Kapitel 46

Kevin und Philip

Am nächsten Tage wurde es zunehmend wärmer. Die langen Hosen wanderten in den Rucksack, zusammen mit den Fleecepullovern.

In Shorts und leichten T-Shirts lief es sich deutlich besser.
Kevin war in der sommerlichen Kleidung ein ausnehmend angenehmer Anblick, was die Damen unter den Pilgern nicht übersehen konnten. Viele Blicke klebten an ihm, was er lächelnd hinnahm, was allerdings Philip so gar nicht gefiel.

„Was schauen die denn immer so?" fragte er genervt.
Kevin lachte. „Das verstehst du noch nicht, Sohnemann!"
„Pah! Versteh ich doch! Die schauen verliebt!" erklärte der Kleine.
„Verliebt nicht! Vielleicht interessiert!" wehrte Kevin ab.

„An was? An dir? Das können die vergessen! Schau mal, wie hässlich die sind!" Philip war auf Hundert!
„So redet man aber nicht über Frauen!" wies Kevin ihn zurecht. „Alle Menschen sind schön, jeder für sich auf eine ganz bestimmte Weise. Und wenn es nicht das Gesicht ist oder die Figur ist, dann ist es vielleicht ein Lächeln oder eine schöne Stimme!"

Sein Sohn sah ihn verunsichert an.
Jeder Mensch war schön?
Auch Mama?
Oder Selina?
Nein! Das konnte nicht sein!
Aber vielleicht verstand er das auch noch nicht!

In Gedanken versunken tapste er weiter. Der Papa sollte aber keine andere Frau schön finden!
Er sollte Kathi liebhaben!

Eine Mädchengruppe aus Frankreich blieb ihnen besonders hartnäckig auf den Fersen.
Immer wieder versuchte Celine, Kevin in ein Gespräch zu verwickeln. Doch der tat, als würde er kein Wort verstehen.

Da Franzosen der Meinung waren, Fremdsprachen seien etwas für alle anderen Nationen, Französisch musste genügen, um durch die Welt zu kommen, kam sie bei ihrem Schwarm keinen Schritt weiter.

„Wir sehen uns heute Abend bei der Fiesta! Da wirst du mich verstehen, mein Hübscher!" sagte sie selbstbewusst.
Kevin grinste sie dümmlich an, zuckte mit den Schultern.

Vergiss es, du Nervensäge! dachte er.
Philip erkannte, dass er seinen Vater dringend retten musste, spielte den grantigen, müden Sohn perfekt.

„Ich kann nicht mehr, Papa!" jammerte er. „Machen wir eine lange Pause! Bitte!"
Kevin sprang voll darauf an. „Natürlich! Leg dich da in den Schatten!"

Celine durchbohrte das lästige Kind mit Blicken. „Verzogener Fratz!" sagte sie.
In Kevin kochte es, aber er gab seine Tarnung nicht auf. Womöglich hatte er die Kleine sonst den ganzen Weg an der Backe!

Als die Mädels um die nächste Wegbiegung verschwunden waren, klatschten sich die beiden ab.
„Gut gemacht!" lobte der Papa, und Philip war wieder einmal sehr zufrieden mit sich.
Sie ließen sich die Brotzeit schmecken, tranken ein paar kräftige Schlucke und machten sich wieder auf den Weg.

Kevin wunderte sich von Tag zu Tag mehr, wie gut sein Sohn die lange Strecke schaffte. Er jammerte nie, beklagte sich nicht, war immer gut drauf.
So einfach hatte er sich das nicht vorgestellt gehabt.

Aber gehofft hatte er schon, dass sie ein paar unvergessliche Tage zusammen schafften.
Etwas, an das sie sich immer erinnern konnten.

An ihrem Übernachtungsort war eine große Bühne aufgebaut, Plakate kündigten einige der erfolgreichsten Bands Spanien für den Abend an. Alle spielten unentgeltlich, Spenden für soziale Projekte waren erwünscht.

