Kapitel 39
Ein neuer Weg I
Kevin und Philip
Als sich Kevin aus dem vollkommen verschwitzten und
zerwühlten Bett befreite, um auf die Toilette zu gehen, sah er auf dem Boden hinter der Türe ein Blatt liegen. Jemand musste es durchgeschoben haben.
Er hob es auf, sah, dass es ein Computerausdruck war.
Für meinen Papa las er.
Er ließ sich aufs Bett sinken, versuchte durch den Tränenschleier die Worte zu erkennen.
Kathi hat einmal gesagt, dass ich euch immer sagen muss,
wenn mir etwas Angst macht.
Reden kann ich zur Zeit nicht.
In meinem Kopf ist wieder alles so durcheinander,
dass die Worte nicht aus meinem Mund kommen.
Aber schreiben kann ich.
Deshalb schreibe ich dir, dass ich Angst habe.
Kathi ist weg.
Mein Papa ist auch weg.
Komm bitte zu mir zurück, damit die Angst wieder weggeht.
Ich brauche dich.
Ich bin doch noch klein.
Dann finden wir auch Kathi.
Dann wird alles wieder gut.
Philip, der dich lieb hat.
Kevin starrte das Blatt minutenlang an.
Was hatte er getan?
Er hatte seinen Sohn alleine gelassen!
Er war im Schmerz versunken und hatte sein Kind vergessen.
Er hatte ihm Angst gemacht!
So sehr, dass er nicht mehr sprechen konnte!
Was für eine Memme er doch war!
Das war viel schlimmer als das, was er Kathi angetan hatte.
Er stand auf, taumelte etwas, dann ging er ins Bad und duschte, zog seine besten Klamotten an, lüftete sein Zimmer.
Anschießend machte er sich ein paar Brote, die er heißhungrig verschlang.
Das Leben hatte ihn wieder, sein Sohn hatte ihn zurückgeholt.
Da hörte er, wie die Türe aufgeschlossen wurde. Philip stampfte herein, sah ihn ungläubig an und flog in seine Arme. „Papa!" sagte er leise, als würde er seine Stimme prüfen müssen.
Dann rief er dem Mann zu, der in den letzten Tagen für ihn gesorgt hatte. „Opa Albert! Papa ist wieder da!"
Albert zog sich zurück, wusste, Vater und Sohn brauchten sich, brauchten auch etwas Zeit miteinander.
„Danke für deinen schönen Brief!" stieß Kevin hervor und schluckte die Tränen hinunter. Er hatte genug geheult!
Philip nickte und strahlte ihn an. Er hatte es gut gemacht! Sein Brief hatte Papa zurückgebracht.
„Wollen wir beide ein bisschen in den Park gehen?" Kevin lechzte nach frischer Luft.
Sein Sohn nickte, was Kevin ins Herz schnitt. Er war eine solche Plaudertasche geworden, jetzt war er wieder verstummt!
Und er war schuld daran.
Sie fuhren mit dem Bus in die Stadt wie in alten Zeiten. Sein Auto stand wohl noch immer an der Uni, er hatte es total vergessen gehabt. War ganz gedankenverloren immer mit dem Bus gefahren! Hoffentlich war es nicht abgeschleppt worden!
Sie liefen die geschotterten Wege entlang, hielten sich an den Händen.
Sie sprachen nicht, das war auch nicht nötig.
Sie hatten sich wieder!
Da kamen sie an der Schottenkirche vorbei. Leise Orgelklänge klangen nach draußen. Philip spitzte die Ohren.
„Schön!" sagte er und zog Papa zum Eingang.
Sie saßen im Kirchenraum, lauschten der wunderbaren Musik. Kevin spürte, wie sich Philip entspannte, wie er deutlich ruhiger wurde.
Er liebt die Musik wie ich! dachte er.
Doch er hatte schon lange nicht mehr auf dem Instrument gespielt, das Kathi ihm geschenkt hatte. Er war zu beschäftigt gewesen, zu leben, wie sie es ihm aufgetragen hatte.
