Kapitel 45

Kathi

Als Kathi nach Hause kam, waren Max und Josie noch in ihrer Wohnung, diskutierten noch immer miteinander.

„Komm mal her, Frau Dr. Dr.!" kommandierte Josie, kaum, dass Kathi die Türe hinter sich geschlossen hatte. Dann besann sie sich, dass sie ja was von der Anderen wollte. „Kannst du bitte mal kommen?" bat sie höflicher.

Kathi musste schmunzeln. Na also! Es ging ja! Erleichtert nahm sie wahr, dass das Mädchen keine Entzugserscheinungen zu haben schien. Sie war wohl nicht abhängig von harten Drogen!

„Was wünschen Madame?" fragte sie süffisant, was Josie aber entging.
„Er will, dass ich in seine Wohnung ziehe! Damit ich aus dem Milieu rauskomme! Sagt, dass er mich lieben könnte, wenn ich nicht mehr so kratzbürstig bin! Der ist total durchgeknallt, der Kerl!" ereiferte sich die junge Frau.

„Stimmt!" sagte Kathi nur und schenkte sich ein Glas Wasser ein.
„Wie? Was? Was stimmt?" Josie war etwas perplex.

Kathi setzte sich an den Tisch zu den beiden. „Er ist total durchgeknallt, wenn er sagt, dass er dich lieben könnte! Dass du zu ihm ziehen sollst! Voll und ganz durchgeknallt!"
Josie sah sie verunsichert an. „Verarscht du mich jetzt gerade?"

„Nein, nein!" versicherte Kathi. „Nicht im Geringsten! Warum sollte ein netter, gutaussehender Typ wie Max denn etwas von dir wollen? Einer boshaften, kaputten Bitch wie dir?"

Josie sah sie fassungslos an. Was erlaubte dieses Weib sich denn? Andererseits sprach sie genau die Worte aus, die sie selbst Max als Argumente an den Kopf geworfen hatte!
„Ich bin nicht so!" wetterte sie.
„Nein? Wie bist du denn?" fragte Kathi, schien völlig unbeteiligt und uninteressiert zu sein.

Max verfolgte atemlos den Disput der beiden Frauen. Kathi war geschult in Psychologie, das merkte man deutlich.
„Ich ... ich ... ich ...." begann Josie.

„Du ... du ... du ...? Du bist ein kleines Mädchen, hochintelligent, aber kaputt gemacht von Dreckskerlen. Du bist ein kleines Mädchen, das den Willen gehabt hat, es zu schaffen – wie Kevin!
Du bist unglaublich stark, du hast unheimlich viel geschafft. Mehr, als jeder von deiner verdammten Sippe dir je zugetraut hatte! Du könntest sehr hübsch sein, wenn nicht gerade die Bosheit deine Züge verzerrt! Du bist eine liebenswerte junge Frau, wenn du es zulässt, dass man dich liebt. Du bist Josefine, nicht mehr und nicht weniger. Josefine mit zahlreichen Wunden, die vernarben können, aber nie ganz verschwinden werden! Du bist du! Und darauf solltest du stolz sein!"

Josie hörte die Worte der Frau, die sie gehasst hatte bis aufs Blut, weil sie ihr Kevin weggenommen hatte.
Der Frau, die ihr die Wahrheit um die Ohren haute!
Der Frau, die Kevin geliebt hatte!
Der Frau, die Kevin so gut getan hatte!

Was hatte sie gemacht!
Und diese Frau, die sie so sehr hatte verletzen wollen, saß neben ihr und erzählte ihr, dass sie etwas wert war.

Die Tränen begannen wieder zu laufen.
Eine Schwester wie Kathi hatte sie sich immer gewünscht.
Und einen Mann wie diesen Max, der vollkommen durchgeknallt war, aber auch vollkommen süß.
Irgendwie!

Kevin war immer ihr Traummann gewesen, ihr Ritter, der, der es geschafft hatte!
Der anders sprach, der bei den Domspatzen war, der Medizin studieren würde!
Der ihr Anker gewesen war in all den Jahren.

Doch Träume waren eben Träume!
Sie sollten ja gar nicht in Erfüllung gehen, sonst waren es ja keine Träume mehr.

Max konnte Wirklichkeit werden, wenn sie es zuließ.
Der Weinkrampf schüttelte sie, aber sie hatte das Gefühl, sie könnte ihre Seele freiweinen.

Sie konnte ihren Weg finden und gehen – mit Max und mit dieser .... dieser Kathi! Die eine verdammt coole Type war!

Max strich über ihre verschwitzten Haare, nahm sie in den Arm, zog sie auf seinen Schoß. „Pst!" flüsterte er leise. „Alles wird gut!"
Und sie ahnte, dass er recht haben könnte!
Dass er so durchgeknallt gar nicht war.

Kevin und Philip

Am Ende des nächsten Tags sahen sie tatsächlich das Meer, während die Sonne unterging und ihre letzten Strahlen das Wasser golden färbten. Kevin hielt Philip auf dem Arm, beide sahen gebannt dem Naturschauspiel zu.

