Kapitel 54

Als sie mit Philip schließlich im Frühstücksraum ankam, wartete Kevin schon ungeduldig.
„Wo bleibt ihr denn so lange?"

„Wir hatten eine Grundsatzdiskussion über Vertrauen, Zuhören und Weglaufen!" antwortete sie und küsste den umwerfend aussehenden Mann schnell.

Er grinste. Hatte er noch einen Fürsprecher!
„Kathi hat geschworen! Das muss sie jetzt auch halten!" erklärte Philip.
Kevin nahm seine zwei liebsten Menschen in den Arm. „Das wird sie auch! Ich weiß das!"


Die Italiener waren ziemlich aufgedreht. Der Hubschrauber hatte tatsächlich Lauras Eltern abgeholt, der Flug der restlichen Großfamilie ging bald.
„Deshalb mussten wir auch Philip vorbeibringen!" erklärte Antonella. Kevin und Kathi grinsten sich an.

Daran hatten sie natürlich nicht gedacht.
Ein von vielen Segenswünschen und Dankesworten begleiteter Abschied begann. Antonella zog ein Kuvert aus ihrer Handtasche, gab es Kathi. „Das hat uns der Heli-Pilot für dich gegeben!" sagte sie, bevor alle zur Hoteltür hinausflatterten.

Beim Frühstück, das sie ausnahmsweise noch bekamen, riss Kathi den Umschlag auf.
Sie las etwas überrascht. „Puh!" stieß sie hervor.
„Was ist das?" fragte Kevin besorgt, um sich gleich danach zu besinnen. „Sorry! Es geht mich ja nichts an!"

Sie sah ihn verwundert an. „Natürlich geht es dich etwas an! Dich geht in Zukunft wieder alles in meinem Leben etwas an!"
Und kein Satz hätte ihn glücklicher machen können! Während der Anfänge ihrer Beziehung hatte sie über alles, was sie in der Arbeit oder im Leben belastete, gesprochen. Er hatte das immer sehr genossen, wenn sie ihre Sorgen bei ihm abgeladen hatte.

Umgekehrt war es genauso gewesen. Als er zu studieren angefangen hatte, war das anders geworden. Sie hatte sich ihm mehr und mehr verschlossen, worunter er sehr gelitten hatte.
Dann hatte er auch aufgehört, von seinem Leben zu erzählen, worunter er fast noch mehr gelitten hatte.

Doch an diesem Frühstückstisch in Spanien am Ende seiner langen Reise mit seinem Sohn wusste er, dass das wieder anders werden würde.
Weil sie beide verstanden hatten!
Weil sie beide eingesehen hatten, dass es nur einen Weg für sie gab: Den, den sie zusammen gehen mussten!

Ganz und gar zusammen, so wie am Anfang!
Er las das Schreiben, das sie ihm hinschob. „Die Rechnung für den Heli-Transport? 14.789 Euro? Warum ist sie auf dich ausgestellt?"

Sie druckste nicht herum, antwortete offen: „Die Klinik hätte nur den Transport mit einem Sanka bezahlt. Aber wir haben keine Zeit zu verlieren! Sollte ich abwarten, bis die Eltern in Bergamo ankommen, die Formulare unterschreiben? Sollte ich zusehen, wie ein todkrankes Kind in einem Sanka quer durch Europa gefahren wird? Ich glaube nicht, dass sie noch so viel Zeit hat!"

Kevin sah sie an, und seine ganze Hochachtung und Bewunderung lag in diesem Blick. Und er wusste, sollte er je ein wenig sauer auf sie sein, in zehn oder zwanzig Jahren vielleicht, würde er sich an diesen Augenblick erinnern!

„Das ist eine Menge Geld!" stieß er hervor und drückte ihre Hand ganz fest.
„Klar! Dafür hätte ich eine Menge Manolos bekommen!" scherzte sie. „Oder Gucci-Handtaschen!"

Kevin bekam einen Lachanfall. Manolos! Diese unnatürlichen, hochhackigen Dinger, die sich Schuhe nannten! Die Mädels in seinem Semester träumten alle davon, einmal genug Geld zu verdienen, um sich diese abartigen Dinger leisten zu können.

