Kapitel 35


Veränderungen IV

Kevin raste nach unten, ging nervös auf und ab. Als er das Taxi endlich sah, lief er ihm entgegen, riss die Türe auf, bevor der Fahrer noch richtig angehalten hatte.
„Zum Gericht! Bitte schnell! Ich zahle den doppelten Preis, wenn wir es bis halb Neun schaffen!" brüllte er den Fahrer an.

Der knallte den Gang rein, preschte los. „Na! So eilig hatte es auch noch niemand, vor Gericht zu erscheinen!" zog er den Fahrgast, der etwas zerknittert aus der Wäsche sah, auf.
„Es geht um das Sorgerecht für meinen Sohn!" sagte Kevin mit tränenerstickter Stimme. „Und ich habe voll verpennt!"

Da gab der Fahrer alles, was er an Fahrkünsten zur Verfügung hatte.
Kevin drückte Kathis Kontakt. Sie würde sicher nicht mit ihm sprechen, aber er wollte ihr wenigstens eine Nachricht hinterlassen, dass er unterwegs war.

Als die Mailbox wie erwartet ansprang, rief er gehetzt: „Hallo, Kathi! Es ist nicht so, wie Josefine es hingestellt hat. Aber ja, ich habe ordentlich Mist gebaut! Ich bin unterwegs, vielleicht kann die Richterin ein paar Minuten warten!"

Als Kathi die Nachricht abhörte, war sie für Philip erleichtert. Für sie selbst war Kevin erledigt.
Die Türen des Gerichtssaales wurden geöffnet, sie nahm mit Philip auf der Seite der zu Befragenden Platz.
Zu ihrer großen Erleichterung war Mary nicht zu sehen. Sie hatte befürchtet, dass Philip ausflippen würde, wenn er seine Mutter sah. Noch dazu, wenn der Papa nicht da war.

Die Richterin sah die Anwesenden streng an. „Ich sehe den Vater nicht?" stellte sie verwundert fest.
Kathi hob brav die Hand. „Herr Berger hat gestern mit einem Freund lang für eine Klausur gebüffelt und hat den Wecker überhört. Er ist aber auf dem Weg."

Die Richterin war erst einmal zufrieden. „Nun! Frau Schneider sieht sich nicht im Stande, an der Verhandlung teilzunehmen, ich habe sie gestern ausführlich befragt. Dann kommen wir erst einmal zur Feststellung der Personalien. Vielleicht taucht der eifrige Student ja dann doch noch auf!"

Während alle Beteiligten namentlich aufgerufen wurden, sandte Kathi Kevin eine Textnachricht.
Hab gesagt, du hast gestern lange bei einem Freund gelernt, hast den Wecker nicht gehört.

Kevin atmete auf. Sie ließ ihn nicht hängen, und auch Philip nicht!
Wieder schossen ihm die Tränen in die Augen.

Was hatte er ihr schon wieder angetan!
Und sie war eine so tolle Frau!
Sie war doch sein Leben!
Die Liebe seines Lebens!

Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel. „Mach, dass sie mir noch eine Chance gibt!"
Der Minutenzeiger bewegte sich schon auf die neun zu, war über die Zeit hinaus weitergelaufen.
Jetzt konnte er nur noch hoffen.

Nach der Feststellung der Personalien, sah die Richterin demonstrativ auf die Uhr. Kathi hob erneut die Hand. „Frau Dr. von Arnfeld? Neue Nachrichten?"
„Nein! Aber ich möchte Sie als ehemalige behandelnde Ärztin von Philip Berger bitten, den Jungen in einen anderen Raum zu bringen während der Aussagen. Es wird einiges aus seiner Vergangenheit angesprochen werden, und er reagiert darauf immer noch sehr verunsichert!"

Die Frau im schwarzen Talar schien nachzudenken. „Das klingt vernünftig! Dann gewinnen wir auch noch etwas Zeit, bis ich eine Betreuungsperson finde!" Sie unterdrückte ein leichtes Lächeln. Eigentlich hatte sie sich ja schon entschieden. Nachdem sie gestern unangemeldet bei der leiblichen Mutter aufgetaucht war, hatte sie das ganze ehemalige Umfeld des Jungen ungeschönt erlebt.

Frau Schneider war schwer angetrunken gewesen, die Tochter völlig verwahrlost, die Wohnung ein einziges Chaos. Sie hatte der Frau dann auch nahe gelegt, nicht vor Gericht zu erscheinen, es hätte sowieso keinen Sinn.

Nach ein paar Telefonaten holte eine junge Frau Philip ab. Der sah Kathi fragend an. Als sie nickte und ihm über den Kopf strich, ging er mit.

Kevin kam gerade den Gang entlang gerast, als sein Sohn mit einem Mädchen den Gerichtssaal verließ. Außer Atem nahm er ihn in die Arme. „Ist es schon vorbei?" rief er verzweifelt.
„Nein! Ich warte woanders! Lass mich los! Du stinkst!" wehrte ihn der Kleine ab und sah ihn böse an.
Diesen Blick habe ich bei Gott verdient! dachte Kevin reuig. Da konnte er sich vorstellen, wie Kathi ihn ansehen würde.

