Kapitel 59

Zu Hause II

Als Philip schlief, stellte Josie eine Frage, die Kevin und Kathi ein wenig ratlos machte.
Dieses Thema hatten sie bisher etwas vor sich hergeschoben.
„Wann kommt der Süße eigentlich in die Schule?"

Als Josie merkte, dass die beiden verunsichert waren, bereute sie sofort, gefragt zu haben. Es ging sie ja wirklich nichts an!
Schließlich übernahm Kathi die Antwort. „Also, er ist ja auf mein Anraten hin ein Jahr zurückgestellt worden. Und eigentlich müsste er in der vierten eingeschult werden, aber das geht natürlich nicht bei einem Sechsjährigen. Zu den Privatschulen haben wir jetzt auch nicht das restlose Vertrauen, zu viele Prinzen und Prinzessinnen, die dort verhätschelt werden, und sicher auch zu viele Schüler für Philip."

Dann berichtete sie von etwas, das ihr im Kopf herumgegeistert war, seit sie eine Abhandlung im Internet gelesen hatte. Sie hatte nur noch keine Zeit gefunden, mit Kevin darüber zu sprechen.

„Es gibt natürlich die Möglichkeit der Beschulung zu Hause, aber ich denke, Philip sollte schon auch Kontakt zu Gleichaltrigen haben." fuhr sie fort.

Kevin hing gebannt an ihren Lippen, überglücklich darüber, dass sie sich so viel Gedanken über seinen Sohn gemacht hatte.

„Ich habe von einer Art Lernzelle gelesen, die in Bayern genehmigt werden kann. Da werden bis zu sechs Kindern mit oder ohne Handicap, das entscheiden die Familien selbst, in einer Wohnung oder einem Privathaus beschult, die Lehrkraft wird vom Staat angestellt und auch bezahlt. Die Schulbehörde unterstützt und ist auch verantwortlich, etwaige Prüfungen werden extern abgehalten, damit sie Gültigkeit haben."

Sie atmete tief durch, sah Kevin etwas verunsichert an, hoffte ihn nicht überfahren zu haben.
Doch sein strahlendes Lächeln zeigte ihr, dass er nicht sauer war.
Im Gegenteil!

Sein Blick war stolz und bewundernd.
„Wann hast du davon gelesen?" fragte er leise.

Max und Josie verzogen sich auf den Balkon. Dass die beiden das alles vor ihnen besprachen, zeugte von großem Vertrauen und echter Freundschaft. Das machte sie glücklich und zufrieden.
Aber jetzt hatten sie das Gefühl, die zwei besser alleine lassen zu müssen.

Kathi wand sich ein wenig. „Ich hatte viel Zeit, als ein bestimmter Typ mit einem süßen kleinen Jungen unerreichbar war für mich!" erklärte sie schließlich.

Nun war Kevin überrascht. „Du hast versucht, mich zu erreichen?"
Seine blauen Augen hielten ihre dunklen fest.

„Ja! Klar! Ich habe zwar alle Nachrichten von dir gelöscht, ohne sie anzuhören oder zu lesen, aber ich bin schon auch ehrlich zu mir gewesen. Und als ich beschlossen hatte, den nächsten Anruf von dir anzunehmen, weil ich die Leere nicht mehr ausgehalten habe, hast du aufgegeben!"

Er lachte leise. „Verdammt schlechtes Timing! Von beiden!" Er nahm sie in seine Arme und küsste sie zärtlich. „Und trotzdem hast du dir Gedanken wegen Philip gemacht?"
Sie konnte nur nicken. Natürlich hatte sie den Kleinen vermisst, hatte noch immer seinen verzweifelten Schrei in ihren Ohren.

Er küsste sie noch einmal. „Ich hab dich sehr lieb, Kathi!" stieß er dann hervor, schluckte den Kloß hinunter, der in seinem Hals steckte. „Und Philip hat dich auch sehr lieb! Uns drei wird nichts mehr trennen, nicht wahr?" Und dann ließ er seine Tränen einfach laufen, kämpfte nicht mehr dagegen an.

Sie verloren zu haben, hatte ihm sein Herz aus dem Leib gerissen gehabt, mehr als alles Schlimme, das er zuvor erlebt hatte.
Sie wieder zurückbekommen zu haben, machte ihn unverletzlich für immer.