Und er stellte sich seine Süße, die zu seinem größten Glück mit beiden Beinen sicher auf der Erde stand, vor, wie sie mit 12 Zentimeter hohen Absätzen auf ihn zugestackst kam!
Philip kam mit einem Teller voller Leckereien, die sie ihm in der Küche zugesteckt hatten, an ihren Tisch.

„Warum lachst du so, Papa?" fragte er.
Kevin nahm ihn in die Arme. „Weil ich glücklich bin! Weil ich die beste Frau und den besten Sohn ever habe!"

Philip grinste Kathi an. „Das lassen wir doch mal so stehen, oder?"
Die Erwachsenen sahen ihn verblüfft an. Eine Ausdrucksweise hatte der Kleine! Man merkte ihm schon an, dass eine Reihe von Erwachsenen sich viel mit ihm beschäftigte, und auch, dass er viel las, was über seiner Altersstufe lag.

Den Tag genossen sie im Trubel der Stadt, den auch Philip gut wegsteckte. Sein Papa und Kathi hielten ihn zwischen sich an der Hand, ihm konnte ja nichts passieren! Sie holten die Sachen der Jungs aus dem Kloster, dem letzten auf ihrer langen Reise. Schwester Catalina sah Kevin streng an. „Wir haben uns ein wenig Sorgen gemacht, als ihr beide gestern nicht mehr wieder gekommen seid!"

Dann lächelte sie Kathi an. „Aber jetzt verstehe ich natürlich!"
Kevin übersetzte für die Frau an seiner Seite. „Gracias!" antwortete die, das war das einzige spanische Wort, das sie kannte.

Dann gingen die Drei in die Kirche, zündeten Dutzende von Kerzen an. Kathi steckte einen großen Schein in den Opferstock.
Da fiel Philip etwas ein. „Ich muss noch die letzte Karte schreiben!" Sie setzten sich in eine Kirchenbank, lasen, was der Kleine rasend schnell schrieb.

Liebe Kathi!
Wir sind angekommen!
Ich hatte große Angst, dass ich dich nicht finde.
Es sind so viele Menschen hier.
Aber der heilige Philip und die heilige Katharina haben geholfen.
Vielleicht auch der heilige Kevin, auch wenn der aus Irland kommt.
Papa hat mir nicht geglaubt, dass du es warst!
Aber ich habe dich gleich erkannt.
Und mein Herz hat ganz schnell geschlagen.
Weil ich so glücklich war.
Weil du gekommen bist!
Wir haben dich lieb!
Philip

Dann suchten sie mit tränenblinden Augen einen Briefkasten. Sie freuten sich auf den Tag, an dem der Briefträger die letzte Karte brachte.

„Jetzt erzähl mal, wie du das angestellt hast mit den ganzen Karten!" forderte Kevin seinen Sohn auf. Seine Augen wurden immer größer, als er die ganze Geschichte hörte.

„Aber ich habe nie gelogen! Ich habe dich nur ein wenig ausgetrickst, oder?" wollte der Junge sicherheitshalber wissen.

Wieder musste Kevin sein Kind in den Arm nehmen, musste er seinen Sohn abküssen.
„Natürlich! Und das dürfen superschlaue Söhne auch! Nicht zu oft, und nur wenn es ganz wichtig ist!"
„Und das mit Kathi war ja superwichtig, oder?" Philip musste das schon ganz genau wissen.
Kevin lächelte seine Süße voll Vaterstolz an. „Das war das Allerwichtigste auf der ganzen Welt!"

Den restlichen Tag verbrachten sie losgelöst, überglücklich, wie in einem Traum. Nie war das Leben vollkommener als in diesen Stunden. Überall begegneten den Dreien freundliche Blicke, viele tuschelten über den singenden Pilger, seinen hübschen Sohn, die schöne Frau an seiner Seite.

Am Abend gab es ein großes Fest auf dem Platz vor der Kirche. In riesigen Pfannen kochten die Frauen Paella, die kostenlos gegen eine Spende an die Pilger verteilt wurde. Eine spanische Gruppe sang und tanzte. Kevin holte zwei Becher mit dunkelrotem Wein und ein Wasser für seinen Sohn.