Er riss die Saaltüre etwas zu heftig auf. „Ah! Der Herr Vater lässt sich auch blicken. Na! Dann können wir ja fortfahren. Nehmen Sie bitte neben Frau Dr. von Arnfeld Platz." forderte ihn die Richterin auf.
Sie wird mich ermorden! dachte er.

Doch sie sah ihn lächelnd an, für alle anderen lächelte sie. Aber er sah das Funkeln in ihren Augenwinkeln. Das sieht aus wie Hass! bemerkte er voller Schmerz.

Er wollte nach ihrer Hand greifen, wollte diesen Hass wegstreicheln und ahnte doch, dass es ihm nicht gelingen würde, auch wenn sie es ihm erlaubte, sie zu berühren.

Dann wurde als erster der Sozialarbeiter befragt, der detailliert die Verhältnisse schilderte, auf die er gestoßen war, als er begann, die Familie zu betreuen.
Frau Bronner schilderte ihre erste Begegnung mit Kevin, den Weg, den er danach eingeschlagen hatte.

Albert sagte ebenso aus wie Angelika.
Dann kam Kathi an die Reihe.
Kevin hatte schweißnasse Hände. Jetzt wird sie mich zerlegen! dachte er.
„Sie haben gesagt, Sie sind Philips ehemalige Ärztin?" begann die Richterin. „Ist seine Behandlung abgeschlossen?"

„Ja, schon eine ganze Weile. Er wird immer an dieser schwachen Form des Autismus leiden, also er wird keine Lautstärke oder Menschenansammlungen ertragen können, auch keine Berührungen von Fremden oder lauten Menschen. Er braucht viel Zeit für sich und seine Gedanken, hat eine Menge an beinahe unheimlichen Inselbegabungen. Er liest und schreibt flüssig, rechnet im Tausenderraum und ist ein Crack am Computer. Und er ist, wie sein Vater, sehr musikalisch."

Die Richterin fragte nach. „Verbringt er viel Zeit am Computer?"
„Täglich eine Stunde! Er achtet selbst akribisch darauf, diese Zeit nicht zu überschreiten, weil sein Papa ihm erklärt hat, dass mehr schlecht für die Augen und auch seinen Kopf ist. Und Papas Wort ist Gesetz. Er ist ein sehr braver, gut erzogener, selbstständiger Junge!"

Die Richterin schmunzelte. „Und welche Rolle spielen Sie in dieser Familie?"
„Ich war, wie gesagt, Philips Ärztin. Danach wurden sein Vater und ich ein Paar!" erklärte Kathi unbeteiligt.

„Sie sind also auch in die Erziehung des Jungen einbezogen?" fragte die Juristin.
„Ja! Wir ziehen alle an einem Strang. Wichtig ist, was für Philip gut ist. Herr Berger, ich, aber auch Opa Albert, Opa Gregor, meinem Vater oder seine Oma Angelika."
„Zu anderen Verwandten gibt es keinen Kontakt?" Die Richterin war noch nicht fertig.
„Nein!" antwortete Kathi. „Und das möge so bleiben, so Gott will!"

Dann wurde Kevin aufgerufen. „Passiert es oft, dass Sie über dem Lernen die Zeit vergessen, Herr Berger?" begann das Verhör.
„Nein! Es war das erste Mal!" antwortete Kevin leise. Er war sich schon bewusst, wie er aussah und roch.

„Und das dann ausgerechnet vor so einem wichtigen Termin!" bekam er noch um die Ohren gehauen.
Kevin antwortete lieber nicht, senkte nur den Kopf noch tiefer.

„Haben Sie den Worten von Frau Dr. von Arnfeld noch etwas hinzuzufügen?" fragte sie ihn.
„Nein! Sie hat alles sehr klar formuliert wie immer. Sie war und ist meinem Sohn eine große Stütze, und mir auch!" Er suchte ihren Blick, den sie aber unbeteiligt erwiderte.
Bitte, Kathi! schrie sein Herz.

Die Richterin klappte die Akte zu. „Nun gut! Meine Entscheidung ist getroffen. Ich habe mir in diesem Fall lange Zeit gelassen, bitte das auch zu entschuldigen. Aber es immer noch etwas ungewöhnlich, einem Vater das Sorgerecht, das alleinige noch dazu, zu erteilen. Und ich wollte keinen Fehler machen. Nach gründlicher Recherche und ebensolchen Ermittlungen hat sich meine Einstellung vom Anfang bestätigt. Das Kind Philip Berger muss ich dazu nicht mehr befragen. Es ist mit Sicherheit beim Vater in den besten Händen. Die Mutter bekommt kein Umgangsrecht, so lange sie ihr Leben nicht in den Griff bekommen hat."

Sie sah Kevin ernst an. „Und Ihnen, junger Mann, gebe ich etwas mit auf Ihren Weg. Übertreiben Sie es nicht mit der .... Lernerei. Die Zeit mit einem Kind geht schnell vorbei!"


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