Kapitel 61
Sechs Jahre später II
Familie Weiß
Ilona war am Boden zerstört und untröstlich. Gerade hatte sie das dritte Baby verloren, und die Ärzte hatten Endometriose bei ihr festgestellt.
Sie würde also nie ein eigenes Kind bekommen!
Walter, der Mann, den sie so sehr liebte, dem sie unbedingt ein Kind schenken wollte, hielt sie im Arm und versuchte, sie zu trösten.
Für ihn war Ilona das Wichtigste im Leben, er musste sich nicht unbedingt fortpflanzen, was er ihr auch schon oft und oft erklärt hatte.
Endlich ließ sich seine Frau überzeugen, dass sie auch ohne Kind oder mit einer Adoption glücklich werden konnten.
Doch schnell erfuhren sie, dass es schwierig werden würde, ein Baby zur Adoption zu bekommen. Da rief das Jugendamt an, bat sie, sich als Pflegeeltern zur Verfügung zu stellen.
Sie hatten beide Psychologie studiert, hatten sich eine eigene Therapie-Praxis aufgebaut. So kam als erstes Sean zu ihnen, dessen drogensüchtige Mutter während ihres Entzuges das Sorgerecht abgesprochen bekommen hatte.
Neila wurde ihren Eltern weggenommen, weil der Vater die Mutter ständig schlug, und das kleine Mädchen vollkommen verstört war.
Es folgten Basti, Mia, Jonny, Mike. Anfangs war es schwierig, wenn sie Kinder wieder hergeben mussten. Doch es machte sie auch zufrieden, wenn die familiären Verhältnisse der Kleinen sich gebessert hatten, wenn sie die Kinder mental hatten stärken können.
Basti und Mia blieben auf unabsehbare Zeit bei ihnen, eine Adoption der beiden Wonneproppen schien möglich.
Dann kam Selina.
Das Mädchen brachte sie an ihre Grenzen. Sie war frech, bösartig zu den beiden anderen, setzte die Kinder unter Druck, quälte sie mit Drohungen, war vollkommen resistent gegen Zuneigung.
Ilona weinte viel, was Walters Herz quälte. All die Kinder, die sie bei sich aufgenommen hatten, hatten ein schweres Leben hinter sich, waren verstört, verunsichert, am Anfang ablehnend. Doch alle hatten sie geknackt – mit Geduld, Verständnis, Liebe.
Selina dagegen biss nur um sich, ließ keine Nähe zu. Sie schlug nach den Erwachsenen, wenn sie sie in den Arm nehmen wollten, warf die Teller mit dem gesunden Essen auf den Boden, war beleidigend gegen alle.
„Ich will zu meiner Mama!" schrie sie immer nur. „Ihr seid wie der Trottel, der mein Papa ist!"
Als sie kurz davor waren aufzugeben, schaffte Mia die Wende.
Ilona belauschte das Gespräch der beiden Mädchen.
„Jemand, der so hässlich ist wie du, sollte nicht auch noch so böse sein!" erklärte Mia mit dem Selbstbewusstsein, das sie in der letzten Zeit bekommen hatte.
Selina blieben für eine kurze Weile die Worte im Hals stecken. „Du bist wohl irre, so etwas zu sagen! Ich hau dich tot!" konterte sie schließlich und baute sich drohend vor dem Mädchen auf.
Mia lachte nur. „Du kannst mich gar nicht tot hauen! Du bist viel zu fett! Basti und Mama und Papa hauen dich um!" Sie sah die neue Schwester böse an. „Wir haben es so gut gehabt, bis du gekommen bist! Warum gehst du nicht wieder fort?"
Selina schien nachzudenken.
Ja!
Sie würde wieder fortgehen!
Aber wohin?
Die Mama war im Gefängnis, der Trottelpapa weg wie Oma Angelika, die Onkel und Opa Herrmann auch im Knast.
Ein paar Tage lang war sie in so einem Heim gewesen, wo die großen Kinder sie ganz schön schikaniert hatten. Eigentlich war es hier ganz gut.
Aber so schnell konnte sie sich nicht geschlagen geben. „Das hättest du wohl gerne, dass ich abhaue!"
„Ja! Gleich jetzt! Je schneller, desto besser! Wir wollen unsere Ruhe!" erklärte Mia, die irgendwie fühlte, dass sie Oberwasser bekommen hatte.
Da fühlte Selina etwas Feuchtes in ihren Augen.
Weg!
Sie sollte weg!
Wieder einmal!
Aber hier gab es ein schönes Zimmer für sie alleine, die Wäsche roch so gut, niemand schrie sie an.
Eigentlich war das Haus, die Familie das Beste, was sie je gehabt hatte.