„Ui! Ein Fest!" freute sich Philip.
„Da wird es aber laut und voll!" warnte Kevin.
Der Kleine dachte nach. „Wir versuchen es mal! Wenn es mir zu viel wird, können wir ja immer noch gehen!"
Kevin verwuschelte dem tapferen kleinen Kerl die Haare. „Ein guter Plan!"

Sie duschten und aßen im Kloster, dieses Mal bei freundlichen Padres, die auch die Wäsche wieder gewaschen hatten, als sie ins Zimmer zurückkamen.
Sie zogen Hand in Hand los, die Musik hatte schon begonnen, der ganze Ort schien auf den Beinen zu sein.

Die Familie aus Italien hatte einen ganzen Tisch belagert. Sie hatten einen Tag ausgesetzt, weil einer sich schlimme Blasen gelaufen hatte. Sie rutschten zusammen, um dem netten Vater und seinem süßen Sohn Platz zu machen.

Philip war etwas nervös. Nicht wegen der vielen Menschen oder der lauten Musik, sondern weil er ausgerechnet hatte, dass sein Geld nicht für Karten und Porto bis zum Schluss reichen würde. Gleich neben ihrem Tisch war ein Laden, immer wieder musste er hinsehen.

Schließlich beschloss er, dass er noch einmal schwindeln musste.
„Kannst du mir ein bisschen Geld geben?" bat er seinen Papa, der heute sehr lustig zu sein schien. Die Musik gefiel ihm richtig gut!
Der Papa mochte Musik sehr gerne.

„Natürlich! Willst du dir ein Eis kaufen?" fragte Kevin und lächelte sein Kind an.
„Nein! Ich möchte Onkel Albert und Oma Angelika eine Karte schreiben! Da drüben sind so schöne!" Er deutete auf die Bude.

Kevin drückte ihm 20 Euro in die Hand. „Das ist eine tolle Idee!" Er stand auf. „Ich komme mit!"
Doch das Schicksal stand Philip bei.

Valentina, die jüngste der Familie, die in Bozen studierte und Deutsch sprach, hatte das Gespräch mitbekommen.
„Bleib hier! Ich muss auch Karten schreiben! Ich gehe mit dem Hübschen!" sagte sie zu Kevin.
Philip strahlte die junge Frau an, griff nach ihrer Hand.

Im Laden beschloss Philip, Valentina einzuweihen. Er brauchte etwas Unterstützung, wenn alles klappen sollte.

Also erzählte er von Kathi, die seinen Papa so lieb gehabt hatte, bis der die ganze Nacht gelernt hatte, die dann sauer war.

Dass er aber unbedingt dafür sorgen musste, dass der Papa Kathi nicht vergaß und sie den Papa nicht, und auch ihn nicht.

Dass er deshalb jeden Tag eine Karte schrieb, dass er den Papa manchmal anschwindeln musste.

Valentina küsste den kleinen, ernsthaften Kerl auf die Wange, was er ganz gut aushalten konnte.
„Pass auf! Du kaufst jetzt viele Karten und viele Marken. Die haben von der ganzen Strecke welche. Ich helfe dir beim Aussuchen. Dann musst du sie nur noch schreiben, wenn dein Papa duscht oder die Zähne putzt! Du kannst die Padres oder Nonnen bitten, sie für dich einzuwerfen, aber meistens haben die Klöster auch einen Briefkasten!"

Philip strahlte die junge Frau an.
Die war ja richtig klug!
Klüger als er.
Aber er war ja noch ein Kind!
So kaufte er 25 Karten, klebte das Porto gleich auf, schrieb auch 25 Mal Kathis Adresse, dann würde es immer schneller gehen, und der Papa würde ihn nicht erwischen.
Valentina schob ihm noch Geld hin. „Falls der Papa nach dem Rückgeld fragt!"

Philip beeilte sich mit dem Schreiben, sie waren schon lange weg.

Liebe Kathi
Heute ist es schön gewesen.
Bis auf Celine, aber die habe ich geärgert.
Dann ist sie weitergegangen.
Heute ist ein großes Fest.
Der Papa ist glücklich, weil es schöne Musik gibt.
Die Sonne scheint und wir sehen immer das Meer.
Die Padres waren heute nett.
Ich kann immer noch gut laufen.
Papa freut sich darüber.
Ich freue mich auch.
Wir haben dich lieb!
Philip

Valentina beobachtete den Knirps, wie er konzentriert die Worte schrieb. Seine Zunge spitzte hervor, schließlich atmete er erleichtert auf.

