Kapitel 63
Sechs Jahre später IV
Philip
Philip lernte leicht, was nicht anders zu erwarten gewesen war. Als er elf Jahre alt war, beschloss er, dass er wie sein Vater zu den Domspatzen wollte – und wenn Philip etwas beschloss, machte sein Umfeld lieber das, was er beschlossen hatte.
Er war nie frech, böse oder aufsässig, aber er hatte eine Hartnäckigkeit entwickelt, die sein Selbstvertrauen wiederspiegelte.
Kevin diskutierte eine Weile mit seinem Sohn, brachte viel Argumente vor, doch Philip entkräftete sie alle.
„Ich muss es versuchen, Papa! Wenn es nicht klappt, kann ich einen anderen Weg finden. Wie wir versucht haben, den Jakobsweg zu gehen - jeden Tag neu. Wenn ich es nicht geschafft hätte, hätten wir uns etwas anderes überlegen müssen. Vielleicht gibt es auch einen schlechten Tag, wie damals, als wir mit dem Taxi gefahren sind, aber wir haben durchgehalten! Und ich werde auch die Schule durchhalten!"
So gingen Kathi und Kevin mit ihrem Sohn zum Schulleiter, der sich sehr freute, den Nachwuchs seines einstigen Superstars aufnehmen zu können. Dr. Mader versicherte den Eltern, dass er ein Auge auf Philip haben würde, dass auch die Lehrer dem Jungen allen Freiraum geben würden, den er brauchte.
Ein Jahr nach dem Eintritt ins Gymnasium war Philip der Star der Schule. Alle liebten den hübschen Kerl, der nur hin und wieder etwas seltsame Anwandlungen hatte.
Die Pausen durfte er in einem Zimmerchen mit einem Computer verbringen, vor und nach dem Unterricht oder den Chorproben waren die Mitschüler seltsamer Weise stets bereit, sich ruhig zu verhalten, nachdem ihnen Philip erklärt hatte, dass er ein wenig autistisch war und Lärm nicht so gut aushalten konnte.
Ein Umstand, den die Lehrer sehr genossen.
Manche von ihnen konnten sich noch an seinen Vater erinnern, den ihnen damals sein Klassenlehrer Herr Müller sehr ans Herz gelegt hatte.
Etwas skeptisch waren sie schon gewesen, wie sich ein Junge aus diesem Milieu in ihrer doch etwas exklusiven Gemeinschaft zurecht finden würde. Sie hatten während der gesamten Schulzeit Kevins weder einen Vater noch eine Mutter zu sehen bekommen.
Das war beim Sohn nun anders. Kevin und die schöne Frau an seiner Seite, die wohl so etwas wie eine Stiefmutter war, wenn Philip sie auch ganz einfach Kathi nannte, nahmen sehr engagiert am Schulleben teil, begleiteten den Jungen auch auf der ersten Konzertreise des Chores.
Philip Berger würde seinen Weg gehen, das waren sich alle einig – auch wenn er ein bisschen autistisch war.
Kevin und Kathi
Kevin und Kathi feierten das Glück und das Leben jeden Tag, vergaßen nicht eine Stunde die Fehler der Vergangenheit. Sein Studium forderte ihm viel ab, doch es blieb immer genug Zeit für die Liebe.
Die Professorin, die ihn an seinem ersten Tag so vorführen hatte wollen, war seine größte Förderin geworden. Je näher sie den Vorzeigestudenten kennenlernte, desto mehr bedauerte sie die harschen Worte von damals.
Sie bestärkte ihn auch bei seinem Plan, Chirurgie und da vor allem Kinderchirurgie als Fachgebiet zu wählen. „Sie haben so geschickte Hände, die brauchen sie draußen an der Front!"
Die meisten Praktika leistete er am Klinikum ab, einige auch auf Kathis Station. Sie hatte sich gegen eine Zusatzausbildung als Chirurgin entschieden, auch gegen eine Karriere. Sie war zufrieden als Stationsärztin, hatte noch genügend Zeit um zu leben.
Pascal war ganz ihrer Meinung, wollte etwas von seinen Kindern haben. Jakob war als Oberarzt zu ihrem Boss aufgestiegen, was aber ihrer Freundschaft und kollegialen Zusammenarbeit keinen Abbruch tat. Er hatte sich neu verliebt, eine der Laborantinnen geheiratet, die auch ziemlich schnell nach der Hochzeit schwanger geworden war.