Da bemerkten sie, dass die Gäste sich zurückgezogen hatten, etwas, das sie nicht wunderte. Es waren feine, wertvolle Menschen, wirklich gute Freunde.
„Ihr könnt wieder reinkommen!" rief Kevin dankbar.

Dann besprachen sie zu viert Kathis Vorschlag.
„Das klingt schon total perfekt für Philip!" erklärte Josie.
„Ja! Denke ich auch! Und wir könnten die Räume zur Verfügung stellen. Im Haus meines Vaters gibt es doch diese helle Einliegerwohnung. Die wäre perfekt. Er müsste nur eine zweite Toilette einbauen lassen!"

Ihre Worte zeigten Kevin, dass auch sie nicht an ein Ende ihrer Beziehung gedacht hatte. Und das war eigentlich das Wichtigste daran. Sie hatte die Zukunft geplant, eine Zukunft mit ihm und seinem Sohn.

Sie planten, alberten, lachten, wurden wieder ernst, tranken noch eine Flasche Wein, Kevin machte eine Runde Toast. Irgendwann merkten sie, dass es schon drei Uhr morgens war, und dass Max zu beschwipst war, um Auto zu fahren.

„Wir rufen uns ein Taxi!" erklärte er.
„Ihr könnt aber auch auf dem Sofa schlafen. Das kann man ausziehen!" schlug Kevin vor. Und dieses Mal war Kathi mehr als glücklich über seine Worte. Er war angekommen, hier in ihrer gemeinsamen Wohnung, fühlte sich zu Hause.

Am Anfang hatte er ein wenig oft für ihren Geschmack gefragt, ob ihr dieses oder jenes recht wäre, aber das hatte sich immer mehr gelegt.
Es gab auch keine Diskussionen mehr über Geld, darüber, wer was bezahlte. Er hatte durch Alberts Unterstützung und das Stipendium ein ziemliches Polster und kaum Ausgaben, da der Freund noch immer Klamotten für ihn und Philip anschleppte.

Immer wieder steckten auch größere Geldscheine in den Taschen der neuen Jeans oder Jacken.
Meistens kaufte Kevin die Lebensmittel ein, sie sprachen nicht darüber. Viel brauchten sie auch hier nicht, weil sie in der Kantine aß, er in der Mensa. Außerdem brachte Angelika oft Essen vorbei.

Kevin hatte genug Geld, um seine Süße einzuladen, wenn sie ausgingen, auch für das eine oder andere kleine Geschenk.

Josie fiel das Problem Finanzen nicht so leicht mit Max. Immer wieder fing sie damit an, dass sie einen Job suchen wollte, um sich an den Kosten beteiligen zu können.

Bei den Diskussionen dachte Max hin und wieder an Jenny, seine Jugendliebe, die so weit von seinem Herzen entfernt war, wie es nur ging.

Die sich ohne mit der Wimper zu zucken von ihm hatte aushalten lassen, die seine Geschenke mit einem kühlen Lächeln angenommen hatte, so dass er jedes Mal das Gefühl gehabt hatte, dass er nicht genug Geld für sie ausgegeben hatte.

Deshalb war das nächste Schmuckstück noch teurer gewesen.
Deshalb waren die Urlaube, zu denen er sie eingeladen hatte, immer luxuriöser geworden.

Dabei hätte er lieber eine Radtour oder eine mehrtägige Wanderung gemacht. Doch die Hormone eines Teenagers hatten ihn gemartert, er hatte den Sex, den sie ihm gnädig gewährt hatte, mit Liebe verwechselt.

Erst durch Josie, die sich ihm nach einiger Zeit vollkommen hingeben konnte, hatte er begriffen, was bei Jenny gefehlt hatte.

Auch an diesem Abend sprach er das Problem Finanzen wieder einmal an. „Jetzt will sie kellnern! In der Altstadt, in einem Lokal, das bis drei Uhr geöffnet hat! Die Frau bringt mich noch ins Grab!" stöhnte er, hoffte auf Unterstützung der Freunde.

