Kapitel 32
Veränderungen I
Dann war es April geworden, und der erste Tag des Semesters stand bevor. Kathi hatte dummerweise eine Woche lang Nachtdienst, er ließ nicht zu, dass sie tauschte.
„Ich bin doch keine sechs!" wehrte er ihren Vorschlag ab.
In der Nacht bereute er seine Haltung. Er tigerte durch die Wohnung, legte sich seine Klamotten zurecht, sah fünfmal in der Mappe nach, ob er alle Unterlagen dabei hatte, prägte sich noch mal auf dem Lageplan den Hörsaal ein, zu dem er musste, trank ein Glas Wasser, sah nach Philip, musste dreimal auf die Toilette, schaltete den Fernseher ein und gleich wieder aus, nahm sich ein Lehrbuch vor, klappte es wieder zu, trank noch in Glas Wasser.
Im Morgengrauen schlief er endlich ein, der Wecker riss ihn aus einem schlimmen Albtraum.
Er taumelte ins Bad, schüttete zwei Tassen Kaffee in sich hinein, versuchte etwas von dem Sandwich hinunterzuwürgen, das Albert ihm hinstellte.
Dann saß er also auf einem dieser unbequemen Klappstühle hinter einem kleinen Tischchen und atmetet tief durch.
Er war hier! Ab heute war er Medizinstudent.
Sechs Jahre zu spät, aber nicht zu spät!
Das Adrenalin schoss durch seine Adern.
Er nahm alles überaus klar in sich auf.
Alle seine Sinne schienen geschärft zu sein.
Er war früh dran, die Sitzreihen füllten sich nur langsam.
Dann betrat die Professorin den Saal, langsam wurde es ruhiger.
Er betrachtete die Frau, die sie durch dieses Semester führen würde. Mitte vierzig, gut 20 Kilo Übergewicht, aufgetakelt mit viel Goldschmuck, in einem viel zu engen Kleid, eine wallende blonde Mähne, lackierte, lange Fingernägel, knallrot geschminkte, sicher auch aufgespritzte Lippen.
Sie begrüßte die neuen Studenten ziemlich überheblich.
Wir werden keine Freunde! dachte er.
Sie las die Anwesenheitsliste vor, begann bei A.
Schnell war sie bei Berger angekommen.
„Kevin Berger? Heute nicht alleine zu Hause?"
Die Kommilitonen lachten.
Er stöhnte leise auf. Wie oft hatte er diesen vermeintlichen Witz wohl schon gehört?
Sein Vater hatte einen etwas abnormalen Geschmack gehabt, was die Namen seiner Söhne anbelangte.
„Nein, Frau Professor! Heute bin ich hier!" antwortete er etwas genervt.
Wieder lachten einige.
Die Professorin sah ihn streng an. „Ah! Ein Witzbold!" Wieder leises Gelächter.
Verdammt! Warum hatte sie es denn so auf ihn abgesehen?
Sie hob den Blick wieder aus dem Blatt vor sich. „Sie haben ja ein paar Jahre verbummelt!"
Kevin zwang sich zur Ruhe. „Ich bin alleinerziehender Vater und musste mich um meinen Sohn kümmern!"
Sie hob eine Augenbraue, um ihr Missfallen auszudrücken. „Es gibt Krippen und Kitas!"
Langsam wurde er wütend, aber er beherrschte sich noch immer.
Er durfte das hier nicht am ersten Tag vermasseln. Doch er musste sich auch nicht mehr alles gefallen lassen.
Selbstbewusst hob er den Kopf, sah ihr direkt in die Augen. „Philip ist Autist. Ich musste dafür sorgen, dass er die richtige Therapie bekommt, dass er stabil genug ist, ohne mich ein paar Stunden zurecht zu kommen. Er hatte keinen guten Start ins Leben!"
Im Saal war es mucksmäuschenstill geworden. Dann begann einer auf den Tisch zu klopfen, andere machten mit.
Die Professorin schloss kurz die Augen. „Es tut mir leid, Kevin Berger! Ich wünsche Ihnen viel Erfolg im Studium! Und für Ihren Sohn alles Gute!"
„Danke!" sagte Kevin, und das Klopfkonzert wurde ohrenbetäubend.
Die Frau hob die Hand. „Dann machen wir mal weiter mit der Liste!"
Nach der Einführungsveranstaltung umringten junge Menschen Kevin. Mein Gott! Das sind ja alles noch Kinder! schoss es ihm durch den Kopf.
Durch seinen selbstbewussten Disput mit der Professorin war er so etwas wie der Shooting-Star des Semesters geworden.
