Kapitel 30

Die nächsten Monate XI

Kevin bemerkte den Blick auf sein Wasserglas. Viele Leute deuteten seinen konsequenten Verzicht auf Alkohol falsch.

„Ich bin mit sechs Alkoholikern groß geworden, ich lass lieber die Finger davon!" erklärte er deshalb.
Damit war der Anfang gemacht, und er musste auch den Rest seiner Geschichte erzählen.

Gregor konnte kaum glauben, was Kevin da berichtete.
Und für Kevin selbst wurde seine Geschichte, nach all dem, das bisher geschehen war, beinahe unglaubwürdig.
Doch es hatte diese Jugend und diese knapp sechs Jahre, die drauf folgten, gegeben, und er durfte sie nie vergessen!

„Puh!" stieß Gregor hervor. „Da werden die eigenen Probleme plötzlich ganz klein!"
Kevin grinste den Mann, den er verdammt gut leiden konnte, an. „Aber zum Glück hat es ja deine Tochter gegeben, die dem Schicksal in den Hintern getreten hat!"

Kathi wehrte ab. „Das hast du schon alleine geschafft! Ich hab nur meinen Job gemacht!"
Kevin schmunzelte. „Da in der Bar?"
Sie boxte nach ihm. „Du weißt genau, was ich meine!"

Er nahm sie in die Arme. „Aber seit dem Abend und der Nacht hat sich mein Leben komplett gedreht, und das habe ich dir auch schon oft erzählt!"
„Okay! Ich bin also mit Pascal und Jakob in diese Bar gegangen, hab sie heimgeschickt, weil ich unbedingt einen verflixt gutaussehenden Typen retten musste?" zog sie ihn auf.

Die Stimmung wurde wieder heiter und losgelöst.
Das liebevolle Geplänkel der beiden jungen Leute tat Gregor gut. So war es eigentlich mit Alma vor der Hochzeit gewesen. Sie hatten viel gelacht, hatten viele Stunden im Bett verbracht, er war überzeugt, dass sie die Richtige für ihn war.

Aber ihre schauspielerischen Qualitäten hatte er weit unterschätzt gehabt.
Schon auf der Hochzeitsreise zog sie ihn von Juwelier zu Juwelier, in seinem noch verliebten Gehirn hatten tausend Warnlämpchen aufgeglüht, doch er hatte sie ignoriert, hatte ihr den Ring, das Armband, das Collier, die Uhr gekauft, die ihre Augen so strahlen ließen.

Er war damals zwar schon vermögend gewesen, hatte aber nicht über unendliche Mittel verfügt.
Nach der Hochzeitsreise hatte er ihr zu erklären versucht, dass sie ein wenig kürzer treten mussten.

Da hatte es zum ersten Mal gekracht. „Musst du halt deinen Angestellten einen Bonus weniger zahlen!" hatte sie ihm hingeknallt - und die ersten Zweifel ließen sich nicht mehr zum Schweigen bringen.

Er zog sich immer mehr in sein Geschäft zurück, wurde mehr als erfolgreich, verpasste dadurch aber eine Menge aus dem Leben seiner Tochter – etwas, das sich nie wieder gut machen ließ.
Doch zum Glück war sie ihren Weg gegangen, besser als viele der Sprösslinge anderer Familien. Und dieser junge Mann in ihrem Leben würde auch seinen Weg gehen, da war er sicher.

Nach zwölf machte er sich auf den Weg ins Hotel. „Hoffentlich finde ich hin!" erklärte er lachend. „Der Wein ist mir ganz schön in den Kopf gestiegen!"

„Ich bringe dich!" meinte Kevin spontan.
Kathi drohte mit dem Finger. „Aber wiederkommen! Nicht in einer Bar vorbeischauen!"
Kevin nahm sie in die Arme. „Und was sollte ich in einer Bar?"

„Weiß nicht? Frauen anbaggern?" Auch sie war ein ganz kleines bisschen beschwipst.
Kevin bog sich vor Lachen. „Gleich Frauen?" Er bog sich zu ihr hinunter, flüsterte in ihr Ohr: „Glaubst du nicht, dass ich mit einer genug zu tun habe?"

Sie kicherte leise, und er hoffte, dass er den Weg zu Gregors Hotel und zurück ohne Kreislaufzusammenbruch schaffen würde.
Aber dann konnte sie sich warm anziehen! Für dieses Kichern musste sie bestraft werden!
Er presste sie an sich. „Das bekommst du zurück!" drohte er.

Gregor beobachtete die Verliebten amüsiert. Es tat ihm so gut, seine Tochter so zu erleben!

Es wurden gute Tage für den ehemaligen Firmenboss in der charmanten bayerischen Stadt, in die das Schicksal Kathi gespült hatte.

Er fand schnell ein Haus, beauftragte seinen Anwalt, seine persönlichen Dinge aus dem Jagdhaus bringen zu lassen, lebte sich schnell ein. Er saß den jungen Leuten nicht auf der Pelle, verbrachte aber mehr Zeit mit seiner Tochter als je zuvor. Er freundete sich mit Albert an, sah dadurch auch den Jungen oft.

An Kevins 26. Geburtstag im Dezember versammelte sich eine buntgemischte Gesellschaft in Alberts Wohnung. Neben den Verwandten hatte Kevin auch seinen Chef und die Arbeitskollegen mit Partnerinnen sowie Pascal und Jakob mit Familien eingeladen.

Es war eigentlich der erste Geburtstag, den er feierte, und er genoss jede Stunde. Kathi hatte ihm eine hochwertige Hammondorgel geschenkt. So würde er das Klavierspielen nicht ganz verlernen.