Kathi sah ihn überrascht an. „Ja! Heute will ich feiern! Und ich will mir beweisen, dass ich mit Alkohol umgehen kann! Dass ich mal ein Glas Wein trinken kann, ohne durchzudrehen!"

Sie verstand. Er hatte die Angst abgelegt, dass in seinen Genen Alkoholismus vorprogrammiert war. Herrmann war nicht sein Vater, und Angelika hatte nie getrunken.

Plötzlich kam die Sängerin der Gruppe zu ihrem Tisch. „Ich habe gehört, dass ein echter Internetstar bei uns ist! Komm doch auf die Bühne und sing mit uns!"

Kevin wehrte entsetzt ab. Nie und nimmer würde er das machen! Doch dann begann eine Stimme, „Kevin" zu rufen und viele stimmten ein.

Kathi hielt sich den Bauch vor Lachen, Philip saß auf ihrem Schoß und grinste sie an. „Ich hab doch geschrieben, dass wir berühmt sind!"
Schließlich konnte sich Kevin dem Sprechchor nicht mehr widersetzen, ging gottergeben mit der Sängerin.

Lauter Jubel brauste auf, als er die Bühne betrat. Die Band und er beratschlagten kurz, dann begannen die Instrumente, seine wunderbare Stimme setzte ein. „I am flying without wings!" hörte Kathi zusammen mit hunderten von Gästen vieler Nationen.

„I never let you go" folgte und noch drei weitere Lovesongs. Dabei sah er immer nur sie an, und sie wusste, dass jedes Wort ihr gehörte.
Danach erklärte er in Englisch, das doch die meisten verstanden, dass er am Ende seiner Pilgerreise, die er zusammen mit seinem sechsjährigen Sohn gewagt hatte, die Liebe seines Lebens zurückbekommen hatte.

Doch dann verbesserte er sich. „Nein! Nicht zurückbekommen! Denn wie ich erfahren durfte, hatte ich sie nie verloren! Ich hätte also gar nicht so weit laufen müssen!" Lachen im Publikum unterbrach seine Rede.

Wow! dachte Kathi, platzend vor Stolz. Er ist ja ein richtiger Entertainer!
„Doch diese dreißig Tage waren für meinen Sohn und mich ein unvergessliches Erlebnis. Sie waren wichtig für uns, und wir werden uns noch daran erinnern, wenn ich im Schaukelstuhl sitze und eines meiner Enkelkinder auf dem Schoß habe! Da mein Kleiner auch sehr musikalisch ist, könnte er doch mit mir einen letzten Song zum Besten geben. Philip? Hast du Lust?"

Der Kleine sprang so schnell auf die Bühne, dass wieder alle lachen mussten. Vater und Sohn diskutierten eine Weile, dann sagte Kevin ins Mikrofon: „Also: Der Junior wünscht sich „Please forgive me" von Bryan Adams."

Während Kathi die Tränen übers Gesicht rollten, während sie den Blick nicht von dem tollen Typen da oben auf der Bühne wenden konnte, sangen die beiden wichtigsten männlichen Wesen in ihrem Leben eines ihrer Lieblingslieder.

Das Publikum brüllte „Zugabe! Zugabe!", doch Kevin ließ sich nicht erweichen. Er musste jetzt zu seinem Mädchen zurück!
Während er in einem leidenschaftlichen Kuss mit ihr versank, trat unbemerkt Celine an ihren Tisch.

„Eine nette Show!" giftetet sie. „Wenn man bedenkt, dass du vor ein paar Tagen noch für mich gesungen hast!"
Kevin begann laut zu lachen. „Das kannst du dir sparen! Kathi kann kein Französisch!"

Die Genannte sah lachend zwischen den beiden hin und her. Nein! Sie würde nicht misstrauisch werden! Nie wieder! Immer wieder würden ihn Frauen anbaggern, würden sie ihr irgendwelche Stories erzählen, um sie auseinander zu bringen!

Es würde den Weibern nichts nützen!
Sie würde keines der Worte glauben, in welcher Sprache auch immer.
Sie würde immer nur Kevin glauben, Kevin vertrauen!

