklich ein, Kevin setzte sich auf den kleinen Balkon, sah in den sommerlichen Sternenhimmel.

Wenn es gestern nicht gewittert hätte, wenn es gestern einen so klaren Himmel gegeben hätte, hätte er Kathi nie kennengelernt. Ihre Welten hatten keine Schnittmenge.

Er wusste nicht, was ihr Traumjob war, wegen dem sie Köln verlassen hatte, aber er war sicher gut bezahlt, wenn er an die luxuriöse Wohnung dachte.
Er hatte sie absichtlich nicht gefragt, nicht dass er auf die Idee käme, sie unbewusst oder auch bewusst zu suchen.

Aber er brauchte sie ja nicht zu suchen, er wusste ja, wo sie wohnte.
Wahlenstraße 15, vierter Stock!
Seine Gedanken tanzten ganz schön wirr in seinem Kopf, er merkte es selbst.
Kathi hatte er sie genannt, als die Leidenschaft ihn vollkommen und total erwischt hatte.
Er war wie im Taumel der Gefühle gewesen in dieser Nacht.

Er hatte gelernt, was Sex sein konnte!
Das, was er erlebt hatte, hatte nicht das geringste damit zu tun, was er gekannt hatte.
Mary hatte sich nie gerne anfassen lassen, auch nicht am Anfang, als er den Wunsch dazu verspürt hatte.
Er hätte beim ersten Mal gerne ihren Körper etwas genauer erkundet, doch sie hatte seine Hände festgehalten.

„Jetzt mach schon!" hatte sie ihn angemault - und sein vom ungewohnten Alkohol benebeltes Hirn hatte geschwiegen - und sein Körper hatte gemacht.

Es war okay gewesen, er war froh, es zum ersten Mal getan zu haben, seine Unschuld verloren zu haben.
Er war 19, die Hormone kochten in seinem Blut, und als sie ihm erzählt hatte, dass sie schwanger war, hatte er es noch nicht einmal so tragisch genommen.

Erst als seine und ihre Sippe ihn in die Mangel genommen hatten, ihm Pest und Cholera angedroht hatten, falls er sich nicht einen Job suchte, um für seine Familie zu sorgen, war ihm die Tragweite dessen, was geschehen war, bewusst geworden.

Da hatte er aber immer noch fest daran geglaubt, dass Mary arbeiten würde, sobald der Mutterschutz vorbei war, und er eben ein Jahr später mit dem Studium beginnen würde.

Doch es war anders gekommen.


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top