Kapitel 42
Kathi
Kathi saß mit Max auf dem Balkon ihrer Wohnung, das Lachen fröhlicher Menschen drang zu ihnen hinauf.
„Erzähl mir von der Frau, die dein Herz gebrochen hat!" forderte sie ihn auf.
Er nahm einen Schluck Wein, sah in den Sternenhimmel.
„Jenny!" begann er. „Wir waren zwei Jahre zusammen. Sie war meine Welt, mein Universum, meine Vergangenheit und meine Zukunft. Mein Leben! Wir hatten Pläne über Pläne, was wir nach dem Studium machen würden. Meine Mutter war immer gegen sie, ich habe sie immer verteidigt! Du bist zu jung, um dich so fest zu binden! hatte sie gesagt. Genieße dein Leben! Irgendetwas stimmt mit dem Mädchen nicht! Ich habe das alles als mütterliche Eifersucht angesehen. Ich komme aus einem vermögenden Elternhaus, habe ihr alles gekauft, was sie haben wollte. Klamotten ohne Ende, Schmuck, zum 18. Geburtstag ein Auto. Wir hatten eine eigene Wohnung, alles war perfekt! Zwei Tage nach dem Abi hat sie mir eröffnet, dass sie einen Studienplatz in Cambridge ergattert hatte, am nächsten Tag war sie weg - und ich habe nie wieder einen Ton von ihr gehört!"
Kathi holte tief Luft. Das war aber auch eine Story!
„Und warum danach gerade Josefine?" fragte sie.
Max sah sie offen an. „Ich weiß nicht? Irgendetwas an ihr hat mich berührt! Sie hat die Lustige, die Taffe nur gespielt! Etwas oder jemand hat sie verletzt wie mich Jenny! Sie ist skrupellos, aber ich glaube, dass sie so geworden ist, weil sie leidet!"
Kevin und Philip
Die Landung war etwas holperig, doch Philip vertraute auf seinen Papa. Der würde nichts machen, was schlecht für ihn war. Der Bus brachte sie dann zum Ausgangspunkt ihres Abenteuers.
Der erste Tag war der reine Horror.
Es schüttete aus Kübeln, ein eiskalter Wind trieb den Regen vor sich her, genau in ihre Richtung.
Kevin verpackte seinen Sohn wasserdicht, er sah aus wie ein Michelin-Männchen.
Dann schlüpfte auch er in die Regenkleidung, und sie stapften los.
„Du sagst mir bitte, wenn es irgendwo feucht durchgeht, ja?" bat Kevin. „Nicht, dass du mir krank wirst!"
„Ich werde doch nie krank!" antwortete Philip.
Kevin dachte nach. Das stimmte eigentlich! Auch er konnte sich nicht erinnern, jemals eine Erkältung gehabt zu haben.
Selina dagegen hustete und schnupfte eigentlich den ganze Winter durch.
Hatte es doch etwas gebracht, dass er so auf eine gesunde Ernährung geachtet hatte. Immer brachte er Obst und Gemüse mit nach Hause, das der Kleine brav aß.
Selina dagegen ernährte sich praktisch nur von Fast-Food, Chips und Cola – da konnte er reden , was er wollte.
Dustin lachte ihn immer aus, wenn er seine Vorträge begann. „Ah! Der Herr Doktor! Hört! Hört!"
Irgendwie tat ihm das Mädchen auch leid. Wie würde ihr Leben verlaufen? Würde sie eine Chance bekommen, den Absprung zu schaffen?
Fünf Kilometer weit machten sie gutes Tempo, dann wurde Philip langsamer.
Es war aber auch eine schlimme Strecke. Nur bergauf!
Und das bei diesem Sauwetter.
Kevin setzte den Kleinen auf seine Schultern, was ihn aber auch an die Grenzen seiner körperlichen Fähigkeiten brachte.
Rucksack, Sohn – und der steile Anstieg!
Was für eine Schnapsidee war das denn gewesen?
Sie machten immer wieder Rast, kauften sich an einer Bude einen Teller heiße Suppe. Pilgergruppen überholten sie, sahen seinen Sohn mitleidig an.
Wie verrückt war dieser Vater denn? dachten sie wohl.
Philip bemerkte diese Blicke.
Mitleid!
Das kannte er gut!
Der Behinderte!
Der arme Junge!
Er hasste das.
Stolz reckte er seinen Kopf. „Auf geht es!" kommandierte er seinen Vater. „Nicht schlapp machen!"
Lachend zogen sie weiter, schafften Kilometer um Kilometer.
Kevin trug den Sohn immer wieder ein kurzes Stück, dann ging er wieder eine Stecke allein. Fünf Kilometer vor dem ersten Tagesziel rückte eine Gruppe von italienischen Pilgern auf, hatten eine Art Bollerwagen dabei.
Palavernd hielten sie an, verteilten das Gepäck an die Männer und Frauen, erklärten Kevin, dass der Kleine in den Wagen sollte.
Er antwortete perfekt in der Sprache der freundlichen Leute, was für ein großes Hallo sorgte.
