Kapitel 43
Kathi
Max blieb bis nach Mitternacht bei Kathi. Sie quatschten über die Liebe, die Medizin, das Weltgeschehen, leerten eine Flasche Wein dabei. Sie bestellten sich Essen beim Chinesen, lachten zusammen, heulten dann ein bisschen.
Kathi hatte zum ersten Mal das Gefühl, einen besten Freund gefunden zu haben, der nichts mit ihrem Job und mit ihren Eltern zu tun hatte.
Als er gegangen war, kam die Leere wieder zurück. Der Alkohol hatte sie aber auch ein wenig mutig gemacht, sie wählte mit klopfendem Herzen Kevins Nummer.
Doch wieder nichts außer der Meldung vom Band: „Der Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar."
Fast war sie aber auch erleichtert!
Was hätte sie ihm sagen können?
Wahrscheinlich hätte sie nach Philip gefragt.
Aber wenn er gesagt hätte: „Ruf nicht mehr an! Es gibt eine neue Frau in meinem Leben, die auch mein Sohn sehr mag!"
Dann wäre alles verloren.
Und die Gefahr bestand, darüber war sie sich durchaus klar. Er war selbstbewusst geworden, sah umwerfend aus, studierte Medizin!
Die Frauen würden ihm in Scharen nachlaufen!
Da konnten Pascal oder Max sie zu beruhigen versuchen, so lange sie wollten!
Die Tränen liefen wieder, sie konnte nichts dagegen tun.
Es tat so verdammt weh! Die Wunde in ihrem Herzen heilte nicht, sie klaffte jeden Tag weiter auseinander.
Ein paar Tage später läutete es an ihrer Türe. Sie sah auf den Bildschirm, erkannte Josie kaum. Sie war offensichtlich betrunken oder high oder beides.
„Was willst du?" rief sie in den Hörer der Sprechanlage.
„Kevin sprechen! Mach auf, du Bitch!" schrie die andere zurück, dann kippte sie offensichtlich um.
Gut so! dachte die Frau.
Doch die Ärztin raste die vier Treppen hinunter.
Zum Glück war das Mädchen bei Bewusstsein, klammerte sich an Kathis Arm.
„Kevin muss mir helfen! Du musst mir helfen! Ich kann nicht mehr!" flüsterte sie wirr.
„Kevin wird einen Scheiß tun! Aber ich muss ja wohl wirklich!" Kathi fasste die junge Frau untern den Achseln, zog sie hoch, führte und schleppte sie in ihre Wohnung, legte sie auf das Sofa.
„Ich rufe jetzt einen Notarzt!" erklärte sie bestimmt.
„Nein!" Josie fuhr hoch. „Keinen Arzt! Du!"
Kathi sah sie entnervt an. „Ich bin Kinderärztin!"
„Egal!" bekam sie zur Antwort.
Also maß Kathi Blutdruck und Puls, beides war viel zu hoch!
„Was hast du eingeworfen?" fragte sie.
„Von allem ein bisschen!" Josie kicherte. Sie schien wieder klarer zu werden.
„Hast du das öfter? Ich meine, so einen Zusammenbruch?" wollte Kathi wissen.
„Immer, dann nicht, dann wieder!" lallte Josie.
„Ja, was jetzt?" Kathi war etwas überfordert. Sie dachte nach. Sie würde Max anrufen!
Eine halbe Stunde später, Kathi hatte Josie inzwischen mit Wasser abgefüllt, hatte sie zum Übergeben gebracht, hatte ihr frische Kleidung von ihr gegeben, die um das Klappergestell herumflatterten, kam Max angerast.
„Was will der denn da? Ich will zu Kevin!" schrie Josie und schlug nach Max.
„Halt die Klappe!" schrie Kathi zurück. „Kevin wirst du nie bekommen! Der gehört zu mir!
Josie lachte gemein. „Zu dir? Zur Frau Dr. Dr.? Vergiss es! Ich verstehe ihn, weil ich ein Scheißleben gehabt habe wie er. Nimm du das reiche Söhnchen hier! Das passt doch!"
Kathi sah sie verständnislos an. Hatte Kevin diesem Weib sein Leben erzählt? Das konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen!
„Was weißt du denn von Kevin!" fuhr Kathi sie an.
„Das wüsstest du jetzt gerne, Bitch! Oder?" keifte Josie.
