Kapitel 55

Wieder übersetzte Jean, und Jerome sah den Deutschen bewundernd an. Wie der junge Mann seinen Sohn erzogen hatte, war total okay!

Kevin bemerkte den Blick während einer Kusspause. „Was hat er denn schon wieder ausgeplaudert?" fragte er lächelnd.

Philip zog ein wenig den Kopf ein. Hoffentlich war der Papa nicht sauer, weil er so viel erzählte!
Aber eigentlich war der Papa ja nie sauer. Immer erklärte er ihm alles genau, damit er es verstehen konnte.

Er schimpfte nie mit ihm, schrie ihn nie an, wie die Mama es immer getan hatte.
Der Papa hatte ihn immer lieb gehabt.
Und er hatte den Papa immer lieb gehabt.

Wenn er nach Hause gekommen war, war er immer froh gewesen.
War die Angst immer etwas kleiner geworden.
Der Papa hatte ihm gutes Essen gegeben, hatte ihm erklärt, warum er bestimmte Sachen nicht essen oder trinken sollte.

Und er hatte das auch immer so gemacht!
Selina hatte ihn immer verspottet, weil er keine Chips gegessen und keine Cola getrunken hatte.
„Ein Behinderter weiß eben nicht, was gut schmeckt! Behinderte mögen nur Vollkornbrot und Gemüse!" hatte sie lachend gerufen.

Die schönsten Tage waren die, an denen Papa ihn mit auf die Arbeit genommen hatte.
Da hatte er seine Ruhe, Selina und Mama waren weit weg, und die Männer da im Lager waren nett zu ihm, er hatte einen Schreibtisch und einen eigenen Stuhl.

Das alles schoss ihm innerhalb kurzer Zeit durch den Kopf.
Deshalb durfte der Papa nie böse auf ihn sein!
Und deshalb sollte der Papa auch nie wieder so traurig sein!

„Nein!" sagte der fremde Mann. „Er hat nichts ausgeplaudert! Er hat nur gesagt, was viele Erwachsene nicht begreifen: Dass es egal ist, wer wen liebt. Wichtig ist nur, dass man liebt!"

Kevin strich seinem Sohn stolz über den Kopf. Er schien es begriffen zu haben! Er erinnerte sich, als sie einmal durch die Stadt gelaufen waren. Philip hatte furchtbar lachen müssen, als ein Mann einen anderen küsste. Da hatte er ihm erklärt, dass es das eben auch gab, und dass es vollkommen in Ordnung war.

„Er ist ein ausnehmend kluges Kind!" sagte Jean.
„Aber ich bin ein bisschen autistisch!" erklärte Philip. „Behindert bin ich aber nicht!"
Der Franzose lachte laut auf. „Wer hat denn das je behauptet?"

„Alle! Selina, die Kinder auf dem Spielplatz, Mama, Dustin und Justin, Opa Herrmann, Dennis, Ronny und Marvin!" erklärte Philip emotionslos. „Aber dann hat Papa Dr. Kathi getroffen, sie haben sich lieb gehabt, und sie hat meine Angst weggezaubert. Papa ist mit mir zu Opa Albert ins Hotel gegangen, da haben wir es gut gehabt."

Kevin lächelte vor sich hin. Papa hat Dr. Kathi getroffen, sie haben sich lieb gehabt!
Ja! So einfach war es gewesen! So wie der Sechsjährige es zusammenfasste!
Seit dem war sein Leben gut geworden!
Seit Kathi und er sich lieb gehabt hatten!

Jean und Jerome sahen ihn an. Sie interessierten sich sehr für zwischenmenschliche Geschichten.

Also erzählte Kevin eine Kurzfassung der Geschichte seines Lebens auf Französisch.
Im Gegenzug berichteten sie von ihrer. Sie waren beide Söhne aus sehr vermögenden Elternhäusern, Freunde von Kindheit an, studierten BWL, um die Firmen ihrer Väter eines Tages zu übernehmen.

Jean verlobte sich mit der Tochter eines wichtigen Geschäftspartners seines Vaters, ein gesellschaftliches Ereignis in ihrer Heimatstadt.

An diesem Tag schoss Jerome sich ab, kam mit einer lebensbedrohlichen Alkoholvergiftung ins Krankenhaus. Jean wich keine Sekunde vom Bett des Jugendfreundes, wurde sich während dieser Zeit klar darüber, dass er Jerome mehr liebte als sein Leben. Sie hatten schon ein paar Mal miteinander rumgemacht, hatten das als Erfahrung mit dem eigenen Geschlecht verbucht wie viele Altersgenossen.