Philip ließ sich strahlend verpacken, schlief fast augenblicklich ein.
„Wollt ihr die ganze Strecke laufen?" fragte einer der Italiener.
„So weit wir kommen!" antwortete Kevin. „Wenn wir es schaffen, ja!"
„Ihr schafft das!" antwortete Giovanni. „Ihr habt Biss! Du und der Kleine auch!"
Angelina ging eine Weile neben Kevin. „Warum seid ihr hier?"
„Ich muss die Liebe meines Lebens vergessen, und wenn das nicht klappt, was ich vermute, muss ich Kraft für den Kampf um sie tanken!"
Die Frau schmunzelte.
„Und ihr?" fragte Kevin.
Ihre Augen wurden traurig. „Wir sind eine Familie. Brüder, Schwestern, Schwägerinnen, Schwager. Laura, die vierjährige Tochter von Pietro hat Leukämie. Sie braucht Stammzellen, aber niemand von uns allen kommt als Spender in Frage. Gott hat uns hier hergeschickt, dann wird er uns helfen! Das hat er Sophia in einem Traum versprochen."
Kevin merkte, wie seine eigenen Sorgen ganz klein wurden. Ein todkrankes Kind zu haben war so viel schlimmer!
Dann hatten sie auch schon ihr erstes Ziel erreicht. Die Gruppe zog weiter, sie mussten noch zehn Kilometer schaffen, die Zeit drängte. Herzlich verabschiedeten sie sich voneinander, wünschten sich alles Glück der Welt.
Philip war vollkommen fit, sie suchten das Kloster, in dem Kevin sie für die Nacht angemeldet hatte.
Die Nonne an der Pforte freute sich über den netten Anblick des jungen Mannes, so etwas Hübsches bekamen sie nicht oft zu sehen. Und dann auch noch der süße Junge, der sie auf Spanisch begrüßte.
Ihre Mitschwester führte die beiden in das beste Zimmer, gab ihnen weiche duftende Handtücher.
„In einer Stunde gibt es Abendessen. Ich hole euch dann ab!" erklärte Schwester Carolina.
Sie schälten sich aus den nassen Klamotten, wickelten sich in die riesigen Tücher. Das warme Wasser weckte ihre Lebensgeister wieder.
Kevin hängte die feuchten Sachen auf, wusch die Wäsche schnell durch.
Da klopfte es auch schon an der Türe. Schwester Carolina schnappte sich wie selbstverständlich die Kleidungsstücke. „Ich stecke alles in den Trockner! Nach dem Essen ist es fertig!" versprach sie.
Sie ließen sich die kräftige Hühnerbrühe und den Eintopf mit reichlich Fleisch und Gemüse schmecken. Zum Nachtisch gab es frisches Obst, das hatte auch noch Platz.
Schwester Carolina fragte, ob sie Blasen hätten, die versorgt werden mussten, aber zum Glück hatten sie nur ein paar Druckstellen. Sie brachte die getrocknete Kleidung, dann fielen Vater und Sohn in den Tiefschlaf der Erschöpfung.
Am zweiten Tag hatte es zum Glück aufgehört zu regnen, es war nur noch kalt.
Dick eingepackt gingen sie nach einem kräftigen Frühstück durch das Städtchen.
Kevin kaufte Proviant und Wasser für den Tag.
Philip sah sich die Postkarten an. In seinem Kopf entstand ein Plan, von dem aber der Papa nichts wissen durfte.
Sie suchten die Kirche, zündeten zwei Kerzen an. „Eine für Kathi und eine für die kranke Laura!" bestimmte Philip. Sein Vater hatte ihm kurz erklärt, warum die netten Italiener sich auf den beschwerlichen Weg gemacht hatten.
Gegen zehn Uhr marschierten sie los. Das Laufen ohne Regenbekleidung war viel angenehmer, sie kamen überraschend gut voran. Kevin war stolz auf den Kleinen neben sich. Er war schon hart im Nehmen!
An diesem Tag ging es endlich auch einmal bergab und ein ganzes Stück eben dahin. Sie konnten sich Zeit lassen, machten Pausen, sangen ein Lied, das sie für Kathis CD geübt hatten.
„Sie hört uns vielleicht! Im Herzen!" sagte Philip.
Kevin schluckte die Tränen hinunter. Er hatte sich vorgenommen, die Heulerei auf dieser Reise ins Ungewisse sein zu lassen.
Diese Zeit gehörte ihm und seinem Sohn!
„Möglich!" sagte er leise.
Andere Pilger schlossen sich ihnen an, begleiteten sie ein Stück, zogen weiter. Alle waren fröhlich, alle waren nett zu ihnen.
An diesem Tag ging Philip die ganze Strecke, Kevin musste ihn nicht einen Meter tragen.
Am späten Nachmittag erreichten sie die zweite Etappe. Während Kevin sich in die Schlange einreihte, um den Pilgerstempel zu bekommen, setzte Philip seinen Plan in die Tat um. Er hatte ein wenig Angst, weil er dem Papa nicht gesagt hatte, dass er kurz wegmusste.
