Kapitel 44
Kevin und Philip
Der dritte Tag begann fürchterlich. Die Muskeln ihrer Beine schmerzten, die Schultern Kevins auch. Leichter Nieselregen hatte eingesetzt.
Außerdem beschlich Kevin das Gefühl, sein Sohn hätte in den letzten Tagen zu wenig Ruhe und Zeit für sich gehabt.
Schwester Alba sah die mürrischen Gesichter, wusste Bescheid.
„Na? Hat euch der Blues erwischt?" fragte sie lachend.
Kevin streckte die schmerzenden Beine, lächelte gequält.
„Das kenne ich schon! Das Dritte-Tag-Syndrom! Man ist angekommen, hat zwei Tage durchgehalten, fragt sich, wie soll ich das noch fast einen Monat durchhalten und wozu? Ich habe mir schon so viel bewiesen! Viele brechen zu diesem Zeitpunkt ab. Wer den dritten Tag übersteht, hält meistens durch!" erklärte die Nonne.
Philip hatte ihre Worte gehört und auch verstanden. Er griff nach der Hand seines Papas. „Das schaffen wir schon, oder?"
Kevin ging vor dem Kleinen in die Hocke. „Aber wird es dir nicht zu unruhig, zu schwierig für deinen Kopf?" fragte er geradeheraus.
„Nur ein wenig!" gestand der Junge. „Aber ich kann mich ja mal eine Stunde ins Zimmer setzen, etwas lesen oder auf dem Handy was suchen!"
„Okay! Du musst mich aber daran erinnern! Manchmal bin ich ein ziemlich dummer Papa!" forderte Kevin seinen Sohn auf.
Philip lachte. „Never!" knallte er seinem Papa hin.
Danach ließen sie sich das kräftige Frühstück schmecken, packten den großen und den winzig kleinen Rucksack, machten sich auf den Weg.
Die ersten Schritte brachten sie an die Grenze ihrer Belastbarkeit. Selten hatte Kevin einen solchen Muskelkater gehabt, Philip kannte das gar nicht!
Doch sie liefen sich warm, und zum Lohn für ihre Mühen brach gegen Mittag die Sonne durch. Sie konnten die Regenkleidung wegpacken, der schlimmste Anstieg war geschafft, es ging relativ eben dahin. Kevin ließ Philip in Ruhe, spürte, dass der Sohn seinen eigenen Gedanken nachhing.
„Hast du Kathi noch lieb?" fragte der Kleine plötzlich.
Kevin lächelte vor sich hin. „Ja!" sagte er nur.
„Gut!" antwortete Philip.
Eine Weile gingen sie schweigend weiter.
„Warum fragst du?" wollte Kevin wissen.
„Nur so!" Philip sah seinen Vater an. „Also, ich will nicht, dass du sie vergisst!"
Kevin verwuschelte dem Kleinen die Haare. „So schnell geht das nicht!" versicherte er.
Philip war erleichtert. Sein Plan musste gelingen!
Gruppen schlossen wieder zu ihnen auf. Zwei Mädchen aus Deutschland blieben bei ihnen. Der hübsche Papa gefiel ihnen beiden, der Sohn war ja so süß!
Doch sie waren laut, kicherten andauernd, Philip wurde immer nervöser. Kevin reagierte umgehend.
„Wir machen eine Pause!" sagte er bestimmend.
„Okay! Super!" trällerte die Blonde.
„Nein! Ich meine, wir machen eine Pause! Mein Sohn und ich! Ihr geht weiter! Bitte!" Die Brünette sah ihn enttäuscht an.
Da half Philip ihm aus der Bredouille. „Wisst ihr, ich bin ein wenig autistisch. Ich brauche viel Ruhe!"
Die Mädels sahen die Jungs verwundert an.
„Echt jetzt?" fragte die Blonde.
Philip nickte. „Echt!" versicherte er.
„Na dann! Man sieht sich!" Die beiden zogen davon.
Kevin sah den Kleinen bewundernd an. Er hatte Kathi einmal gefragt, ob sein Sohn ein normales Leben führen konnte. Heute wusste er, dass er das schaffen würde. Er ging vollkommen locker mit dieser kleinen Einschränkung um, hatte sie akzeptiert und verstanden.
Schweigend gingen sie weiter, genossen die ersten Sonnenstrahlen seit Tagen, genossen die Landschaft, die Berge, die nun schon beinahe hinter ihnen lagen.
Kevin bewunderte die Ausdauer des Sechsjährigen.
Einmal sagte Philip: „Meine Muskelkatze ist weg!"
Kevin schmunzelte. Er hätte ihn verbessern können, aber warum?
Wenn alle anderen Menschen einen Muskelkater hatten, hatte sein Sohn eben eine Muskelkatze. Weil er ein wenig anders war als die anderen Menschen!
