Kapitel 31
Die nächsten Monate XII
Da läutete Kevins Handy.
Unbekannte Nummer.
Aber an seinem Geburtstag musste er rangehen, womöglich erinnerte sich ein früherer Bekannter an ihn, da wollte er nicht unhöflich sein.
Als er die brüllende Stimme Dustins hörte, bereute er seinen Entschluss sofort. „Alles Gute zum Geburtstag, Klugscheißer!" dröhnte es an seinem Ohr.
Kevin ging nach draußen, von dem Gespräch musste niemand etwas mitbekommen. Er zwang sich zur Ruhe. „Danke, großer Bruder!" Seine Stimme klang mehr als süffisant.
„Hast wohl die Bude voll?" fragte Dustin. „Wo wohnst du eigentlich jetzt mit dem Behinderten?"
Kevin brach der Schweiß aus. „Unsere Wohnung ist ja geräumt worden, weil die Alte verschwunden ist und keine Miete mehr bezahlt hat."
„Das Loch, in dem ihr gehaust habt, ist ja kaum als Wohnung zu bezeichnen." konterte Kevin.
„Langsam, langsam, Vögelchen! Da hast du schließlich auch gewohnt! Also, wenn jetzt einer von uns rauskommt, wird wohl Marvin, der Looser, sein, wird er bei dir Asyl beantragen!"
Kevin lachte. „Ja! Ganz bestimmt! Das heißt: Beantragen kann er viel!"
„He, du Scheißkerl! Die Familie muss zusammenhalten! Wir sind deine Brüder! Vergiss das nicht! Wir vergessen das auch nicht!" warnte Dustin ihn wieder einmal.
Da reichte es Kevin. „Was ich nicht vergesse, sind all eure Gemeinheiten, dein Betrug an mir mit Selina, eure Prügel, euren Spott, eure Beleidigungen Philips! Wenn einer von euch, auch Hermann, sich mir oder dem Jungen nähert, seid ihr schneller wieder im Knast als ihr euch vorstellen könnt. Ihr lasst mich in Ruhe, ich lasse euch in Ruhe! Ich habe beim Prozess nicht ausgesagt, obwohl ich eine ganze Menge wusste!"
Drohen konnte er auch. Dann beendete er das Gespräch, war zufrieden mit sich.
Er hatte sich wieder gewehrt, war nicht mehr das Opfer. Er hoffte nur, dass Dustin endlich begriffen hatte.
Nachdenklich ging er zurück. Hoffentlich war das der letzte Versuch, seinen Geburtstag zu verderben!
Leise berichtete er Kathi von dem Anruf, die ihn stolz anlächelte.
Zwei Wochen später feierten Kevin und Philip ihr erstes Weihnachtsfest. Bisher waren diese Tage immer Horrortrips für die beiden gewesen. Die Bude voller schreiender Bergers, keine Minute Ruhe, Zigarettenqualm anstelle von Tannenduft.
Im ersten Jahre hatte Kevin versucht, für sich und Mary etwas an Feststimmung zu schaffen. Den Adventskranz, den er stolz nach Hause brachte, warf sie umgehend in den Müll.
„Macht Arbeit, Sauerei und stinkt! Hättest mir lieber eine Schachtel Zigaretten mitgebracht!" maulte sie ihn an.
„Du sollst doch nicht rauchen während der Schwangerschaft!" hatte er zum wiederholten Mal zu erklären versucht.
„Pah! Nicht rauchen, nicht trinken! Männer dürfen auch alles!" Dieses Argument zeigte ihre geballte Dummheit, doch noch immer hoffte er auf ihre Einsicht.
„Ich rauche und trinke doch auch nicht!" erklärte er, lächelte sie an.
„Pf! Du bist ja auch kein Mann!" knallte sie ihm hin.
Die Wunden heilten langsam, er erinnerte sich immer weniger an diese Zeiten.
Als Philip strahlend vor dem Weihnachtsbaum stand, den Albert liebevoll geschmückt hatte, mit echten Kerzen, die in dem dunklen Wohnzimmer für eine wunderbare Stimmung sorgten, vergaß Kevin wieder einen großen Teil von früher.
Er hielt sein Mädchen im Arm, sie strahlte mit Philip um die Wette.
Auch sie kannte kein Familienweihnachten, nur großartige Christmas-Partys.
Kevin hatte für seine Süße zusammen mit Philip ein Fotobuch am Computer zusammengebastelt, der Kleine hatte das Programm schneller begriffen als er selbst. Auch die lustigen Texte hatten sie zusammen geschrieben.
