Kapitel 58

Zu Hause

Als sie in Regensburg angekommen waren, zog Kevin mit Philip ganz zu Kathi. So sehr sie auch die Treffen bei ihr oder ihm genossen hatten – es war ihnen immer vorgekommen, als hätten sie ein Date -, nun wollten sie die neugewonnene Nähe zueinander nicht mehr aufgeben, wollten auch nach außen ein festes Paar, eine Familie sein.

Albert und Angelika kamen, um bei Philip zu sein, wenn sie zur Arbeit oder an die Uni mussten.
Auch Gregor unternahm viel mit dem so liebenswerten Jungen. Er hatte seine eigenen Pläne erst einmal auf Eis gelegt, wollte so viel Zeit wie möglich mit der Familie verbringen, die er geschenkt bekommen hatte.

Er hatte aufgrund seiner Arbeit nie Zeit gehabt, wirklich Freundschaften zu pflegen, verstand sich außerordentlich gut mit Albert und Angelika, die ein Paar geworden zu sein schienen, auch wenn sie es noch zu verbergen suchten.

Kathi und Kevin waren dankbar, dass sie so zuverlässige Menschen um sich hatten. Dadurch wurde es ihnen leicht gemacht, Zeit für sich als Paar zu finden, was sie auch sehr gerne taten.
Kevin war wieder sehr erfinderisch geworden, wenn es darum ging, seine Süße zu überraschen. Er entführte sie auf den Hochsitz, plante Picknicks, Ausflüge.

Er lernte immer besser zu kochen, versuchte sich auch am Backen.
Wenn sie weit genug entfernt war, klappte meistens auch alles.
Er spielte viel auf der Elektroorgel, wurde bald wieder so fit wie früher.

Er genoss jeden Tag seines Lebens. So hatte er es haben wollen! Kein „Studentenleben", wie sein Mädchen versucht hatte, ihm einzureden.

Er ging schon hin und wieder auf eine Fete, um nicht ganz zum Außenseiter abgestempelt zu werden, doch nach spätestens einer Stunde, wenn Alkohol oder Dope bei vielen zu wirken begannen, seilte er sich ab, meistens zusammen mit Max und Josie.

Sie saßen dann lieber zu viert in Kathis Wohnung zusammen, lernten, ließen sich von der jungen Ärztin abfragen, quatschten viel, lachten sehr viel, tranken auch mal ein Glas Wein, spielten Karten oder würfelten.

Josie hing an Kathi wie ein kleines Hündchen, bewunderte die Ältere, der sie so übel mitgespielt hatte, grenzenlos.
Kathi sah sich das eine Weile an, dann wurde es ihr ein wenig zu viel. Sie nahm das Mädchen an einem Nachmittag zur Seite.
„Josie! Du musst mir jetzt nicht bis zu deinem oder meinem Lebensende die Füße küssen!" erklärte sie lächelnd.

Die andere grinste sie an. Sie hatte schon verstanden. „Okay!" sagte sie, wieder ganz ernst. „Aber du hast mein Leben gerettet! Das heißt, dass du nun immer für mich verantwortlich bist!"

Kathi stöhnte gespielt entnervt auf. „Gott bewahre! So eine Göre möchte ich wirklich nicht am Hals haben!"
Josie knuffte sie leicht. „Ich kann dich auch gut leiden!" meinte sie und ging lachend zu Max, der sie in seine Arme nahm.

Kevin hatte die Szene gerührt beobachtet, küsste sein taffes Mädchen liebevoll.
Philip kam angesprungen, er liebte es, wenn Besuch da war – netter Besuch!

Josie verwuschelte die Haare des unglaublich hübschen Kerls.
Sie erinnerte sich noch gut an das Gerede, das im Viertel über Kevin und seinen behinderten Sohn die Runde gemacht hatte.

„Wann steckt er denn den Brüllaffen endlich mal ins Heim?"
„Wie kann er uns diesen Kretin denn dauernd zumuten?"
„Hitler hätte so etwas vergast!"