Doch während er am Bett seines Freundes um dessen Leben bangte, wurde sich Jean bewusst, dass es viel mehr war als das. Das es erfüllender gewesen war als jede Nacht mit einer Frau.
Als Jerome wieder gesund war, outeten sie sich umgehend. Sie wollten keinen Tag mehr ohne einander leben.

Jeromes Eltern waren sehr offen der Beziehung gegenüber, waren froh, dass ihr Sohn glücklich war.
Doch Jeans Eltern brachen vollkommen mit ihm, als Nachfolger wurde ein Cousin aufgebaut, der dann auch bald seine Verlobte heiratete.
So führten sie beide mittlerweile die Firma von Jeromes Vater, alle waren glücklich und zufrieden!

„Du sprichst gut Französisch!" lobte Jean.
Kevin freute sich zwar über das Lob, wiegelte aber bescheiden ab. „Ich hab's ein wenig mit den Sprachen!"

„Was machst du beruflich?" fragte Jean Kathi. Er hatte das Gefühl, die schöne Deutsche etwas vernachlässigt zu haben.
Doch dieses Gefühl trog ihn ganz und gar. Kathi genoss Kevins Selbstvertrauen, Philips Redseligkeit.

Sie war verdammt stolz auf die beiden hübschen Kerle.
„Ich bin Kinderärztin!" antwortete sie.
Jerome lachte, nachdem Jean übersetzt hatte. „Na! Da passt ja alles bei euch!"
Kevin grinste. „Klar! Bei uns passt alles! Jedes Detail!"

„Einige nicht ganz unwichtige Details haben wir heute Nacht schon mitbekommen!" verriet der Franzose.
„Sorry! Wart ihr das, die geklopft haben?" fragte Kevin.
„Nein! Um Gottes willen! Ihr habt uns auf ein paar sehr gute Ideen gebracht!" Jerome hielt sich den Bauch vor Lachen.

„Was hat Scherome gesagt?" wollte Philip wissen.
„Nicht jugendfrei!" antwortete Kevin.
„Was heißt: nicht jugendfrei?" Der Junge ließ nicht so schnell locker.

Kevin stöhnte auf. Der Kleine war heute leicht anstrengend!
Kathi sprang ein. „Das heißt, dass du das den Papa in zehn Jahren wieder fragen sollst!"
„So lange merke ich mir das nicht!" maulte Philip.

Die französischen Jungs merkten, dass die Deutschen jetzt lieber küssen wollten als dem Jungen Antworten zu geben. Jean lenkte den Kleinen ab.
„Und woher kommt ihr?"

„Aus Regensburg in der Oberpfalz in Bayern in Deutschland in Europa!" antwortete Philip. Der Papa hatte ihm das einmal in einem Atlas gezeigt. Er hatte lachen müssen, weil das Deutschland so klein war.

Die vielen Landkarten waren lange Zeit sein Lieblingsbuch gewesen. Weil der Papa es ihm so gut erklärt hatte, verstand er viel von den ganzen Ländern.

Selina hatte das alles nicht begriffen. „Was glotzt du denn den ganzen Tag dieses Gekrakel an?" hatte sie ihn angebrüllt und den Atlas versteckt.
Er hatte sich wieder einmal furchtbar aufregen müssen, der Papa war von der Arbeit nach Hause gekommen, hatte ihn beruhigt.

„Wo ist denn dein Atlas?" hatte er gefragt, und Philip hatte wieder zu schaukeln begonnen.
„Den habe ich versteckt! Das ist doch lauter behindertes Zeug!" hatte Selina lachend gerufen.
Zwei Tage später hatte der Papa ihm ein neues Buch mitgebracht, das noch schöner als das erste war. Er hatte es unter der Matratze versteckt, nur herausgeholt, wenn Selina auf dem Spielplatz oder vor dem Fernseher war.

„Und woher kommt ihr?" fragte er den netten Jean.
„Aus Straßburg im Elsass in Frankreich in Europa!" antwortete der junge Mann lachend.
„Frankreich kenne ich! Das ist größer als Deutschland!" erklärte Philip, und Jean schüttelte wieder verwundert den Kopf.

„Wie alt bist du schnell wieder?" fragte er.
„Sechs! Aber ich bin schlau wie mein Papa!" erklärte der Kleine selbstbewusst.
Die Franzosen kriegten sich kaum noch ein. Jean übersetzte alles, und Jerome kam aus dem Lachen nicht mehr heraus.