Kevin grinste vor sich hin. Er konnte Josie wohl am besten verstehen. Aber er verstand auch Max' Bedenken.
Ohne Albert wäre er selbst auch in einer vertrackten Situation. Ob er es schaffen würde, ganz von Kathis Geld zu leben? Aber er war ja auch ein Mann!

Chauvi! hörte er eine Stimme in seinem Kopf. Plötzlich tauchte eine Frage in seinem Kopf auf. „Warum bekommst du eigentlich kein Stipendium?"
Josie zuckte nur mit den Schultern. „War zu viel Papierkram! Ich bin da nicht durchgestiegen!" maulte sie.

Kathi sah sie streng an. „Klar! Mit deinem bekifften Hirn bist du freilich nicht durchgestiegen!"
Max fuhr hoch. Doch dann erinnerte er sich, dass Kathis Schocktherapie damals sehr gut gewirkt hatte, und riss sich zusammen.

Josie fiel natürlich wieder in ihre Verteidigungsstrategie, nach der Angriff das Beste war.
„Ah! Madame Dr. Dr.! Die mit dem goldenen Löffel geboren wurde! Redet sich wie immer leicht!"
Nun zog Kevin die Luft scharf ein.
Doch Kathi griff beruhigend nach seiner Hand.

„Dass ich Dr. Dr. bin, hat nichts mit dem Geld meiner Eltern zu tun, das weißt du genau! Das hat damit zu tun, dass ich fleißig und intelligent war und bin! Genau wie du übrigens. Seltsamer Weise, bei all dem Zeug, das du eingeworfen hast! Morgen beantragst du das Stipendium, Max wird dir dabei helfen. Du kannst nicht jobben neben einem Medizinstudium, denn du brauchst auch Zeit für Max und eure Liebe!"

Josie schnappte erst nach Luft, begann dann zu lächeln, prustete dann vor Lachen los. Sie schlug Kevin auf den Arm. „Die gönne ich dir echt!" japste sie.

Der legte seinen Arm um sein unvergleichliches Mädchen. „Ich mir auch! Und wenn ihr endlich schlafen gehen würdet, könnte ich mir endlich etwas von ihr gönnen!" erklärte er grinsend.
Lachend löste sich die Runde auf. Kathi und Kevin brachten den Gästen Nachtwäsche und Bettzeug, durften dafür als erste ins Bad.
Während sie sich die Zähne putzten, himmelten sie sich im Spiegel an.

Nachtwäsche brauchten sie nicht, denn sie waren ja zu Hause, in ihrem gemeinsamen Bett zu Hause.

Josie grinste Max an, als sie es sich auf dem Sofa bequem gemacht hatten.
„Vielleicht sollte ich auch Psychologie studieren, damit ich ihr gewachsen bin!" stellte sie in den Raum.

Er zog sie in seine Arme, dieses verrückte, kaputte, liebenswerte Mädchen. „Ich glaube nicht, dass ihr irgendjemand je gewachsen sein wird!" erklärte er, bevor er seine sehnsüchtigen Hände und Lippen nicht mehr kontrollieren konnte.

„Das könnte sein!" stöhnte sie, weil er sie schon wieder so verrückt machte. Ein Gefühl, das sie nicht gekannt hatte und deshalb umso mehr genoss, seit sie den Mut gefasst hatte, es zuzulassen.

Kevin widmete sich im Nebenzimmer genauso liebevoll und ekstatisch der Frau in seinem Leben. Sie war der Hammer! Sie war Universum und Anker für ihn. Er hatte sie eine Nacht lieben dürfen, war geflüchtet vor seinen Gefühlen, musste in sein altes, kaputtes Leben zurück, hatte sie durch ein verrücktes Schicksal zurückbekommen, hatte sie durch einen verdammt dummen Fehler wieder verloren, hatte sie noch einmal zurückbekommen.
Ein weiteres Mal würde es nicht geben, würde es auch nicht brauchen.

Philip sprang am nächsten Morgen glücklich aus dem Bett, raste los um Kathi und Papa im Bett zu überfallen – wie so oft, seit sie ganz hier wohnten. Im Wohnzimmer haute er die Bremse rein, als er Max und Josie auf dem Sofa entdeckte.

Prima! Noch immer Besuch!
Plötzlich erinnerte er sich an früher. Da war auch oft Besuch dagewesen! Die lauten, schrecklichen Onkel, Opa Herrmann. Da hatte die ganze Wohnung nach Rauch gestunken, nach Rauch, Bier und Schweiß. Ihm war immer ganz schlecht geworden.