Heute schämte sie sich, dass sie nie widersprochen hatte, dass sie immer nur den Kopf eingezogen hatte!

Aber sie war ein Teenager gewesen, was hätte sie ausrichten können?
Sie war mit ihrem eigenen Schicksal mehr als bedient gewesen!
Sie hatte mit stinkenden, groben Drecksäcken geschlafen, um an die Tabletten zu kommen, um trotz ihres kranken Umfeldes die Schule zu schaffen.

Der Sex war nicht das Schlimmste gewesen, es erging den anderen Frauen nicht viel anders.
Sie alle hatten bereit zu sein, um die Bedürfnisse der Männer zu befriedigen.

Da gab es so etwas wie Zärtlichkeit oder Nähe nicht!
Da wurde nicht Liebe gemacht, da wurde die Alte gefickt, gebumst, gevögelt – je härter, desto besser.

Doch auch hier war Kevin wohl anders gewesen. Sie hatte mal ein Gespräch auf dem Spielplatz - dem Drogenumschlagsplatz Nummer eins - zwischen Mary und einem der anderen Weiber angehört.

„Der Kevin ist eigentlich ein Mädchen!" Die beiden lachten sich halbtot. „Der wollte immer streicheln und kuscheln!" Ein neuer Lachanfall schüttelte die zwei. „Da hab ich ihn nicht mehr rangelassen! Das war mir zu blöd!" Sie klatschten sich auf die feisten Schenkel.

„Und wer besorgt es dir jetzt?" fragte die andere kreischend.
„Na, der Dustin! Das ist ein ganzer Kerl! Nicht so ein Weichei!" brüllte Mary lachend. „Und die Selina, die ist ja von ihm, die wird richtig!"

Josie war nach Hause gelaufen, hatte gekotzt vor Ekel. Dieses Weib! Hatte den besten von allen abbekommen und redete so!

Ihr Bruder stand in der Badtüre, die nicht mehr abzuschließen war, als sie die letzte Galle hochgewürgt hatte.
„Bist du schwanger?" fragte er und grinste sie bedrohlich an. „Das wäre saugut! Dann kann du mich ja ohne Gummi ranlassen!" Er kam ihr gefährlich nahe, hielt ihre Hände fest.

Doch zum Glück war er zu zugedröhnt, als dass er einen hochgebracht hatte. Sie trat ihm in die Eier, raste aus der stinkenden Wohnung. Eine Woche hauste sie in dem Kellerabteil, das Dustins Lager war. Auf der Matratze hatte sie oft und oft ihre Schulden abarbeiten müssen.

Dann beschwerten sich die Mitschüler, dass sie noch mehr als sonst stank, und sie ging wieder in die Wohnung, die eigentlich ihr Zuhause hätte sein sollen.
Schließlich hatte sie tatsächlich das Abi geschafft. Sie hatte wie Kevin das unglaubliche Glück, Herrn Müller in der Grundschule als Klassenlehrer gehabt zu haben, der den Gymnasiumbesuch bei ihren Eltern durchgedrückt hatte.

„Ich kann auch dem Jugendamt einen Tipp geben!" Diese Drohung hatten sogar ihre Eltern verstanden.
Nun studierte sie Medizin, sie hatte sich unglaubliche Bosheiten erlaubt, weil sie endlich Kevin für sich haben wollte.

Dann kam Max. Sie hatte sich lange gegen Sex mit ihm gesperrt, hatte null Bock auf dieses Gerammele gehabt, das sie gekannt hatte.
Doch seine Liebe und Fürsorge, seine Geduld hatten sie hoffen lassen, dass da mehr sein könnte.

Dass es so etwas, wie sie in Filmen immer wieder gesehen hatte, wovon sie in Büchern immer wieder gelesen hatte, geben konnte.
Dass es die Liebe geben konnte!

Kevin hatte sie ja auch gefunden!
Als sie zum ersten Mal mit Max geschlafen hatte, weil sie es gewollt hatte, nicht um irgendeinem Kerl zu Diensten zu sein, war sie neu geboren worden.
War Josefine in ihr erwacht.