Die Mädchen drängten sich nach vorne, suchten seinen Blick, signalisierten offensichtliches Interesse.
Alleinerziehender, mehr als gut aussehender Vater, da klopften ein paar neunzehnjährige Herzen etwas schneller.
Kevin lächelte allen zu, hielt aber spürbar Distanz.
Die Jungs sahen in ihm sofort den Kumpel, der sich nicht unterkriegen ließ, der auch schon viel erwachsener wirkte als sie alle.
Ein paar gingen noch auf eine Pizza, überredeten ihn, mitzukommen.
Warum auch nicht? dachte er. Philip ist in besten Händen, Kathi schlief sicher noch. Er sollte sein Studentenleben doch genießen! Immer wieder hatte sie ihm das ans Herz gelegt!
„Lebe endlich, Kevin!" hatte sie erst vor ein paar Tagen zu ihm gesagt.
„Aber ich lebe doch wunderbar, seit ich dich getroffen habe!" antwortete er und küsste sie.
„Schon! Ja! Das freut mich, dass du das so siehst! Aber die Studentenzeit ist etwas ganz Besonderes, glaube mir! Ich selbst habe sie viel zu kurz gehabt, wegen der Sache mit Christian." antwortete sie.
Und als er mit diesen jungen Leuten da in der Pizzeria saß, ahnte er, was sie ihm hatte sagen wollen.
Das Essen schmeckte fantastisch, er hatte Geld, um es zu bezahlen, trug schicke Klamotten, er war Teil einer Gruppe.
Als er aufgedreht zum Auto ging, merkte er, dass er sein Handy noch ausgeschaltet hatte. Kathi hatte ihm eine Nachricht hinterlassen. „Hallo, mein Hübscher! Ich bin schon wach. Wie war der erste Tag?"
Er rief gleich zurück. „Hallo, Süße!" Und alles, was er erlebt hatte, sprudelte aus ihm heraus.
Sie freute sich mit ihm, von ganzem Herzen.
Sie hatte so sehr gehofft, dass er gut zurecht kam, auch mit den Kommilitonen, die ja im Vergleich zu ihm noch sehr jung waren, nicht nur an Jahren.
„Kann ich noch zu dir kommen? Ich vermisse dich schrecklich!" bat er.
„Natürlich!"
Dann in der Wohnung, nach ein paar langen sehnsüchtigen Küssen und einem etwas längeren Aufenthalt im Bett, erzählte er noch einmal im Einzelnen die Geschichte von der Professorin.
Kathi war wirklich stolz auf ihn. Er würde seinen Weg gehen.
Ein paar Wochen später gab es die erste Semesterparty. Josefine, eines der Mädchen, die ihn am offensivsten anbaggerten, obwohl er alle direkten und indirekten Angebote abwimmelte, hatte Max darauf angesetzt, Kevin zum Kommen zu überreden.
„Kann ich meine Freundin mitbringen?" fragte Kevin.
Max grinste ihn an. „Klar! Josie wird ihr zwar die Augen auskratzen, aber vielleicht versteht sie dann, dass ihre ganzen Anstrengungen sinnlos sind!"
„Und wendet sich dir zu?" Kevin hatte schon bemerkt, dass Max, mit dem er sich besonders gut verstand, mehr als interessiert an Josefine war.
Der Kumpel, der ein Freund werden konnte, war auch etwas älter als der Rest, war zwei Jahre lang durch die Welt gereist.
Kevin schaffte es nach einer längeren Ansprache endlich, Kathi zu überzeugen, dass sie mitkommen musste.
Dem Blick aus seinen blauen Augen konnte sie zwar nie lange widerstehen, aber sie würde sich doch etwas fehl am Platz fühlen unter all dem jungen Gemüse.
Doch als sie sich entschlossen hatte, freute sie sich sogar. Sie konnten den Studienanfänger vielleicht ein paar Tipps geben, ein paar Fragen beantworten.
Sie waren noch nicht lange da, als sich ein zierliches blondes Mädchen neben Kevin setzte und ihm ein Bier hinstellte.
„Du weißt doch, dass ich keinen Alkohol trinke!" wehrte er ab und schob die Flasche weg.
Josie schenkte ihm einen tiefen Blick, fuhr mit der Zunge über ihre Lippen.
Ganz schön eindeutig! dachte Kathi, ignorierte aber den winzig kleinen Stich in ihrem Herzen.
„Aber heute hast du ja deine große Schwester mitgebracht! Die kann dich doch fahren! Da kannst du es richtig krachen lassen!"