Aber die Schlange war lang, und er würde schnell wieder da sein.
Er flitzte zu einem Laden, schnappte sie eine Ansichtskarte, ging zur Kasse. Opa Albert hatte ihm fünfzig Euro zugesteckt, als Taschengeld.
Er rechnete schnell. Eine Karte kostete 2 Euro, dann konnte er 25 Mal eine Karte kaufen.
Der Verkäufer lächelte ihn an. „Willst du die wegschicken?" Das verstand der Kleine so ziemlich auf Spanisch.
Philip nickte. „Nach 93049 Regensburg, Wahlenstraße 5!" antwortete er. Er hatte sich die Adresse sehr genau gemerkt.
„Dann brauchst du aber eine Briemarke!" erklärte der Mann. Das verstand er jetzt nicht!
Der nette Verkäufer klebte das Porto auf. „Ich schenke sie dir!"
Das verstand er jetzt wieder. „Gracias!" sagte er, schenkte dem netten Verkäufer einen strahlenden Blick. Den hatte er schon fast so gut drauf wie sein Vater.
Schnell schrieb er die Adresse, dann den Text. Ein Kugelschreiber lag auf der Theke.
Liebe Kathi!
Papa und ich wandern.
Ganz weit, ganz lang.
Wir sind noch in Frankreich, bald dann in Spanien.
Gestern hat es geregnet, das war scheußlich. Heute ist es nur kalt.
Wir haben dich lieb!
Philip.
Er sah sich nach einem Briefkasten um. Der nette Mann erklärte ihm, dass er die Karte für ihn einwerfen würde.
„Sicher?" fragte Philip misstrauisch.
Der Mann legte die Hand auf sein Herz, und der Kleine vertraute ihm.
Schnell sauste er um die Ecke. Zu Glück stand Papa noch immer in der Schlange.
„Wo warst du denn?" fragte Kevin. „Ich habe dich gar nicht mehr gesehen!"
Und zum ersten Mal schwindelte der Sohn den Vater an, hatte aber überhaupt kein schlechtes Gewissen dabei. „Ich bin da drüben gesessen. Ich hab dich die ganze Zeit gesehen!"
Im Kloster – Schwester Carolina hatte ihnen ein Zimmer vorbestellt, hatte Albina gebeten, das auch so für die beiden zu machen – wurden sie genauso herzlich aufgenommen wie am Vortag. Nach der herrlichen Dusche und einem ebenso herrlichen Essen hatten sie sogar noch Kraft, durch den Ort zu bummeln.
Kevin besorgte zwei Garnituren Wäsche, Proviant für den nächsten Tag.
Philip machte ein Selfie von ihnen, schickte es an Opa Albert und Oma Angelika. Er war echt fit in diesen Dingen! Kevin konnte nur staunen.
Sie erledigten auch noch die „Kerzenpflicht" in der schönen Dorfkirche, sahen sich die Heiligenbilder an.
„Philipos! Das bin ich!" freute sich der Kleine, blieb etwas länger an dem kleinen Seitenaltar stehen, bat den Namenspatron, dass er ihm bei seinem Plan helfen sollte.
Glücklich und zufrieden gingen sie in ihr Zimmer zurück, fanden die Sachen, die sie getragen hatten und die schon noch einen Tag getaugt hätten, frisch gewaschen vor.
Philip schlief mit einem Lächeln auf den Lippen ein. Heute bin ich schlau gewesen! dachte er noch kurz.
Kevin betrachtete seinen Sohn voller Liebe. Die zwei Tage hatte er toll gemeistert. Er wusste, dass die weiteren nicht leicht werden würden, die Hitze würden sie vielleicht nicht ertragen können.
Aber sie hatten diese beiden Tage, die ihnen niemand mehr wegnehmen konnte.
Und wenn noch einer dazu kam, und vielleicht noch ein weiterer, hatten sie viel für ihre gemeinsame Zukunft geschafft.
Ein Vater und ein Sohn!
Seine Gedanken schweiften ab. Was wohl aus ihm geworden wäre, wenn er seinen richtigen Vater gekannt hätte?
Wenn er mit ihm gewandert wäre, Herausforderungen gemeistert hätte?
Wenn sie Zeit mit einander verbracht hätten?
Wusste sein Vater, dass es ihn gab?
Warum hatte die Mutter Herrmann nicht verlassen, als er unterwegs war?
Wollte der Vater ihn nicht?
Wollte der Angelika nicht?
Es wäre wohl wirklich besser, wenn er nicht erfahren würde, wer es war.
Womöglich hatte er seine Mutter zu überreden versucht, ihn abzutreiben!
Dann gingen seine Gedanken und seine Sehnsucht natürlich zu Kathi, seiner Kathi!
Der Schmerz war nicht mehr so heiß, so brennend.
Die Verzweiflung war nicht mehr so abgrundtief wie zu Hause, war der Hoffnung gewichen.
Mit diesem tröstlichen Gedanken schlief er auch ein, nahm die Erinnerung an die so wunderschöne Zeit mit ihr mit in seine Träume.
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