Oft hatte er sich zu Papa ins Bett kuscheln wollen, aber die Mama hatte ihn immer angeschrien, dass sie noch schlafen wollte.

Der Papa war dann immer ganz schnell aufgestanden, hatte ihn auf den Arm genommen, hatte gelüftet und für ihn Frühstück gemacht. Das war die schönste Zeit des Tages für ihn gewesen.
Er und Papa alleine!

Bevor die Mama und Selina dazugekommen waren, die den Papa immer wegen irgendetwas geschimpft haben.

Aber dann war der Papa mit ihm weggegangen, von da an war jeder Tag schön gewesen.
Und dann war Kathi gekommen!
Von da an waren er und der Papa glücklich gewesen.

Josie und Max waren auch nett! Sie küssten sich fast so viel wie der Papa und Kathi. Er würde die beiden jetzt aufwecken.

Den Papa und die Mama konnte er ja jeden Tag erschrecken. Kurz stutzte er über seine Gedanken.
Die Mama! Seine Mama war schon lange weg, sie konnte ihm nichts mehr tun. So wenig wie Selina!
Er dachte nur noch ganz selten an die beiden, hatte nur noch ganz wenig Angst.
Aber Kathi war seine zweite Mama, und die war so, wie Mamas sein sollten.

Ob sie seine richtige Mama werden wollte?
Er musste sie mal fragen.
Kathi konnte er immer fragen.
Alles!

Dann sprang er auf das Sofa, lachte sich kringelig, als Max und Josie hochschreckten.

Kevin hörte die drei im Wohnzimmer lachen und albern. Hatte sich der Junior heute andere Opfer für seinen Frontalangriff gesucht.
Wunderbar!

Dann konnte er ja die Gunst der Stunde nutzen!
Konnte seine Süße ein wenig zärtlicher wecken, als sein Sohn es normaler Weise tat.
Sie reckte sich ihm wohlig entgegen, als er seine Finger auf eine zärtliche Reise schickte.

„Philip?" murmelte sie verschlafen.
„Hat heute Max und Josie auserwählt!" flüsterte er.
„Gut!" brummelte sie und genoss, was er ihr Hübscher ihr zu bieten hatte.

Doch das allerschönste, das sie in der Zeit des Wiederfindens erleben durften, war die Genesung Lauras, des kleinen italienischen Mädchens. Gregor hatte die Eltern in seinem Haus aufgenommen, brachte sie täglich zur Klinik.

 Das Kind sprach sehr gut auf die Medikamente an, Pietro und Sophia waren überglücklich.
Philip hatte beschlossen, ein wenig nachzuhelfen, schleppte die beiden in alle Kirchen der Stadt, suchte gemeinsam mit ihnen nach den Heiligenaltären, mit deren Namen er etwas anfangen konnte, investierte sein gesamtes Taschengeld in Kerzen.

Sicherheitshalber schmeichelte er sich auch bei denen ein, zu deren Namen er keinen direkten Bezug hatte.
Schaden konnte es ja nicht.

In der Schottenkirche waren wieder die schönen Orgelklänge zu hören. Der Junge stieg nach oben, lächelte den Kirchenmusiker charmant an. Der erkannte ihn gleich wieder, erinnerte sich an den klugen Kerl und seinen offensichtlich von Liebeskummer geplagten Vater, der Brahms so gespielt hatte, wie er es noch nie gehört hatte.

„Kathi ist wieder bei uns!" flüsterte Philip, um die andächtige Stimmung nicht zu stören. „Die Heiligen haben geholfen! Aber jetzt müssen sie noch Laura helfen! Sie ist sehr krank!"
Der fremde Mann strich diesem seltsamen liebenswerten Jungen über den Kopf. „Das werden sie! Ich helfe dir, dafür zu beten!"

Bald schon konnten die italienischen Eltern ihren kleinen Sonnenschein mit nach Hause nehmen. Gregor spendierte einen Heli-Flug, übernahm auch die Rechnung, die Kathi hatte bezahlen wollen.
Was hätte er denn Besseres mit seiner Kohle anfangen können?


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