Sie hatte nicht gemerkt, dass Kevin sich neben sie an das Balkongeländer gestellt hatte.
„Woran denkst du?" fragte er.

Sie antwortete nicht sofort. Ihre Gedanken mussten erst ins Hier und Jetzt zurückfinden.
„An früher und heute!" stieß sie schließlich hervor.

Kevin zog die Luft hörbar ein. Er legte brüderlich einen Arm um sie, die einst seine größte Feindin gewesen war. „War eine scheiß Zeit, oder?" sagte er leise. „Aber zwei Musketiere haben es geschafft, nicht wahr?"

Sie erwiderte sein Lächeln, das ihr so große Zuversicht geben konnte. „Ja! Aber nur, weil wir verdammt gute Mitstreiter gefunden haben!"

Max und Kathi beobachteten die beiden. Sie wussten, dass sie wieder auf einem Trip in die Vergangenheit waren. Und das war ein Weg, auf dem sie ihre Liebsten nicht stören durften.

Sie selbst waren in einem ganz anderen Milieu aufgewachsen, konnte die Narben nur erahnen, die das Schicksal auf den Seelen der beiden hinterlassen hatte.

Vor allem Max, der Zeit seines Lebens nur Liebe von seinen Eltern erfahren hatte, tat sich schwer, das Ausmaß der Verletzungen zu verstehen.

Er hatte unter dem Verrat Jennys zwei Jahre lang gelitten, doch seit er Josies Geschichte kannte, schämte er sich manches Mal. Wie unsagbar klein war doch sein Schmerz gegenüber ihrem!
Oder dem von Kevin!
Selbst Kathi, die strahlende Kinderärztin, hatte mehr durchgemacht als er.

Philip hatte sich ganz still gehalten. Er hatte ein unglaubliches Gespür für Stimmungen. Doch dann knurrte sein Magen laut, die Erwachsenen tauchten aus ihren Gefühlen auf und mussten lachen.
Der Kleine wurde ein wenig rot. „Tut mir leid! Aber wir haben heute noch nicht zu Abend gegessen!"

Kevin nahm seinen Sohn auf den Arm, wirbelte ihn durch die Luft. „Sorry, mein Schatz!" rief der glückliche Vater. „Dann bestell doch mal Pizza für alle!"
Philip juchzte auf. Das machte er zu gerne!

Er holte seinen Block und einen Stift, spielte den Ober perfekt.
„Was darf ich Ihnen bringen? Möchten Sie auch einen Salat? Pizza mit extra Anchovis? Aber sehr gerne!" Er notierte jeden Wunsch akribisch, dann wählte er die Nummer des Lieferdienstes, die er natürlich auswendig konnte.

Höchst professionell gab er die Bestellung durch, beantwortete Nachfragen, nannte die Adresse.
„Wahlenstraße 15, vierter Stock, bei von Arnfeld und Berger!" Er hörte kurz auf die Antwort. „Vielen Dank! Wir freuen uns auf Ihre vorzügliche Pizza!" sagte er noch und legte auf.

Die Erwachsenen hielten sich die Bäuche vor Lachen.
Der Kleine war der Hammer!
Stolz setzte sich Philip an den Esstisch.
„Du kannst schon mal den Tisch decken!" forderte er seinen Papa auf.
„Ist recht, Chef!" antwortete der, und der Vaterstolz überschwemmte seine Seele.

Klar! Behindert! dachte Josie wieder einmal und wünschte sich, die Schandmäuler aus dem Viertel würden den kleinen Charmebolzen heute sehen.

So ein Kerlchen hätte ich auch mal gerne! dachte Max und küsste Josie, die sich ihm zu seinem größten Glück so sehr geöffnet hatte.

Dieser Apfel ist bei Gott nicht weit vom Stamm gefallen! dachte Kathi und strahlte die Liebe ihres Lebens an.
Das haben wir alle einem Gewitter und dem Schicksal zu verdanken! dachte Kevin und zog die Süße an sich.
Ich bin glücklich! dachte Philip. Ich bin nicht behindert, nur ein wenig autistisch!



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