Was für ein Wonneproppen!
Was wohl mit seiner Mama war?
Sie musste ihn doch vermissen!
Ob Kevin sie wegen dieser Kathi verlassen hatte?

Philip warf die Karte in den Briefkasten. Eine schwere Last war von seinen Schultern genommen! Valentina hatte ihm sehr geholfen.

„Was ist eigentlich mit deiner Mama?" fragte die Italienerin, die neugierig wie alle jungen Mädchen war.

Philip sah sie erschrocken an, atmete tief ein und aus. „Die ... die ... die Mama ist böse! Sie hat mich gar nicht lieb gehabt! Nur Selina, meine Schwester! Und die ist auch böse! Sie haben gesagt, ich bin behindert und muss in ein Heim! Aber ich bin nur ein bisschen autistisch!"
Valentina tat es leid, dass sie gefragt hatte, dass sie den Kleinen so verstört hatte!

Sie versuchte Schadensbegrenzung. „Aber dafür hat dein Papa dich umso mehr lieb, nicht wahr?"
Der Kleine konnte wieder lächeln. Sein Papa hatte ihn immer lieb gehabt! Wenn er dagewesen war, war seine Welt in Ordnung gewesen!

„Mein Papa und ich, wir haben uns für immer lieb!" sagte er. „Und Kathi auch! Sie muss es nur endlich wieder glauben!"
Die Italienerin schluckte ein paar Tränen hinunter.

„Ihr wart aber lange weg!" wunderte sich Kevin, als sich Philip wieder auf den Platz neben ihm schob.
„Die haben so viele Karten!" erklärte Phillip, und das war ja gar nicht wirklich geschwindelt.

Eine Weile später fiel Philip etwas ein. „Wir haben noch gar keine Kerzen angezündet!"
Kevin schlug sich vor den Kopf. „Stimmt! Komm, das machen wir gleich!"
Die Kirche war nicht weit, aber natürlich liefen sie Celine und ihren Freundinnen in die Arme.

„Ah! Der hübsche Papa!" säuselte sie. „Aber sollte die kleine Kröte nicht langsam ins Bett, damit du dich etwas vergnügen kannst?"
Da riss Kevin der Geduldsfaden. Er zog das Biest in seine Arme. „Voulez vous couche avec moi?" flüsterte er in ihr Ohr.
Sie presste sich an ihn, rieb sich an ihm. „Oui!" hauchte sie.

Er stieß sie von sich. „Aber ich nicht mit dir, du Luder!" antwortete er in fließendem Französisch. „Eine Frau, die meinen Sohn beleidigt, würde ich nicht einmal mit der Kneifzange anfassen! Außerdem habe ich zu Hause eine wunderschöne Freundin! Nicht so eine aufgetakelte Hexe wie du!"

Damit ließ er sie stehen, ging mit seinem Sohn zur Kirche, zündete mit ihm Kerzen an, bat wieder einmal alle Heiligen um Hilfe.

„Ich weiß, dass es auf der Welt viele schlimme Probleme gibt, bei denen Menschen eure Hilfe brauchen! Aber vielleicht hat einer von euch eine Minute Zeit, um mir und Philip zu helfen, damit wir Kathi zurückbekommen!" betete er stumm.
Die Gedanken seines Sohnes gingen in etwa die gleiche Richtung.

„Was hast du zu der Frau gesagt?" fragte Philip auf dem Rückweg.
Kevin schmunzelte. „Frag mich in zehn Jahren noch einmal! Aber es war nichts Nettes!"

„Gut!" Der Kleine atmete auf. Er war ziemlich erschrocken, als der Papa die Frau in die Arme genommen hatte.
Sie nahmen wieder bei den Freunden auf Zeit Platz. Valentina hatte der Familie inzwischen von dem Gespräch mit Philip erzählt.


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