Kevin und Kathi bekamen wenig davon mit, wie gut Phillip heute drauf war. Sie hatten ganz andere Probleme. Sie brannten nacheinander, konnten die Hände kaum bei sich behalten.

Aber heute Nacht würde Philip in ihrem Zimmer schlafen müssen.
Kevins Blut rauschte in seinen Ohren. Wenn sie nicht aufhörte mit ihren Zehen an seinen Unterschenkeln auf und ab zu streifen, würde er sie unter dem Tisch nehmen!

Oder in einer Seitengasse!
Oder in einem Hauseingang!
Blöd nur, dass sich überall Menschenmassen durch die Stadt wälzten!
Ob es ein Stundenhotel gab in dieser so heiligen Stadt?
Oder einen Platz, an dem man Kinder abgeben konnte?
Nur für eine Nacht?

„Bitte, Kathi!" flehte er an ihrem Ohr, versuchte seine Beine in Sicherheit zu bringen.
„Was denn?" hauchte sie unschuldig, und ihre Hand streifte wie zufällig seine Erektion, dass er aufstöhnte.

„Biest!" Er revanchierte sich umgehend, ließ seine rechte Hand an ihrem Rücken entlanggleiten, ließ seine Finger auf ihrer Schulter tanzen, bis auch sie stöhnte.
„Geht es euch nicht gut?" fragte Philip.
Kevin versuchte, seinen verschleierten Blick auf seinen Sohn zu fokussieren. „Doch!" krächzte er.

„Schon!" Mehr brachte er nicht heraus.
Er kannte Erregung schon, bei Kathi war er schon oft an seine Grenzen gestoßen, hatte sich aber immer wieder in Griff bekommen.
Aber heute konnte er den Druck kaum noch ertragen. Zu lange hatte er sie vermissen müssen.
Eine Nacht hatte nicht ausgereicht, seine Hormone zu beruhigen.

Jerome bemerkte die Blitze, die zwischen den beiden Deutschen hin und her flogen, sah auf die Uhr.
Erst zehn! Der Kleine wirkte noch sehr munter, eine Stunde würde der sicher noch durchhalten, wenn sie sich mit ihm beschäftigten. Er flüsterte mit Jean - der lachte, küsste seinen einfühlsamen Mann.

„Wolltet ihr nicht etwas aus dem Hotelzimmer holen? Philip kann ja einstweilen bei uns bleiben, oder?" Er sah den Jungen fragend an.
Kevin studierte das Gesicht seines Sohnes. Nie würde er ihn zurücklassen, wenn der Kleine das nicht wollte!

„Klar!" erklärte Philip. „Wir können uns ja die Stände alle ansehen, und dann in der Kirche noch einmal Kerzen anzünden."
„Bist du ganz sicher?" fragte Kevin.
„Ja! Ganz sicher!"

„Und ihr lasst ihn nicht aus den Augen?" bat Kevin Jean und Jerome.
„Haut schon ab!" rief Jean. „Den süßen Kerl werden wir schon bewachen können!" Plötzlich wurde ihm etwas mulmig. Schwulen Männern wurde ja so das eine oder andere unterstellt!

Hoffentlich kam Kevin nicht auf solche Gedanken.
Als der Deutsche ihn in die Arme nahm, atmete er auf. „Danke!" hörte er noch, und mit Raketenantrieb entfernte sich das Paar.

Kevin und Kathi hätten ein paar Minuten später nicht sagen können, wie sie ins Hotel gekommen waren.
Sie hatten auch keine Ahnung, ob sie sich schon im Aufzug die Kleider vom Leib gerissen hatten oder doch erst im Zimmer.

Sie wussten nur, dass sie ausgehungert nach Zärtlichkeiten waren, nach Haut, nach dem Körper des anderen.

Dass sie sich fühlen, spüren, anfassen, küssen mussten.
Sie versuchten leise zu sein, um nicht wieder Zimmernachbarn zu stören.
Sie versuchten, sich zurückzunehmen, zu genießen.
Doch der Rausch der Leidenschaft erwischte sie total, sie brauchten Erleichterung, die Sehnsucht war zu einer Qual geworden.

Nach einem unvergleichlichen Flug in den Himmel starteten sie eine zweite, ruhige, genussvolle Runde, nach der sie sich lächelnd vor Glück in den Armen hielten.
Nun wussten sie, dass sie eine Nacht mit einem kleinen Jungen zwischen sich überleben würden!
Sie duschten schnell und sehr leise, liefen engumschlungen zu ihrem Tisch auf dem Festplatz zurück.


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top