Zu viele Aktivitäten, zu viele Feten, zu viel unnützes Zeug!
Er hatte alles auf einmal gewollt, hatte so viel nachholen wollen!
Er hatte Kathi vernachlässigt, hatte ihre Beziehung gefährdet, wie er es immer befürchtet hatte und am Ende zerstört.
Und was hatte er im Grund bekommen?
Ein paar dumme Witze!
Ein paar blöde Filme!
Musik, die er eigentlich nicht mochte!
Oberflächliche Gespräche mit Freunden, die keine waren!
Außer Max.
Die im Verlauf der Feiern immer betrunkener wurden, immer bekiffter!
Er hatte dazu gehören wollen und hatte doch nie dazugehört!
Denn er hatte eine Vergangenheit, die keiner der 19jährigen hatte.
Er hatte einen Sohn, um den er so lange gekämpft hatte.
Er hatte ein Mädchen, das die Liebe seines Lebens gewesen war.
Er war nicht wie die anderen, würde es nie sein.
Ja, er wollte sein Leben genießen!
Aber er wollte es mit Kathi und mit Philip!
Er hatte sich in eine Welt hineinquatschen lassen, die nicht seine war!
Sie hatte es gut mit ihm gemeint, natürlich!
Sie hatte Angst, er würde später einmal etwas vermissen!
Und jetzt? Jetzt vermisste er nur sie!
Alles andere interessierte ihn nicht.
Die Musik hörte auf. Ein Mann kam von der Empore heruntergestiegen, sah die beiden Zuhörer, setzte sich zu ihnen.
„Schön!" sagte Philip wieder. „Hast du das gemacht?"
Kevin fiel ein Stein vom Herzen. Der Kleine begann wieder zu sprechen!
„Ja!" antwortete der Mann lächelnd. „An der Orgel! Willst du sie sehen?"
Philip nickte, nahm seinen Papa an der Hand, zog ihn zur Treppe.
„Mein Papa macht auch schöne Musik!" erzählte Philip. „Mozart! Und... wie heißt der, der taub war?"
„Beethoven!" half ihm Kevin auf die Sprünge.
Der Fremde sah Philip verwundert an. „Du bist aber ein kluger Junge!"
„Ja! Schon!" antwortete der Kleine selbstbewusst. „Ich bin nicht behindert! Ich bin bloß ein bisschen autistisch!"
Der Orgelspieler verbiss sich ein Schmunzeln. „So so! Da merkt man aber gar nichts davon!"
„Nein! Weil Dr. Kathi meine Angst weggezaubert hat. Dann ist sie nur noch Kathi gewesen, aber zur Zeit ist sie weg, weil mein Papa Mist gebaut hat!"
Kevin lachte leise vor sich hin. Er war zwar froh, dass die Plaudertasche zurück war, aber seine ganze Lebensgeschichte musste er auch nicht unbedingt erzählen!
Dann standen sie vor der beeindruckenden Orgel. Wie selbstverständlich setzte sich Kevin auf die schmale Bank, ließ seine Finger über die Tasten gleiten. Aus seinem Kopf strömten die Töne in seine Hände, wie im Rausch spielte er Bachs Präludium.
Der Fremde ließ ihn nicht aus den Augen. Der Junge schien schweren Liebeskummer zu haben, nach den verquollenen Augen und den Worten des Kleinen zu urteilen.
Doch wenn diese Kathi ihn spielen gehört hätte, hätte sie ihm verziehen! Davon war er überzeugt. Jemand, der dem Instrument solche Töne entlocken konnte, der mit einer solchen Inbrunst Bach interpretierte, konnte kein schlechter Mensch sein.
Als Kevin aus der Musik auftauchte, legte er ihm die Hand auf die Schulter. „Sie wird zurückkommen! Gott wird dir beistehen!" sagte er und ging.