„Hör auf sie so zu nennen!" fuhr Max sie an. „Sie hat dir geholfen! Sie hätte dich ja auch liegen lassen können!"
„Kann sie nicht! Sie ist eine Frau Doktor! Sie muss helfen!" Wieder kicherte sie dümmlich.
Kathi hatte das Gefühl, ihr platzte der Kopf. In was für einen Albtraum war sie da hineingeraten?
Sie musste jetzt unbedingt erfahren, wann Kevin sich der anderen so geöffnet hatte.
War es in dieser Nacht gewesen?
Warum hatte er das getan?
Warum war er nicht zu ihr nach Hause gekommen?
Er hatte doch immer über alles mit ihr sprechen können!
„Jetzt sag schon, wieso du über Kevin Bescheid weißt! Sonst rufe ich den Notarzt, damit ich dich losbekomme!" drohte sie.
Josie spürte, dass die Ärztin Ernst machen würde. „Ich bin im selben Viertel aufgewachsen wie er, hab die gleiche Scheiße gefressen. Er war mein Held! Er würde es schaffen! Dann hat er dieses Weib geschwängert, und ich habe beschlossen, dass ich ihn retten muss. Ich habe gebüffelt, eine Sozialarbeiterin hat mir geholfen, dass ich aufs Gymnasium gehen konnte. Aber zu Hause war immer nur Trouble, da konnte ich mich nicht konzentrieren. Dustin und Justin haben mir dann Pillen gegeben, ich habe mit meinem Körper dafür bezahlt!"
Ihr Blick schweifte während ihrer langen, monotonen Rede immer weiter ab. „Und dann bin ich zu spät gekommen! Du hattest ihn dir schon gekrallt! Aber ich bekomme ihn zurück!"
In Kathis Kopf hatte nichts mehr Platz. Nur dieser Satz: „Ich habe mit meinem Körper dafür bezahlt!"
„Wie alt warst du, als Dustin und Justin sich an dir vergangen haben?" fragte sie.
Josie sah sie verständnislos an. „Vergangen? Ich hab das doch freiwillig gemacht!"
„Wie alt warst du?" wiederholte Kathi.
„Zwölf beim ersten Mal!" räumte Josie schließlich ein.
„Und wie lange ging das?"
„Bis sie in den Knast gegangen sind!" Josie tat sehr unbeteiligt. „Da saßen wir im Viertel auf dem Trockenen, das war hart. Aber jetzt hat Mary das Geschäft wieder aufgenommen!"
Kathi atmete tief durch. Das konnte doch alles nicht wahr sein! Hatte das Mistvieh womöglich das Geld, das Kevin ihr gebracht hatte, in Drogenankäufe investiert? Das würde ihn fertig machen!
„Und Selina?" fragte sie nach.
Josie lachte. „Das kleine Monster? Die ist ihr Alibi! Keiner vermutet ja hinter einer Mutter auf dem Spielplatz eine Dealerin."
Max ging wie getrieben auf und ab.
Dann konnte er sich nicht mehr zurückhalten. Er ließ sich neben ihr aufs Sofa fallen und schüttelte sie leicht. „Josie! Wach auf! Das ist kein Spaß! Schau doch dich an, was der Dreck aus dir gemacht hat!"
„Was geht's dich an? Du bist mit dem goldenen Löffel geboren, genau wie die da!" Sie deutete abfällig auf Kathi.
„Und das macht uns zu schlechten Menschen und dich, das ewige Opfer, zu einem besseren?" rief er aufgebracht.
„Ich bin kein Opfer!" schrie sie ihn an, war mittlerweile wieder ziemlich klar.
„Du bist kein Opfer?" Er schüttelte aufgebracht den Kopf. „Du hast mit zwölf mit schmierigen Typen geschlafen, um an Drogen zu kommen? Und du bist kein Opfer?"
Er begann wieder auf und ab zu rennen. „Du scheinst intelligent zu sein, sonst hättest du den Numerus Claus für Medizin nicht geschafft! Begreifst du denn nicht, was für Chancen du hättest? Wie liebenswert du bist? Wie ich dich lieben könnte, du blöde Kuh?" Er hatte sich so in Rage geredet, dass diese Liebeserklärung unbeabsichtigt über seine Lippen gekommen war.
Josie sah ihn mit offenem Mund an. Einen Moment lang hatte es ihr die Sprache verschlagen.