Celine gab sich noch nicht geschlagen. „Ruf mich doch mal an!" erklärte sie augenzwinkernd. „Meine Nummer hast du ja!" Sie hatte schon wieder vergessen, dass die Konkurrentin sie nicht verstand, dass ihre Spitze also verpuffen würde.

Kevin hielt sich den Bauch vor Lachen. Die Kleine war echt irre! Er nahm Kathi in die Arme, küsste sie leidenschaftlich. Irgendwann würde der Hungerhaken da an ihrem Tisch schon begreifen!

Doch die Französin kam erst richtig in Fahrt. Sie umklammerte plötzlich Philip, zog ihn auf ihren Schoß. „Du musst mit mir kommen! Dein Papa ist ein böser Mann!"

Da reichte es Kevin. Sein Sohn verstand zwar nicht, was die Furie gesagt hatte, aber die Panik stand deutlich in seinen weitaufgerissenen Augen.
Kevin riss den Jungen aus den Armen der Verrückten. „Fass noch einmal mein Kind an, und du wirst es bitter bereuen!" zischte er.

Celine ließ sich von der Bank fallen. „Er hat mich geschlagen! Gestern Nacht hat er mich vergewaltigt, jetzt habe ich gesagt, dass ich ihn anzeige, und er hat mich geschlagen!"

Nicht viele um sie herum verstanden Französisch, aber zwei Männer drängten sich durch die Gruppe. „Hau ab, Celine! Du hast genug Gift versprüht auf deiner angeblichen Pilgerwanderung! Heute Nacht hat der Typ sicher niemanden vergewaltigt! Wir haben das Zimmer neben der Deutschen, und da war ordentlich etwas los!" fuhr der eine die Furie an.

Der andere grinste Kathi an, die zu Kevins Erleichterung nur verständnislos dreinsah.
Celine wurde feuerrot und suchte schnell das Weite.
Kevin hielt Philip auf dem Arm, der sich langsam beruhigte. „Die Frau hat mir Angst gemacht!" wisperte er. „Warum ist die so böse?"

Sein Vater suchte nach einer Antwort. Kathi strich dem Kleinen über den Rücken. „Es gibt eben immer wieder böse Menschen, Philip. Da kann man nichts machen! Menschen, denen es egal ist, ob sie jemandem weh tun, jemanden verletzen oder ärgern!"
„So wie Mama?" Der Kleine sah Kathi vertrauensvoll an. Nun bat sie Kevin mit ihren Augen um Hilfe.

„Ja!" stimmte der zu. „So wie Mama!" Er erstickte beinahe an diesem Wort! Er hoffte von Herzen, dass sein Sohn dieses Monster, das ihn geboren hatte, vergessen konnte.

Die beiden Franzosen beobachteten die rührende Szene. Jean, der Deutsch sprach, wunderte sich. Die schöne Frau sah gar nicht böse aus!
Wahrscheinlich war sie nicht die Mutter des Jungen!

„Danke für deine Hilfe!" sagte Kevin dann zu Jean.
Der winkte nur ab. „Ist schon klar! Die Frau ist einfach nur verrückt! Bei Jerome hat sie eine ähnliche Show abgezogen! Sie hat nur nicht bedacht, dass er mein Mann ist!"

Die Gruppe setzte sich zusammen. Jean nahm Philip auf den Schoß, während Kevin Kathi erklärte, was Celine alles von sich gegeben hatte.

Philip sah den blonden Franzosen eine Weile an, dann den dunkelhaarigen. „Ihr seid nett!" stellte er dann fest. „Vor euch habe ich gar keine Angst!" Jean übersetzte für Jerome, der den Kleinen anlächelte. So einen Sohn hätte er auch gerne mit seinem Liebsten!

Philip beobachtete die Blicke zwischen den beiden Männern. Sie sahen sich so an wie Kathi und Papa, so verliebt.
„Ihr habt euch auch lieb!" erklärte er dann. „Das geht auch bei zwei Männern oder zwei Frauen. Mein Papa hat gesagt, es ist egal, Hauptsache ist, man hat sich lieb!"


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