Kevin verstand. Josefine erklärte Kathi offen den Krieg!
„Das ist Kathi, meine Freundin!" stellte er richtig.
Sie spielte die Verwunderte. „Und uns hast du die ganze Zeit weis gemacht, dass du alleine bist!"
„Nein, das habe ich nicht! Ich habe gesagt, ich bin allein erziehender Vater, also ich war es. Aber seit ein paar Monaten bin ich in sehr festen Händen!" Eigentlich hatte er ja keine Lust, mit der Göre über seinen Beziehungsstatus zu diskutieren, schon gar nicht mit seiner Süßen neben sich.
Die Plätze an ihrem Tisch füllten sich, Kathi wurde offensichtlich begutachtet. Max fragte sie nach ihrem Job. Als die anderen hörten, dass sie Ärztin war, kamen tatsächlich viele Fragen, die sie lächelnd beantwortete.
Josefine versuchte immer wieder querzuschießen.
„Mein Gott! Was für eine Spaßbremse!"
„Hey, Leute! Wir sind hier, um zu feiern!"
„Kann die ihre Vorträge nicht woanders halten?"
Und so ging es weiter. Max versuchte, sie ein wenig einzubremsen, doch sie kapierte nichts.
Mit zunehmendem Alkoholkonsum kippte dann aber die Stimmung. Immer weniger der jungen Leute interessierten sich für Fragen zum Studium, sie kicherten und alberten, sprachen über die neuesten Netflixserien, über Skandale von Promis, über Downloads und Apps.
Josie grinste, sah sich als Siegerin.
Kevin unterhielt sich mit vielen, Kathi fand den Anschluss nicht mehr.
Die Witze kannte sie alle seit Jahren, mit der Rap-Musik oder dem Techno-Sound, der zur Zeit in war, konnte sie so wenig anfangen wie mit den seichten Komödien, die alle im Kino gesehen zu haben schienen.
Sie saß ein wenig am Rande des Geschehens, beobachtete den gutgelaunten Kevin und hatte zum ersten Mal etwas wie Angst.
Max setzte sich zu ihr, Kevin winkte ihr zu, schickte ihr einen Luftkuss. Er schien zu glauben, dass sie sich amüsierte wie er.
Max ahnte, was in ihrem Kopf vorging. „Alle mögen ihn sehr! Er ist ein cooler Typ!"
Cooler Typ! Na gut! War er eben ab jetzt ein cooler Typ! dachte sie. Bisher war er ihr liebvoller Freund und ein aufopferungsvoller Vater.
„Ich freue mich sehr für ihn!" antwortete sie dem jungen Mann neben sich, und sie meinte es auch fast ehrlich.
Natürlich freute sie sich für ihn!
Sie hatte ihn ja mehrmals ermahnt, das Leben als Student zu genießen.
Ermahnt! Mein Gott, wie sich das anhörte! Als wäre sie wirklich seine ältere Schwester.
Noch nie hatte sie die knapp drei Jahre, die sie trennten, als eine so schwere Bürde empfunden.
Kevin lachte laut. „Den muss ich Kathi erzählen!" rief er und kam zu ihr zurück, gab einen Witz zum Besten, den sie schon so lange kannte, über den sie aber pflichtschuldig lachte.
Schon war er wieder weg, stand inmitten der Gruppe seiner Fans.
Endlich war es zwei Uhr, sie fuhren nach Hause. Kevin war vollkommen aufgedreht.
„Das war schön heute! Du hattest recht, Süße. Das Studentenleben ist klasse!"
Sie bat ihn in sich um Verzeihung für ihre harschen Gedanken. Ihn so glücklich zu sehen, tat auch ihr gut.
„Hast du dich auch gut amüsiert, Süße?" fragte er. „Sind doch alles nette Typen, oder?"
„Und Typinnen!" zog sie ihn auf, fand wieder zur Leichtigkeit zurück.
„Ach Josefine! Die darfst du nicht ernst nehmen! Ich tu's auch nicht!" wiegelte er ab. „Da steh'n wir beide doch drüber, oder?"
Losgelöst wie er war, liebte er sie, und sie dachte, dass doch alles gut war.
Doch die Veränderung kam schleichend, aber unaufhaltsam. Kevin genoss jeden Tag, hing mit den Kumpeln nach Vorlesungsende ab.
Kathi wartete manche Stunde in Alberts Wohnung, beschäftigte sich mit Philip. Der Kleine machte immer mehr Fortschritte, genoss die wenige Zeit mit seinem Papa, weil der immer so lustig war, wenn er von der Uni kam.
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