„Das Meer! Das ist schön, das Meer!" sagte der Kleine überwältigt. „Das würde Kathi auch gefallen!"
„Sicher!" stieß Kevin hervor. „Aber sie kennt es ja!"

„Aber nicht mit uns! Mit uns würde es ihr sicher noch besser gefallen!" Er drückte sich fest an seinen Papa.
„Ja! Das würde es bestimmt!" Kevin wischte sich die feuchten Augen trocken.

Philip drückte sich an ihn. „Nicht weinen, Papa! Alles wird gut!"
Das waren einmal meine Worte gewesen! dachte Kevin. Und der Kleine hat mir immer vertraut! Vielleicht sollte ich jetzt einfach Mal ihm vertrauen?

In der Dämmerung gingen sie langsam durch den Ort.
Philip hatte Glück, sein Papa musste auf die Toilette.

„Ich warte hier!" erklärte der Sohn. Mit seinem geübten Blick hatte er den kleinen Laden entdeckt, flitzte los, kaum dass Kevin um die Ecke war.
Blitzschnell schrieb er, die Marke musste er der alten Frau bezahlen.

Liebe Kathi
Heute haben wir das Meer gesehen.
Ich habe das Meer noch nie gesehen, Papa auch nicht.
Du schon, hat Papa gesagt.
Die Sonne ist ins Wasser gefallen, das war schön!
Hoffentlich kommt sie morgen wieder heraus.
Mit dir wäre alle viel schöner hier.
Wir haben dich lieb.
Papa weint nur noch manchmal.
Philip

Er kam angesaust, als Kevin gerade zurückkehrte.
„Na? Wo rennst du denn rum?" fragte der Vater. „Du hast doch versprochen, hier zu warten?"

„Ich habe mir die Karten angesehen!" Das war nur ein bisschen geschwindelt. Er tanzte neben seinem Papa her, war aufgedreht und glücklich, weil es wieder geklappt hatte.
Kevin grinste.

Heute war er aber gut drauf, sein Sohn. Stolz verstrubbelte er ihm die Haare. „Willst du mit in die Kirche, oder willst du dich ausruhen?" fragte er.

„Heute kohomme ihich mihit!" sang Philip.
Kevin lachte. „Also komm, du aufgedrehtes verrücktes Huhn!" Vor der Kirche gab es den Pilgerstempel, innen verrichteten sie ihr Kerzenritual.

Dann suchten sie das Kloster. Zum ersten Mal wurden sie nicht so freundlich aufgenommen wie bisher. Der alte Padre sah Philip missmutig an. „Ich hoffe, du bist keine Nervensäge wie alle Kinder!" fuhr er ihn auf Spanisch an. Der Junge sah seinen Vater fragend an, das hatte er nicht verstanden.

In Kevin kochte es. „Er ist ein sehr braver Junge!" antwortete er ruhiger, als er sich fühlte. Wortlos drehte sich der Mann um. „Essen in einer halben Stunde!" erklärte er, während er davon schlurfte.

Philip war verunsichert. Er hatte die Ablehnung des Mönchs deutlich gespürt.
„Warum mag er mich nicht?" fragte er leise.

Kevin ging in die Hocke vor ihm, strich ihm liebevoll eine Strähne aus dem Gesicht.
„Er ist ein alter Mann, Philip! Er ist vielleicht krank, fühlt sich nicht wohl, ist mit seinem Leben nicht zufrieden. Vielleicht hat er sich selber Kinder gewünscht, es hat nicht geklappt, jetzt mag er sie nicht mehr sehr gut leiden!"

Der Kleine legte den Kopf schief. „Du hast mich schon gewollt, oder? Aber Mama nicht!"

Kevin schluckte. Eigentlich war es ja umgekehrt gewesen. Mary hatte es darauf angelegt, schwanger zu werden, er war in die Falle getappt!
Aber gewollt?

Doch! Gewollt hatte er ihn vom ersten Augenblick an, als er von der Schwangerschaft erfahren hatte.
An Abtreibung hatte er nie gedacht!

„Ja!" antwortete er deshalb nur.
Sie beeilten sich mit dem Duschen, schafften es pünktlich in den Speiseraum.
Philip benahm sich noch besser als sonst, war auch etwas schweigsamer, weil der alte Mönch ihm ein bisschen Angst gemacht hatte.

Nach dem Essen lächelte der ihn an. „Dein Vater hatte Recht! Du bist wirklich ein braver Junge!"
Kevin übersetzte lächelnd.

„Gracias!" sagte Philip und verbeugte sich höflich.
Im Zimmer schlugen sie sich ab. „Dem habe ich es aber gezeigt!" freute sich der Kleine.
Ihre Wäsche war dieses Mal nicht gewaschen worden, was aber nicht weiter schlimm war.
Müde fielen sie ins Bett, schliefen traumlos bis um sechs am Morgen.