Als Kevin sie am ersten warmen Sommerabend wieder zum Hochstand entführte, wurde Kathi sehr ernst. Er bekam Angst, er hätte einen Fehler gemacht, sah sie verunsichert an.
Doch sie lächelte ihn an – dieses gefährliche Lächeln hatte sie noch immer ganz schön drauf – und strich ihm liebevoll die wie immer etwas zu langen wilden Haare aus dem Gesicht.
Dann schweifte ihr Blick ab.
„Als wir das letzte Mal hier waren, habe ich mir geschworen, immer an diesen unvergesslichen Abend zu denken, wenn ich an deiner Liebe zweifeln sollte! Und dann, bei der ersten Bewährungsprobe, habe ich alles vergessen, was wir gehabt hatten!"
Er drückte sie an sich. „Aber doch nicht für lange!" beruhigte er sie. „Du hast dich ja schnell wieder an den größten Lover ever erinnert!"
Sein Scherz, der wahrer nicht hätte sein können, fegte die Wehmut und ihr schlechtes Gewissen weg.
„Nur schade, dass du so bescheiden bist!" zog sie ihn auf.
„Ich arbeite an meinem Ego!" versprach er lachend und küsste ihr freches „Gott bewahre!" einfach weg.
Zum Schlafen kamen sie erst im Morgengrauen.
In diesem Sommer holten sie ihren im ersten Jahr verpatzten Urlaub nach.
Obwohl das keiner von beiden so sah. Er hatte unvergessliche Tage mit seinem Sohn verbracht, sie hatte die beiden nach deren großem Abenteuer zurückbekommen.
Jean und Jerome hatten sie eingeladen, zur Taufe ihres Sohnes ins Elsass zu kommen. Jeromes Schwester hatte mit Jeans Samen das Baby als Leihmutter ausgetragen. Der kleine Jacques machte das Glück des schwulen Paares komplett.
Die Herkunft des Kleinen Philip zu erklären, überstieg Kevins Kraft. Aber er musste das ja auch gar nicht, er hatte sich schließlich eine Kinderärztin und-psychologin geangelt. Nach einem sehr intensiven Gespräch hatte Philip verstanden, dass es nicht nur Familien gab, die aus Vater, Mutter und Kind bestanden.
Wieder dachte Philip an seinen Wunsch, dass Kathi seine Mama werden würde. Ob er sie heute darum bitten sollte?
Doch gerade noch rechtzeitig wurde ihm klar, dass er sie dann auch Mama nennen musste. Und das würde er wohl nicht schaffen. Denn da sah er sofort die dicke, böse Frau vor sich, deren Bild er unbedingt vergessen wollte.
So blieb er lieber bei Kathi – so wie es immer gewesen war. Kathi stand für Liebe, Vertrauen, Fehler verzeihen, für Lachen, für Ruhe und Stille, wenn er das brauchte. Kathi stand für glücklich sein.
Nach der Familienfeier bei den französischen Freunden fuhren die drei weiter nach Spanien ans Meer. Sie mieteten ein kleines Appartement direkt am Hafen. Kevin hatte keine Probleme damit, dass Kathi ihre Scheckkarte zückte, um die Kaution zu bezahlen.
Er hatte überhaupt nie Probleme damit, dass im Moment sie die Kohle verdiente. Für seine Klamotten sorgte noch immer Albert, für einen Lebensmitteleinkauf oder ein kleines Geschenk für seine Süße reichten das Stipendium und die Scheine, die sein „Stiefvater" ihm immer wieder zusteckte. Über so etwas Unwichtiges wie Geld zerbrachen sie sich beide nicht den Kopf.
Da gab es bei Gott wichtigere Dinge.
Wie sie sich zum Lachen bringen konnten, zum Beispiel.
Oder, wie Philip in der Lernzelle zurechtkam.
Oder, wie sie sich oft genug abseilen konnten, um sich in den Himmel zu lieben.
Oder, welchen Film sie im Kino verschmusen wollten.
Oder, ob er ihr jetzt den roten oder den schwarzen Slip schenken sollte.
