Kapitel 57

Und seit langer Zeit erinnerte Kevin sich an die Mitbewohner des heruntergekommenen Hauses, die nächtelang gefeiert hatten, im Treppenhaus herumgegrölt hatten, sich aber jedes Mal über den „Behinderten" aufgeregt hatten, wenn Philip einen Anfall gehabt hatte.

Das Gespräch über Josie heute hatte viele Erinnerungen wieder aufgewühlt.
Kathi merkte, wie er in Gedanken abdriftete.
„Was ist los?" fragte sie, als Philip wieder in sein Zimmer abgedampft war.
Kevin wehrte ab. „Nichts! Alles gut!"

Sie nahm seine Hände in ihre, zwang ihn sie anzusehen.
„Natürlich ist etwas los! Rede mit mir!" bat sie leise. „Wir müssen das in Zukunft tun! Miteinander reden! Auch du!"

Ihm war klar, dass sie Recht hatte.
„Es ist ziemlich viel heute wieder hochgekommen! Ich wollte das alles vergessen!" antwortete er.
„Du sollst das doch gar nicht vergessen, Kevin! Du sollst dich stolz daran erinnern, was du geschafft hast! Und Josie muss das auch! Ihr müsst eure Wurzeln nicht verleugnen! Eure Vergangenheit zeigt doch nur, wie unglaublich stark ihr seid!" erklärte sie, und er musste lächeln.

Seine schöne Psychologin!
Sie hatte auf alles eine Antwort, wusste immer, wie sie ihn aufbauen konnte!
„Dich hab ich ganz gut ausgesucht!" meinte er.
„Du hast mich ausgesucht?" konterte sie keck. „Ich war die einzige Singlefrau in der Bar!"

Da musste er herzhaft lachen. „Du meinst, deshalb habe ich dich angebaggert? Aus Mangel an Alternativen?"
Er küsste sie zärtlich. „Und nicht wegen diesen heißen Lippen?"
Er ließ ihre Mähne durch seine Hände rieseln. „Oder wegen dieser wunderbaren Haare?"
Er strich über ihre Augen. „Oder wegen dieser dunklen Augen?"

Seine Fingerkuppen liebkosten ihr ovales Gesicht. „Oder wegen dieser schönen Haut, diesem perfekten Gesicht?"
Er zog sie auf seinen Schoß. „Und von der Knaller-Figur fange ich erst gar nicht an!"
„Nein?" forderte sie ihn heraus.
„Nein, Süßeste der Süßen! Denn jeden Moment kann Philip wieder hereinstürmen!" Trotzdem konnte er seine Finger nicht daran hindern, etwas auf eine sehr gefährliche Reise zu gehen.

Vergessen war das Viertel, die Sippe, das Umfeld.
Es gab nur ihn und die wunderbare Frau, die er erobert hatte!
Weil er er war!
Weil er sie verdient hatte!

Dass es auch noch einen wunderbaren Sohn gab, wurde ihm schlagartig bewusst, als dieser wieder die Türe aufriss.

„Opa Albert will wissen, ob es uns gut geht!" Er hielt seinem Papa das Telefon hin. „Er glaubt mir nicht, dass Kathi gekommen ist! Er fragt, warum wir nicht nach Hause gekommen sind!"

Fuck! dachte Kevin. Das hatte er ganz vergessen gehabt, dass Albert und Angelika sie erwartet hatten! Schon vor ein paar Tagen!

Schnell erzählte er, dass Philip die Wahrheit gesagt hatte, dass alles gut war, dass sie am übernächsten Tag heimfliegen würden.
„Die Kleine passt zu dir!" erklärte Angelika trocken. „Die ist so verrückt wie du!" Dann legte sie auf.
„Wo sie Recht hat, hat sie Recht!" meinte Kevin nur.

„Gibt es heute eigentlich mal was zu essen?" fragte Philip, dessen Magen schon seit einer Weile knurrte.
So zogen drei glückliche Menschen los, aßen sich quer durch die kleinen Tapasbars. Die Meeresluft, die Liebe, das Schwimmen hatte sie ordentlich hungrig gemacht.

Als sie sich gerade auf dem Marktplatz niedergelassen hatten, meldete sich Kathis Handy.
Sie sah aufs Display und verdrehte die Augen. „Jakob!" sagte sie nur und meldete sich.
„Hallo, Kathi! Geht es dir besser?" fragte der Kollege.