Sie hatte ihm ein Lederarmband gekauft, das umwerfend sexy an seinem Handgelenk aussah. Er trug es fast ständig.
Von Albert bekam er ein kleines Päckchen in die Hand gedrückt. Er fand darin einen Autoschlüssel für einen gebrauchten Golf, Kevin freute sich offen und herzlich.
Der Wagen passte besser zu ihm als die Nobelkarosse von Albert. Versichert und angemeldet war das Auto allerdings auf seinen Freund, damit er die Unterhaltskosten nicht tragen musste. Außerdem überreichte Albert ihm noch einen Packen Tankgutscheine.
Angelika hatte Plätzchen gebacken, es gab Erwachsenen- und Kinderpunsch, Wiener Würstchen und Kartoffelsalat.
Philip, der von Schoß zu Schoß gereicht wurde, strahlte den ganzen Abend. „Weihnachten ist schön!" sagte er zu seinem Papa, kurz bevor ihm die Augen zufielen.
„Ja, mein Großer! Auf einmal ist auch Weihnachten schön!" flüsterte er seinem Sohn zu, der schon eingeschlafen war.
Nachdenklich kam er aus dem Kinderzimmer zu den anderen zurück. Alles war schön, das Leben, die Zeit mit Kathi, die Zeit mit seinem Sohn, mit seiner Mutter, sogar die Arbeit machte Spaß. Mit den Kollegen verstand er sich besser denn je, seit er nicht mehr der verbitterte Looser war.
Der Winter zeigte sich von seiner kernigen Seite, viel Schnee, aber auch viel Sonne. Sie gingen mit Philip zum Schlittenfahren. Anfangs hatte er noch etwas Berührungsängste mit den anderen Kindern, doch als ihn niemand auslachte oder als Behinderten verspottete, wurde er ruhiger, klammerte sich nicht mehr an seinen Vater.
Bei einer Schneeballschlacht lachte der Junge hell auf, und Kevin hatte nie etwas Schöneres gehört als dieses Lachen. Das stimmlose Lachen der Vergangenheit hatte ihm oft die Seele abgedrückt.
Aber er hatte ja nicht ahnen können, dass das auch Ergebnis von Selinas Horrorregime gewesen war.
„Wenn du laut lachst, musst du ins Heim" hatte sie gesagt, wie sein Sohn aufgeschrieben hatte.
Oder: „Behinderte müssen ganz leise sein"
Am Abend nach einer heißen Dusche, saß Philip, eingewickelt in seinen neuen Frotteemantel, den er von Oma Angelika zum sechsten Geburtstag bekommen hatte, zwischen ihnen auf dem Sofa.
Er sah Kathi eine Weile an. „Nicht mehr Dr. Kathi!" erklärte er dann. „Angst ist weg, Kopf ist nicht mehr durcheinander!"
Kevin glaubte, nicht richtig gehört zu haben, Kathi hielt sich vor Lachen den Bauch. „Hat ... hat ... hat dein Sohn mich eben als Ärztin entlassen?" japste sie.
Philip nickte ernst, nahm die Hand von seinem Papa und ihre, legte die beiden aufeinander.
„Papa Kevin und Kathi!" erklärte er und grinste.
Kevin schüttelte den Kopf. Er hatte verstanden, was in dem kleinen Köpfchen vorging. Er und Kathi sollten nun ein richtiges, kein heimliches Paar mehr sein. Denn er brauchte keine Ärztin mehr.
„Gut! Dann machen wir das so!" Sie brachten den Kleinen zusammen ins Bett.
Dann brachten sie sich gegenseitig ins Bett, die frische Luft hatte auch sie müde gemacht.
Zumindest ein wenig.
Gerade so viel, dass sie sich gerne hinlegten.
„Dann sind wir ab jetzt frei, ein ganz normales Liebespaar?" fragte er, während er sie eng an sich gedrückt hielt und mit einer ihren Haarsträhnen spielte.
„Scheint so, ja! Aber ein ganz normales Liebespaar?" fragte sie.
Seine Hand glitt an ihrem wunderbaren Körper entlang. „Nicht, oder?"
Da hörten sie Albert nach Hause kommen. „Wo fährt der eigentlich immer hin?" fragte Kathi. „Ich hoffe, er geht nicht fort, damit wir alleine sein können!"
„Keine Ahnung!" gab Kevin zu. „Aber, wenn er schon da ist, könnte das freie Liebespaar doch noch ein wenig auf die Piste gehen, oder?"
Kathi war sofort dabei. „In einen Club? Pascal hat von einem gesprochen, der nicht weit von meiner Wohnung weg ist!"