Oder, ob sie sich oft genug sagten, wie sehr sie sich liebten.
An einem Abend in einer kleinen Taverne rückte sie mit einem Problem heraus, das sie schon eine ganze Weile mit sich herumtrug.
Nichts Weltbewegendes – aber sie wollte schon seine Meinung dazu hören.
„Papa möchte für uns ein Haus bauen, im Westen, in einem Neubaugebiet!" stieß sie hervor, nachdem sie sich mit einem Glas Wein etwas Mut angetrunken hatte. Kevin trank noch immer kaum Alkohol, nur hin und wieder genoss er zusammen mit der Liebe seines Lebens einen guten Tropfen.
Nach ihrer Ansage schweifte sein Blick etwas ab.
Offen sprechen! ermahnte er sich. Über alles!
Seine Augen kamen zurück zu ihrem schönen Gesicht, das ihn noch immer so faszinierte wie an jenem Abend in der Bar.
„Mir gefällt es sehr gut in unserer Wohnung!" sagte er leise.
„Mir auch!" flüsterte sie erleichtert und drückte seine Hand.
Das machte ihn mutig. „Ich genieße es sehr, so zentral zu wohnen. Das gibt mir ein wenig von meiner Jugend zurück!" Das war die Wahrheit, er empfand es immer wieder aufs Neue so.
Wenn sie tanzen gehen wollten, wenn Philip bei Albert und Angelika oder bei Gregor war, mussten sie nur ein paar Straßen weit laufen.
Alle wichtigen Einkaufsmöglichkeiten waren fußläufig zu erreichen. Wenn er an freien Tagen Semmeln holte, musste er nur nach unten und ins Nachbarhaus. Kinos und Lokale lagen um sie herum.
Max und Josie wohnten praktisch um die Ecke. Wenn er sich am Morgen rechtzeitig von seiner Süßen trennen konnte, fuhr er mit dem Bus zur Uni – was allerdings eher selten gelang.
„Dann ist es ja gut, dass wir einer Meinung sind!" meinte Kathi nur, und das Thema war erledigt. Auch sie genoss es, die kleine Innenstadt direkt vor der Haustüre zu haben.
Der Fluss, den Philip so liebte, die Biergärten, die sie so liebte – alles war nah. Großeinkäufe für Lebensmittel erledigte meistens Kevin, wenn sie arbeitete, weil sie Supermärkte hasste. Leckereien gab es an jeder Straßenecke in der Nähe. Lieferdienste, die Philips Leidenschaft waren, erreichten sie binnen Minuten.
Philip bemerkte die sehnsüchtigen Blicke, die sein Papa Kathi zuwarf. Heute Nacht würden sie wieder viel lachen in dem Zimmer neben ihm, er würde lächeln, sich freuen und glücklich sein. So glücklich, wie er seit über einem Jahre war, seit der Papa ihn aufgeweckt hatte und ihn zu Albert in das kleine Hotel gebracht hatte.
Seit er keine Angst mehr vor der bösen Mama und der bösen Schwester haben musste.
Seit er nicht mehr der Behinderte war, sondern Philip, der Junge, den alle mochten – auch wenn er ein wenig autistisch war.
Manchmal, wenn der Papa und Kathi in der Nacht so viel lachten, wenn sie auch oft ein paar komische Laute ausstießen, wenn das Bett ein wenig gegen die Wand stieß, fragte er sich, was wohl damals geschehen war, dass der Papa mit ihm weggegangen war.
Es hatte ein schweres Gewitter gegeben, das hatte er trotz der Tablette, die er hatte schlucken müssen, weil er so durcheinander gewesen war, mitbekommen.
Auch die lauten Onkel, die Mama, die kreischte, Selina, die dauernd quietschte, hatte er noch gehört. Der Gestank von Rauch und Bier war in sein Zimmer gekommen, ihm war schlecht geworden.
Doch dann war er eingeschlafen, und in seinen Träumen war der Engel aus dem Buch, das er zuletzt gelesen hatte, zu ihm gekommen. Er war schön gewesen, der Engel, das wusste er noch genau.
Und er hatte ausgesehen wie Dr. Kathi, die seine Angst weggezaubert hatte.
Glücklich lächelnd schlief er dann immer ein.
So auch in dieser Nacht in Spanien.
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