„Ja, danke! Ein bisschen wacklig bin ich noch auf den Beinen, aber übermorgen kommen wir nach Hause!"
„Wir? Dann ist mit Kevin und dir wieder alles in Ordnung?"
„Ja! Alles bestens!"

In diesem Augenblick begann die Folklore-Gruppe, die heute die ankommenden Pilger begrüßte, zu spielen.
„Ganz schön laut bei deinem Krankenbett!" zog Jakob sie auf.
„Ja! Das ist halt Spanien! Man gewöhnt sich aber daran!" antwortete sie geistesgegenwärtig.

Jakob lachte. „Du kannst ganz schön durchtrieben lügen, Frau Dr. Dr.!"
Dann wurde er plötzlich ernst. „Ich wollte dir eigentlich auch nur sagen, dass ich mich endgültig von Karin getrennt habe. Irgendwie habe ich heute deinen Trost gebraucht!"

Kathi zog sich der Magen zusammen. Wieder ein Paar, das es nicht geschafft hatte! „Das tut mir leid, Jakob!"

„Nein, ist schon okay! Ich habe endlich den Tatsachen ins Auge gesehen, dass sie mich nie geliebt hat. Ich war immer nur ihre zweite Wahl, sie war immer auf der Suche nach einem Besseren!" stieß er hervor.

„Da wird sie aber noch lange suchen müssen!" erklärte Kathi und meinte, was sie gesagt hatte. Jakob war nicht der bestaussehende Mann auf Erden, aber er war eine Seele von einem Menschen!

Die Zicke würde noch bereuen, nicht zufrieden mit ihm gewesen zu sein. „Und wie ist das jetzt plötzlich so eskaliert, dass ihr euch gleich getrennt habt?"

Jakob antwortete nicht sofort. Doch dann sprudelten die Worte aus ihm heraus. „Sie war sauer, weil ich meinen Dienst mit dir getauscht habe, damit du nach Spanien fliegen kannst. Was heißt sauer! Sie hat total überreagiert! Hat dich beschimpft, dass du Kevin gar nicht verdient hast und lauter so Zeug. Ich würde ihn nicht so behandeln! hat sie gerufen, und da wusste ich Bescheid. Sie hat dann auch zugegeben, dass sie sich total in deinen Freund verknallt hatte, dass sie sich Hoffnungen auf ihn gemacht hatte. Ich war ziemlich fassungslos, wir waren doch dabei, eine Familie zu gründen! Da hat sie mir an den Kopf geworfen, dass sie die Pille nimmt, weil sie kein Kind von mir will! Das war's dann!"

Kathi wunderte sich, wie relativ unbeteiligt Jakob vom Scheitern seiner Ehe berichtete. Er schien den Tatsachen wirklich in die Augen zu sehen, hatte sich wohl mit der Situation abgefunden.
„Und wie viele durchsoffene Nächte hat es gebraucht, dass du die Dinge so gelassen siehst?" fragte sie nach.

„Drei!" antwortete er lachend. „Dann war ich drüber weg! Ich fang eben noch mal von vorne an! Single-Mann zu sein hat sicher auch Vorteile!"
„Wir können ja mal alle in eine Bar gehen und eine Frau für dich suchen!" schlug Kathi vor.
„Das machen wir! Also bis bald, Frau Kollegin! Ich hoffe, dich erwischt nicht auch noch die spanische Grippe!" Dann legte er auf.

Kevin sah sie fragend an. Doch Philip spitze seine Ohren. „Erzähl ich dir später. Karin und er haben sich getrennt!" Mehr wollte sie vor dem Kleinen nicht preisgeben.
Doch Philip genügte schon dieser Satz. „Die Karin ist blöd! Die hat den Papa immer so angeglupscht!"

Er machte die Blicke der Frau perfekt nach. „Der Papa ist immer weggegangen, wenn sie gekommen ist, aber sie ist ihm immer nachgelaufen!"
Kathi wunderte sich wieder einmal über die feinen Antennen des Kleinen. Auf dem einen oder anderen Fest bei Pascal schien er Karin nicht aus den Augen gelassen zu haben.


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