Kathi

Kathi war einerseits erleichtert, als Max und Josie ihre Wohnung verließen.
Andererseits hatten die beiden sie etwas von ihrem Herzschmerz abgelenkt, es war auch schön gewesen, nicht in eine leere Wohnung nach Hause zu kommen.

Nun war sie also wieder mit vier Zimmern, Küche, Bad alleine.
Und mit unzähligen Erinnerungen.

Sie blätterte durch das Fotobuch, das die beiden ihr zu Weihnachten geschenkt hatten, sah eine vor Glück strahlende Kathi, die jeden Tag genossen hatte.
Heute zeigte ihr Spiegelbild tiefe Falten neben ihrem Mund, meistens verquollene Augen mit dunklen Ringen darunter.

Ihre Lippen waren farblos und trocken.
Sie sollten wieder mal geküsst werden! dachte sie.
Kevin hatte sie viel, oft und verdammt gut geküsst!

Das hatte sie nicht gekannt!
Christian war nicht der begabteste Küsser, und auch nicht der leidenschaftlichste.
Die Jungs vor ihm noch weniger!

Aber Kevin konnte sich darin verlieren, ihre Lippen mit seinen zu berühren.
Wie an dem ersten Abend vor der kleinen Bar.

Kevin konnte sich auch darin verlieren, sie zu streicheln, ihre Haut zu liebkosen.
„Halt still!" hatte er sie oft aufgefordert, wenn sie zu sehr gedrängt hatte. „Ich habe dich noch lange nicht genug gefühlt!"

Sie hatte das erst lernen müssen, sich einem Mann ganz und gar auszuliefern, dem es nicht um sich, sondern um sie gegangen war.
Oder doch auch um sich.

Seine Erregung hatte ihr gezeigt, dass er sie gerne berührte.
Sie stöhnte auf. Die Sehnsucht nach ihm nahm ihr den Atem, buchstäblich!
Sie sprang auf, presste die Hand auf ihr rasendes Herz.

Dann sah sie ihre Post durch. Eine Postkarte fiel aus dem Stapel zu Boden.
Wer schreibt denn heutzutage noch Ansichtskarten? dachte sie verwundert.
Als erstes sah sie das Foto an, eine schroffe Berglandschaft.

Als sie sie umdrehte, fiel ihr Blick auf die Unterschrift, und ihr Herz raste wieder los.
Philip! Der süße Junge, den sie alleine gelassen hatte!
Den sie fast so sehr vermisste wie seinen Vater!
Dann las sie den kurzen Text.

Sie wanderten, ganz lang, ganz weit? In Frankreich? Und es hat geregnet?
Was machte Kevin mit seinem Kind?
War er verrückt geworden?
War er mit dem Kleinen abgehauen?
Nach Frankreich?
Auch der nächste Weg!

Sie tigerte durchs Zimmer, auf – ab, auf – ab!
Sie musste Albert fragen, was da ablief.
Aber er ging weder an den Festnetzanschluss noch an sein Handy.

„Verdammte Bande!" schimpfte sie laut.
Hatte Kevin Philip angestachelt, ihr zu schreiben?
Sollte sie ein schlechtes Gewissen bekommen?
Nein! Er würde nie seinen Sohn missbrauchen, ihr eins auszuwischen!

Sie schenkte sich ein Glas Wein ein, trank es auf dem Balkon. Es war eine herrliche, milde Nacht, aber sie fror, zitterte vor Kälte tief in sich.
Angelika fiel ihr ein. Doch auch sie war unerreichbar.

Er hatte die beiden sicher aufgefordert, sich bei ihrer Nummer nicht zu melden!
Er war fertig mit ihr!
Hatte alle Brücken abgebrochen!
Aber was sollte diese Karte?

Sie trank noch ein Glas, ihr wurde etwas wärmer. Doch dann brachte sie die Flasche in die Küche. Das war sicher kein Ausweg!
Sie nahm ihren Schlüssel, verließ die Wohnung. Lange lief sie durch die Stadt, setzte sich ans Donauufer. Wie oft hatten sie hier gesessen, zu zweit oder zu dritt.
Philip hatte es hier gefallen, er liebte den Fluss.

Vorbei! dachte sie. Für immer vorbei! Wegen eines Fehlers von Kevin, wegen ihrer Sturheit!
„Nein! Bitte, Kathi!" hatte er gefleht. Und sie hatte sich umgedreht und war gegangen.

Weil ihr Stolz verletzt war!
Weil sie nicht noch einmal betrogen werden wollte!
Weil Kevin für Christians Fehler bezahlen sollte!
Kevin und sein Sohn, der ihr eine Karte aus Frankreich geschrieben hatte!

Langsam ging sie zurück, ließ sich Zeit, hatte Angst vor der Leere in ihrer Wohnung.
Die Leere in ihrem Herzen war zu ihrem ständigen Begleiter geworden.



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