Weil er viel besser war als die anderen Menschen!
„Morgen müssten wir das Meer sehen!" sagte Kevin dann.
„Warst du schon einmal am Meer?" fragte Philip.
„Nein! Ich war noch nirgendwo außer in Regensburg!" gestand Kevin ein.
„Kathi war schon ganz viel woanders!" berichtete Philip. Sie hatte ihm oft von anderen Ländern erzählt, in denen sie mit ihren Eltern war.
„Ich weiß!" antwortete Kevin, und die Wunde klaffte wieder ein wenig auf. Aber wenigstens blieben seine Augen trocken.
Sie hatten so viele Pläne gemacht, wo sie hinreisen würden. In den Semesterferien, oder, wenn er fertig war.
Er hatte sich nicht im Geringsten minderwertig gefühlt, weil er von der Welt noch nichts gesehen hatte.
Sie hatte ihm nie einen Grund dafür gegeben.
Sie hatte ihn nie spüren lassen, dass sie Geld hatte und er nicht.
Das war nie ein Thema bei ihnen gewesen.
Sie hatte ihn geliebt, so wie er war.
Plötzlich stockte er.
Geliebt?
Sie hatte es nie ausgesprochen, aber ja! Doch! Er war sich sicher gewesen!
Hatte es doch gefühlt!
Warum hätte sie denn diese drei abgedroschenen Worte aussprechen sollen?
Er hatte sie auch nie eingefordert, hatte nie gefragt: „Liebst du mich?"
So wenig, wie sie ihn.
Es war eine Tatsache gewesen!
Für ihn zumindest.
Er liebte sie, sie liebte ihn, sie waren ein Liebespaar, ein glückliches Liebespaar!
Bis er alles in den Sand gesetzt hatte!
Bis sie ihn nichts erklären ließ.
Bis sie gesagt hatte: „Meinen Schlüssel, bitte!"
Bis seine Welt zusammengebrochen war!
Philip sah ihn aufmerksam an. Der Papa war wieder traurig.
Der Papa hatte Kathi noch sehr lieb, das spürte er.
Und das war gut so!
Er durfte sie nicht vergessen!
An ihrem Ziel kamen sie ziemlich frisch an. Die Schlange am Stempelpunkt war kurz.
Verdammt! dachte er, obwohl Papa ihm gesagt hatte, dass man verdammt nicht sagen durfte.
Aber er hatte es ja nur gedacht!
Dieses Mal war ihr Schlafplatz in einem Männerkloster, doch die Fratres waren so freundlich wie die Nonnen.
Das Zimmer war groß und hübsch eingerichtet. In Philips Kopf überschlugen sich die Gedanken, aber das hatte nichts mit dem Autismus zu tun. Er wusste nicht, wie er an eine Karte kommen sollte.
Sich davonschleichen, während Papa duschte?
Zu gefährlich!
Dann spielte ihm das Schicksal zu. „Ich gehe heute alleine in den Ort! Du ruhst dich ein wenig aus, ja?" schlug Papa vor.
„Gut!" antwortete Philip bereitwillig.
Papa ging, er konnte ihn vom Fenster aus sehen.
Dann sauste er schnell aus dem großen Bau. Er hatte einen Kiosk neben dem Kloster gesehen. Er kaufte eine Karte, bekam wegen seines treuherzigen Blickes wieder die Marke umsonst, schrieb in Windeseile den Text und die Adresse.
Liebe Kathi
Heute haben uns die Beine weh getan.
Es hat auch wieder geregnet, aber nicht so fest.
Dann hat die Sonne geschienen.
Das war schön.
Zwei Mädchen sind mit uns gegangen.
Ich habe sie weggeschickt.
Morgen sehen wir das Meer, hat Papa gesagt.
Wir haben dich lieb.
Philip
Er hatte so viel zu erzählen gehabt, dass er ganz klein schreiben musste.
Schon lange lag er wieder auf dem Bett, als Papa zurück kam.
„Hast du die Kerzen angezündet?" fragte er.
„Natürlich!" antwortetet Kevin und küsste seinen Sohn auf die Wange. Er sah ganz erholt aus, was ihn froh und glücklich machte.
Er hatte eine Kerze mehr vor dem Altar der Heiligen Katharina angezündet, hatte sich erinnert, hatte die Heilige um Unterstützung angefleht. Geweint hatte er nur ganz wenig.
Irgendwie fühlte er sich von Tag zu Tag getrösteter.
Irgendwie wuchs von Tag zu Tag die Hoffnung.
Irgendwie wurde er von Tag zu Tag sicherer, dass eine solche Liebe, wie die von ihnen beiden sich nicht einfach auflösen konnte!
Verschwinden konnte!
Ausgelöscht werden konnte!
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top