Die ersten Tränen begannen, über ihre Wangen zu rollen. „Wo soll ich denn hin?" fragte sie leise. Mia, die durch die Zeit bei den Weiß' sehr empfänglich für Empathie geworden war, tat das komische Mädchen leid.
„Du kannst schon bleiben, wenn du nicht mehr so schrecklich bist! Mama Ilona weint wegen dir, das mag ich nicht! Basti hat Angst vor dir, das mag ich auch nicht! Aber dich kann ich schon mögen, wenn du nett bist!"
Selina sah das Mädchen ungläubig an. „Du kannst mich mögen?"
„Schon! Mama Ilona sagt immer, jeden kann man mögen! Mich haben sie auch gemocht, obwohl ich nicht geredet habe und ins Bett gepieselt habe!" erklärte Mia. „Und Basti war ganz dünn, hat nichts gegessen, immer nur gespuckt. Aber Mama Ilona und Papa Walter haben ihn auch gemocht!"
Selinas Augen wurden immer größer. Ihre Mama hatte sie auch gemocht. Zum Schluss nicht mehr so sehr, da hat sie eigentlich immer geschimpft mit ihr. Seit der Papa weggegangen war und den Behinderten mitgenommen hat. Seitdem war die Mama anders geworden, war immer weg, hat sie alleine gelassen, hat fremde Männer mit nach Hause gebracht, die sie immer so komisch angesehen hatten.
Sie hatten ihr Angst gemacht, und manchmal hatte sie sich gewünscht, dass der Papa wieder zurück käme. Von ihr aus hätte er auch den Behinderten wieder mitbringen können.
Vielleicht wäre sie nicht mehr so gemein zu Philip gewesen, vielleicht hätte der Papa sie dann sogar auch gemocht. Irgendwie war der Papa besser als die Mama, besser als die Onkel und Opa Herrmann.
Vielleicht waren ja auch diese Ilona und der Walter besser?
Wenn sie nicht mehr so böse war, vielleicht konnten sie sie auch mögen?
So wie Basti und Mia?
Ilona sah in den Augen des Mädchens die Trauer und die Verzweiflung und wusste, dass sie es schaffen würden.
Am Abend wunderte sich Walter über eine Selina, die ruhig am Tisch saß und den Eintopf löffelte.
Sie ließ sich brav ins Bett bringen, lauschte der Geschichte, die er den Dreien vorlas.
Ilona schien glücklicher als an den Tagen zuvor zu sein. Bei einem Glas Wein erzählte sie ihm von Mias Frontalangriff auf ihr neuestes Pflegekind.
Lächelnd nahm er seine Frau in die Arme, lächelnd ließ sie das nur zu gerne zu. In dieser Nacht ließ sie auch die Leidenschaft wieder zu, die etwas zu kurz gekommen war in der letzten Zeit.
Dann fassten sie den Entschluss, keine weiteren Pflegekinder mehr aufzunehmen. Sie hatten auch nur ein Leben, sie hatten eine Menge geleistet. Sie würden die Adoption von Mia und Basti vorantreiben, darauf hoffen, dass Selina den Weg in ein normales Leben fand.
Ein Jahr später waren sie vor dem Gesetz Eltern von zwei Kindern, die niemand sonst hatte haben wollen, und sie hatten ein Pflegekind, das in eine Regelschule gehen konnte, zusammen mit den Geschwistern.
Selina hatte stark abgenommen, ein hübsches Mädchen war zum Vorschein gekommen. Sie war eine begeisterte Schwimmerin geworden, ihre Pflegeeltern unterstützen sie sehr dabei. Nur manchmal noch dachte sie an die Mama.
Öfter eigentlich an den hübschen Papa und den Bruder, der aussah wie er.
Wo sie wohl hingegangen waren, damals?
Ob sie noch an sie dachten?
Ilona kannte die Geschichte des Mädchens, das so liebenswert geworden war, wusste auch, dass Kevin Berger nicht der leibliche Vater war.
Doch sie konnte es der Kleinen nicht antun, ihr die Wahrheit zu sagen: Dass ihr Erzeuger auch für lange Jahre im Knast saß, ein skrupelloses Arschloch war.
„Sie werden in eine andere Stadt gezogen sein!" versuchte sie, Selina beizubringen.
Die Pflegetochter nickte. „Ja! So wird es sein! Weit weg von mir und der Mama! Weil wir beide so böse waren zu ihnen!"
Abends sprach Ilona das Thema bei Walter an. „Meinst du, ich sollte Kontakt zu dem jungen Mann aufnehmen?"
Er dachte eine Weile nach. „Nein! Ich glaube, es ist besser, sie schließt mit der Vergangenheit ab wie Mia und Basti."
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