Gott! Ja! dachte Kevin zynisch. Bis zum Abitur war er ziemlich gläubig gewesen. Nicht bigott, aber er hatte an eine schützende Hand über ihm geglaubt, die ihm aus seinem Milieu heraushelfen würde. Doch als Philip geboren wurde, als es geheißen hatte, er sei schwer behindert, hatte er mit seinem Wächter gebrochen.
Was für ein Gott sollte das zulassen? hatte er verbittert gedacht.
Und jetzt sollte er daran glauben, dass ausgerechnet dieser Gott ihm die Liebe seines Lebens zurückbrachte?
Mittlerweile war er klüger, wusste, dass der da oben, wenn es ihn tatsächlich gab, Wichtigeres zu tun hatte, als einem Dummkopf wie ihm beizustehen.
Vater und Sohn stiegen wieder nach unten. Philip sah die Kerzen, die vor verschiedenen Seitenaltären brannten.
„Warum sind die an?" fragte er.
„Menschen bitten die Heiligen um Hilfe, zünden eine Kerze an, spenden Geld dafür!" erklärte Kevin.
„Wie heißen die Heiligen?" wollte der Kleine wissen.
Sie machten einen Rundgang, Kevin zeigte seinem Sohn die Namensschilder, lesen konnte er sie selbst.
„Heilige Katharina" stand am dritten Altar.
„Katharina? Heißt Kathi so?" fragte Philip.
„Ja! Aber der Name ist so lang, darum haben ich sie Kathi genannt, und das hat ihr gefallen!" antwortete Kevin.
Er erinnerte sich an die erste Nacht, als er diesen Kosenamen zum ersten Mal gestöhnt hatte.
„Dann zünden wir jetzt eine Kerze bei der heiligen Katharina für Kathi an!" beschloss Philip und holte ihn aus seinen Erinnerungen zurück.
Er gab dem Sohn zwei Euro. „Nehmen wir besser zwei!" meinte er lächelnd.
Schaden kann es ja nicht! dachte er.
Sie setzten ihren Rundgang fort.
„Der heilige Philip! Der heißt wie ich!" freute sich sein Sohn kurze Zeit später.
Auch hier stifteten sie zwei Kerzen.
„Jetzt brauchen wir nur noch den heiligen Kevin!" freute sich der Kleine.
„Kevin kommt aus dem Irischen, der wird nicht in einer deutschen Kirche sein!" gab der Vater zu bedenken, und er behielt Recht.
„Na ja! Zwei haben wir, das wird schon helfen!" stellte Philip zufrieden fest. „Wir können auch zu Hause zwei Kerzen für deinen Heiligen anzünden. Wir bezahlen hier und nehmen sie mit!"
Kevin konnte ein Lachen nicht unterdrücken. Der Kleine war gut drauf!
Und er hatte ihm geholfen, seinen Schmerz kurze Zeit zu vergessen.
Eigentlich sollte ja der Vater das Kind trösten, und nicht umgekehrt! dachte er.
Sie fanden noch den heiligen Jakob, der hieß wie Kathis Kollege. Flyer lagen auf einer Bank.
„Finde dich auf dem Jakobsweg!" las Philip und lachte. „Man kann sich doch nicht verlieren, oder Papa?"
Kevin nahm ihm das Faltblatt aus der Hand, las und wusste, dass das durchaus ging. Aber man konnte sich eben auch wieder finden. Doch das zu verstehen, war wohl etwas zu schwierig für einen Sechsjährigen.
In seinem Kopf setzte sich ein Gedanke fest, der nicht mehr herauswollte.
Er würde mit seinem Sohn den Jakobsweg gehen, oder wenigstens ein Stück. Danach würden sie wissen, ob sie ohne Kathi leben konnten
Und wenn nicht, dann würde er alles daran setzen, sie zurückzubekommen.
Mit Hilfe Gottes, der Heiligen oder auch ohne ihre Hilfe! Ihm würde schon etwas einfallen!
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