Kapitel 60
Sechs Jahre später I
Gregor
Gregor hatte eine Weile lang sein Leben als Singlemann genossen. Er hatte Alma nie betrogen, hätte zum einen keine Zeit dafür gehabt, zum anderen auch kaum eine Gelegenheit, weil sie ihn lückenlos überwacht hatte.
Er achtete während seiner ersten Jahre in Regensburg sehr darauf, sein Herz nicht noch einmal zu verlieren, liebte seine Freiheit, seine Tochter, Kevin, Philip – sein Leben.
Die Scheidung war nach einem ziemlichen Rosenkrieg ausgesprochen worden, alle Kämpfe waren in der Presse breitgetreten worden, wofür Alma gesorgt hatte. Aber er hatte die Schmierereien einfach ignoriert – es war ihm nicht wichtig genug gewesen, was andere über ihn dachten.
Zusammen mit einigen pädagogischen Experten hatte er die Idee Kathis verwirklicht und Lernzellen begründet und finanziert.
Philip besuchte die allererste sehr erfolgreich zusammen mit Aaron und Sarah und drei weiteren Kindern – zwei mit einer leichten Lernbehinderung und eines mit gravierenden Entwicklungsstörungen.
Das Konzept wurde in der Stadt gut angenommen, viele positive Presseberichte ebneten den Weg für weitere Einrichtungen.
Eine der Lehrerinnen, eine wunderschöne Frau, die auf jedem Laufsteg für Furore gesorgt hätte, riss den Wall um sein Herz im Sturm ein, ohne dass sie das beabsichtigt hatte. Sie war mit einem Jugendfreund verlobt, stand kurz vor der Hochzeit. Doch das sanfte Werben des Mannes, der ihr Vater hätte sein können, brachte sie sehr durcheinander.
Anita kämpfte unendlich hart mit sich und ihren Gefühlen zu dem um so viel älteren Mann. Nach einem ziemlich schweren Jahr – mit vielen Tränen, Trennungen, Versöhnungen mit ihrem Verlobten, schaltete sie ihren Kopf ab und ließ ihr Herz sprechen.
Ein halbes Jahr nach der Hochzeit im kleinen Kreis wurde sie schwanger, was Gregor zum glücklichsten Mann der Welt machte. Er war sich klar darüber, dass die Menschen sich den Mund über sie beide, vor allem ihn, zerrissen, doch es war ihm egal. Seine Familie akzeptierte seine Frau voll und ganz, Kathi wurde Anitas beste Freundin.
Philip sorgte wie so oft für Lachanfälle, als er nach der Geburt von Raffael grübelte, ob der kleine Junge sein Bruder, sein Cousin, sein Neffe oder sein Onkel war.
„Eigentlich ist es ja wurscht!" stellte er schließlich fest. „Er wird mein Freund, und ich werde immer auf ihn aufpassen!"
Und so war es dann auch. Der mittlerweile große Junge, der nicht behindert, sondern nur ein wenig autistisch war, liebte den kleinen Raffi von ganzem Herzen und verbrachte viel Zeit mit ihm.
Albert und Angelika
Albert war glücklich. Sein Engelchen hatte seinen Heiratsantrag angenommen, nachdem die Scheidung von Herrmann durch war. Ihr Ex saß noch ein paar Jahre ein, weil ihm die Richter nicht geglaubt hatten, dass er von den Machenschaften seiner ältesten Söhne nichts gewusst hatte. Dustin, Dennis und Justin hatten lange Haftstrafen kassiert, nachdem Josie und weitere Mädchen des Viertels ausgesagt hatten.
Ronny und Marvin waren freigekommen, ihnen konnten keine weiteren Vergehen nachgewiesen werden. Ronny fand den Anschluss nicht mehr, stürzte ab, starb ein Jahr nach der Entlassung an einer Überdosis.
Marvin, der Jüngste, bekam die Kurve. Er arbeitete bei Josef, hatte Kevins Job bekommen. Angelika kümmerte sich zusammen mit Albert sehr um den Jungen. Sie besorgten ihm eine Wohnung außerhalb des Viertels, unterstützen ihn auch finanziell.
Albert diskutierte immer wieder mit Angelika, weil er Kevin endlich die Wahrheit sagen wollte. Doch sie konnte ihn jedes Mal davon abhalten.
„Er ist zu intelligent! Er würde sofort verstehen, dass du ihn und mich damals nicht wolltest!" gab sie zu bedenken. „Und das würde er dir nie verzeihen!"