„Perfekt! Dann bleiben wir bei dir! Ich war noch nie in einem Club!" gestand er.
„Na, da wird es aber höchste Zeit!" Sie sprang aus dem Bett.
Kevin duschte schnell und sagte Albert Bescheid. Gregor hatte ihnen beiden je einen Gutschein eines der besten Modehäuser der Stadt geschenkt, und sie hatten kräftig zugeschlagen. Deshalb hatte er eine ganze Reihe von Jeans und Shirts bekannter Marken zur Auswahl.
Als sie sich im Flur trafen, schwankten sie ein wenig in ihrem Entschluss , noch wegzugehen. Sie sahen beide schon verdammt gut aus!
Lachend liefen sie zu seinem Auto. „Meinst du, Philip wird ein normales Leben führen können?" fragte er auf dem Weg in die Innenstadt.
„Wer will schon ein normales Leben führen?" konterte sie lächelnd. „Also im Ernst: Natürlich! Jeder Mensch ist anders. Philip ist intelligent! Er braucht halt mehr Ruhe, mehr Zeit für sich, ist vorsichtig fremden Menschen gegenüber, vor allem lauten, übergriffigen Menschen. Aber das ist ja auch gut so. Ein Problem wird es nur mit der Schule geben, also einer Regelschule. Ich tendiere da wirklich zu einer Privatschule, die seinen Begabungen auch gerecht wird."
Kevin griff dankbar nach ihrer Hand, weil er spürte, dass sie sich Gedanken um die Zukunft seines Sohnes machte, was bedeutete, dass sie sich auch Gedanken um ihrer beider Zukunft machte.
Sie parkten auf ihrem Stellplatz im Hof, liefen aufgedreht die zwei Straßen zu dem Club, den Pascal ihr empfohlen hatte.
Kevin holte an der Theke einen Cocktail und ein Mineralwasser, zog sie auf die Tanzfläche. Kathi war überrascht, wie gut er sich zur Musik bewegen konnte, aber er war musikalisch, hatte wohl auch den Rhythmus im Blut.
Sie machten eine Pause, tranken ein paar Schlucke.
Lächelnd bemerkte Kathi die Blicke, die ihrem Hübschen folgten.
Lächelnd bemerkte Kevin die Blicke, die seiner Schönen folgten.
Platzend vor Besitzerstolz legte er seinen Arm um sie, zog sie näher an sich. „Meine!" signalisierte er den balzenden Typen.
„Darf man in einem Club knutschen?" fragte er aufgedreht.
„Muss man!" antwortete sie, und er war ein sehr folgsamer Club-Besucher.
Als der DJ die letzte Tanzrunde ankündigte, nutzten sie die langsamen Lovesongs, um sich so nahe zu kommen, wie es in der Öffentlichkeit gerade noch erlaubt war.
Angeheizt bis zum Äußersten erreichten sie ihre Wohnung und kamen sehr wenig zum Schlafen.
*
Es wurde Frühling, sie wanderten viel, kauften sich drei Fahrräder, machten kleinere Touren. Albert hatte Philip das Radfahren beigebracht, beide hatten viel Spaß dabei gehabt. Der Kleine fuhr sehr bald sehr sicher.
Albert begleitete sie immer seltener bei ihren Ausflügen, Angelika fand auch immer neue Ausflüchte.
Doch sie drängten die beiden auch nie, waren sich durchaus zu dritt selbst genug.
Im März beschlossen sie einvernehmlich mit Philip, dass auch keine Therapie- oder Logopädie-Stunden mehr notwendig waren.
Sie brachten ihn an einem Tag der offenen Türe zu einem Kindergarten, aber das war noch zu viel für ihn. Zu viele Kinder, zu laut!
Als er zu wippen begann, brachten sie ihn schnell weg.
„Philip! Du musst uns immer sagen, wenn dir etwas nicht gefällt, ja? Einfach reden! Nicht wippen, oder summen! Du kannst jetzt sprechen!" erklärte Kathi dem Kleinen. „Das ist mir zu laut! Oder: Da will ich nicht bleiben! Okay?"
Philip sah sie offen an. Anstatt zu nicken, erklärte er: „Ja! Mache ich! Da drin war es nicht gut für meinen Kopf! Wenn es so laut ist, kommt alles wieder durcheinander!"
Kevin nahm seine Süße und seinen süßen Sohn in die Arme. Es erschien ihm immer noch wie ein Wunder, dass er gerade sie gefunden hatte. Die Beste für ihn, die auch die Beste für seinen Sohn war.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top