Dann stotterte sie los: „Wie? Was? Was hast du gesagt? Ein Junge wie du und ein Mädchen wie ich? Warum?"
„Warum!" Er raufte sich die Haare. „Warum! Meinst du, ich habe mich das nichts schon selbst mehr als einmal gefragt? Du bist boshaft, frech, uneinsichtig! Du bist eigentlich kaputt! Aber manchmal sehe ich auch etwas in deinen Augen, das ich gerne öfter dort sehen würde. Die echte Josie! Und was du vielleicht nicht weißt: Liebe fragt nicht nach dem Bankkonto! Hat sie bei Kathi und Kevin auch nicht gemacht!"
Da begannen bei Josie die Tränen zu laufen. Sie heulte, bis sie kaum noch Luft bekam. Max stand anfangs etwas hilflos daneben, dann setzte er sich zu ihr, nahm sie in die Arme, wiegte sie wie ein Kind, ließ sie weinen, gab ihr ein Taschentuch mit eingesticktem Familienwappen, was sie eine Sekunde lang lächeln ließ.
„Snob!" flüsterte sie, bevor die Flut von Neuem begann.
„Aber ein netter Snob!" antwortete er. Da war es wieder gewesen. Da war eben die echte Josie wieder durchgeblitzt.
Kathie zog sich zurück, ließ die beiden alleine.
Was sie von dem Mädchen gehört hatte, hatte sie tief erschüttert.
Was sollte sie tun?
Wenn nur Kevin zu erreichen wäre!
Sie konnte nichts unternehmen, über seinen Kopf hinweg!
Oder?
Würde er gutheißen, wenn sie gegen Mary und seine Brüder etwas unternahm?
Sie würde die Entscheidung vertagen. Heute konnte ihr Gehirn nicht noch mehr leisten.
Sie war am Limit.
Doch was sollte sie mit den Gästen machen?
Sie ging zurück, brachte Josie ein Nachthemd, Max einen Pyjama von Kevin, den er nie getragen hatte.
Sie hatten nie etwas im Bett getragen, außer wenn Philip in der Wohnung war. „Ich bin ein Faulpelz, das weißt du!" hatte er sie aufgezogen. „Erst anziehen und gleich wieder ausziehen, ist doch Blödsinn!"
Wie hatte sie damals lachen müssen über sein freches Mundwerk, das sie so geliebt hatte!
Geliebt, wie so vieles an ihm!
Wie alles an ihm!
Warum war es dann zu Ende gegangen?
„Da habt ihr was für die Nacht!" erklärte sie Max und Josie müde. „Zahnbürsten und Handtücher sind im Badschrank. Da drüben ist Philips Zimmer, einer kann auf dem Sofa schlafen!"
Josie sah sie verheult an. „Warum machst du das?"
„Ich habe ein unheilbares Helfersyndrom!" erklärte sie und ging schlafen.
Sie hörte die beiden miteinander reden. Immer wieder brüllte Josie los. Sie steckte die Stöpsel ihres I-Pods in die Ohren, drehte die Musik auf ziemlich leise.
Eigentlich war es ja Kevins Gerät, aber er konnte die Dinger nicht in den Ohren leiden.
Wieder einmal wunderte sie sich über seine Musikauswahl. Sanfte Lovesongs, lyrische Texte, ruhige Melodien. Mit seinen Liedern schlief sie ein.
Am nächsten Morgen musste sie zum Dienst. Die beiden schliefen noch, Max auf dem Sofa, Josie in Philips Zimmer. Sie legte den Schlüssel, den sie von Kevin zurückgefordert hatte mit einem Zettel auf den Küchentresen.
„Schmeiß ihn einfach in den Briefkasten! Ihr könnt aber auch bleiben, wenn ihr noch reden müsst. Bedient euch aus dem Kühlschrank!" schrieb sie.
Sie erinnerte sich schmerzhaft an die Szene im Gericht.
Noch immer sah sie den fassungslosen Blick Kevins, noch immer hörte sie sein: „Bitte Kathi!"
Noch immer hörte sie Philips Schrei.
Heute würde sie anders entscheiden!
Wieder einmal kam sie mit verheulten Augen in der Klinik an. Doch bald vergaß sie ihr Elend. Die Kinder brauchten sie, die Eltern vertrauten ihr.
Das war ein erfüllendes Gefühl.
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