Er sah das ein, wenn es auch immer mehr schmerzte, je älter er wurde. Doch das war wohl die Strafe für seine Dummheit vor Jahren, für seine Kälte, für seine unglaubliche Härte seinem Engelchen gegenüber.
Die Hochzeit war ein riesengroßer Spaß. Kevin und Kathi streuten Blumen und Reis, nachdem sie ihren Job als Trauzeugen erfüllt hatten.
Angelika strahlte. Albert war ihr Mann geworden.
Dreißig Jahre zu spät, aber noch immer früh genug.
Philip, ihr gemeinsames Enkelkind, was aber niemand wissen durfte, sang auf dem Rathausplatz das Ave Maria und danach ein Liebeslied.
Kein Auge blieb trocken, es wurde viel geschnieft.
Kevin hielt eine kleine Rede beim anschließenden Essen im Ratskeller.
„Es gab einmal eine Zeit, während der ich mit meiner Abstammung sehr haderte. Der Mann, den ich Vater nannte, war ein schrecklicher Mensch, unter dem ich sehr gelitten habe. Die Liebe meiner Mutter, die ich eine Weile vergessen hatte, hat mich wohl gerettet. Dann, nach einer Nacht, die mein Leben verändert hat, erfuhr ich zusätzlich zu meinem großen Glück, dass ein anderer Mann mein Erzeuger war.
Angelika wollte mir nicht sagen, wer es ist, und ich wollte es schließlich auch gar nicht wissen. Denn er muss ein Volltrottel gewesen sein, dass er die wunderschöne Frau und mich offensichtlich nicht wollte. Dann traf ich Albert, einen väterlichen Freund. Somit habe ich drei Väter: Einen gesetzlichen, einen biologischen und einen, den ich mit 25 gefunden habe. Doch der einzige, der mich interessiert, ist die Nummer drei: Mein Stiefvater, meine Nummer eins. Danke, Mama, für alles, was du für mich getan hast.
Danke, Albert, für das Gleiche! Werdet so glücklich, wie ihr es beide verdient habt! Möge Gott euch noch viele Jahre mit eurer Familie schenken, zu der wir alle hier geworden sind."
Albert wischte seine Augen trocken. So geheult hatte er noch nie wie heute, als sein Sohn, den er nun öffentlich wenigstens als Stiefsohn bezeichnen durfte, ihn zum Vater Nummer eins erwählt hatte.
Angelika drückte seine Hand, wusste, dass Kevin, ihr Augenstern, genau die richtigen Worte gefunden hatte.
Nach diesem Tag sprach Albert nie wieder davon, dass er Kevin die Wahrheit sagen wollte. Er war der Vater Nummer eins seines Sohnes, mehr konnte er sich nicht wünschen.
Für Philip war auch Albert der Opa Nummer eins. Er trug ein Gedicht vor, in dem er mit sehr berührenden Worten davon berichtete, wie wohl er sich von Anfang an mit Albert gefühlt hatte, wie gut er ihm und dem Papa getan hatte.
Die Erwachsenen hielten den Atem an, als der Junge seine innersten Gedanken preisgab. Die Gedanken eines gemarterten Kindes, das in dem kleinen Hotel endlich zur Ruhe kommen konnte, weil ein fremder Mann seinem Papa und ihm ein Zimmer gegeben hatte.
„Und das werden wir zahlen als Lohn
Bis an dein Lebensende.
Ein Lächeln und ein Danke - pro Person." schloss er.
Es war eine Weile lang still im Saal, es wurde eine Weile lang geschnieft. Philip, der Liebling aller, war ein unglaublicher Wortkünstler geworden, seit die Worte in seinem Kopf nicht mehr durcheinander waren.
Albert stand auf und drückte seinen Enkelsohn an sich, sprechen konnte er nicht. Er schämte sich seiner Tränen so wenig wie Kevin, vor dessen Augen die Zeit damals so lebendig geworden war durch die Worte seines Sohnes.
Kathi drückte die Hand ihres innig geliebten Freundes. „Den hast du gut hingekriegt!" flüsterte sie.
Er strahlte sie an. „Wir haben ihn gut hingekriegt!" verbesserte er sie.
„Erst du, dann wir!" widersprach sie, und das konnte er so stehen lassen. Ja! Trotz aller Anfeindungen hatte die Liebe eines 20jährigen zu diesem Kind alles gut werden lassen. Und die Verbitterung über sein Schicksal hatte sich nie ganz in ihm festsetzen können, weil da dieser liebenswerte Junge in seinem Leben war.
Und die Belohnung hatte er in dieser einen Nacht bekommen, als ein Gewitter ihn in die kleine Bar gespült hatte, wo er die Liebe seines Lebens fand.
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