„Das wirst du noch bereuen!" scherzte er und spielte gleich ein paar Melodien, die er noch im Kopf hatte.
Nun war also auch die Musik in sein Leben zurückgekommen. Es war das schönste Geschenk, das er sich hätte wünschen können. Neben einem Kuss von seiner Süßen natürlich!

Später überreichte ihm Albert ein Paket. Er fand darin eine lässige Mappe mit Schulterriemen, wusste damit aber zunächst nichts anzufangen. Erst als er sie öffnete und ihm ein Packen loser Blätter entgegenkam, verstand er.

Er fand eine ganze Menge von Anträgen auf Förderung, Wohngeld, Kostenübernahme für eine Kita an der Uni. Alles war vorausgefüllt, von Frau Bronner befürwortet, musste nur noch von ihm unterschrieben werden.

In einem Ordner steckte die feste Zusage auf einen Studienplatz, ein Vorlesungsplan, ein einstweiliger Studentenausweis.

Albert hatte die Fakultätsangestellte so lange bequatscht, dass sie ihm schließlich all die Unterlagen ausgehändigt hatte. Der Dekan hatte dieses Vorgehen gut geheißen, sie brauchten Mediziner im Land, und ein etwas reiferer junger Mann war ihm höchst willkommen.

Um Kevin drehte sich eine ganze Weile lang alles, er begriff nicht gleich, was er da in Händen hielt.
Die Erfüllung seines langjährigen Lebenstraumes, nicht mehr und nicht weniger!
Aber war das noch sein Traum?

Nach allem, was ihm an Gutem widerfahren war?
Er hatte noch immer keine Entscheidung für sich getroffen!
Natürlich würde er sein Leben nicht in einer Lagerhalle verbringen, aber ein Medizinstudium dauerte lange Jahre!

Philip würde elf oder zwölf sein, wenn er fertiger Arzt war.
Würde Kathi diesen Weg mit ihm gehen?
Büffeln, Prüfungen, Praktika, Seminare, ein Studentenleben?
Und dann?

Dann waren sie zwei Ärzte! Mit Nachtdiensten, unregelmäßigen Schichten!
Würde bei all dem das gemeinsame Leben auf der Strecke bleiben?
Zukunftsängste stürzten über ihn herein.
Er stand auf und ging in sein Zimmer.

Die Gäste blieben verunsichert zurück, Albert war weiß wie die Wand geworden.
Hatte er einen Fehler gemacht?
Sah ganz danach aus!

Er hatte das zusammen mit Angelika ausgeheckt, sie hatten beide den Plan als perfekt angesehen.
Hatten es doch nur gut gemeint!
Mit dieser Reaktion hatten sie nicht gerechnet.

Gregor beobachtete die beiden aufmerksam.
Sie schienen sehr vertraut miteinander zu sein.
Seltsam!

Sie kannten sich doch angeblich auch erst ein paar Wochen.
Warum hatte Albert den jungen Mann in eine solche Lage gebracht?
An seinem Geburtstag!
Kevin wurde heute 26, hatte einen knapp sechsjährigen Sohn, arbeitete seit Jahren zuverlässig, verdiente gutes Geld.

Der ältere Herr konnte ihn doch nicht behandeln wie einen Teenie!
Er schien nicht viel Erfahrung mit jungen Menschen zu haben.

Aber er wusste ja, dass der andere viele Jahre seines Lebens alleine verbracht hatte.
Sicher hatte er es gut gemeint, genau wie Kevins Mutter Angelika.
Aber ihn so zu überfahren, war nicht in Ordnung.

Pascal und Jakob standen bei Kathi, alle drei schienen von den Ereignissen ein wenig überfordert zu sein.
Sie hatten in den letzten Wochen mit Kevin über das Thema Studium gesprochen, hatten aber akzeptiert, dass der das selbst für sich entscheiden musste.
Träume änderten sich im Laufe eines Lebens, Prioritäten verschoben sich.

Kevin saß auf seinem Bett, fühlte sich wie in einem Flugzeug nach dem 100sten Looping.
Er musste zurück, er musste Albert danken für all seine Bemühungen.
Aber er schaffte es nicht!

Warum hatte der väterliche Freund nicht mit ihm gesprochen?
Warum hatte er seine Entscheidung für das Studium einfach vorausgesetzt?
Er kannte ihn doch kaum!
Er war noch nicht so weit!
Kathi! Er brauchte Kathi!

Sie musste ihm Sicherheit geben, sie musste seine Angst wegzaubern.
Wenn sie ihm versprach, zu ihm zu halten, den Weg gemeinsam mit ihm zu gehen, würde er sich in das Abenteuer stürzen, würde er es versuchen.
In diesem Augenblick klopfte es leise an der Türe.

Kathi fühlte mit Kevin. So sehr, dass ihr Herz schmerzte.
Warum hatten sie ihn nicht in Ruhe gelassen?
An diesem Tag, der nur ihm gehören sollte!

Dem ersten Geburtstag, den er hatte feiern können in all den Jahren!
Warum sahen sie ihn nicht als den erwachsenen Mann, der er war!
Das hatte sicher Angelika, die ihn immer wieder auf das Studium angesprochen hatte, zusammen mit Albert ausgeheckt!

Sie verstand natürlich auch die Mutter, die nur das Beste für ihren Sohn wollte.
Sie verstand auch Albert, der Kevin sehr in sein Herz geschlossen hatte, der ihn auch unendlich unterstützt hatte.

Aber es hatte eben an Feingefühl gefehlt.
Kevin vor all den Gästen damit zu konfrontieren, war nicht sehr gelungen.
Er hätte das in ein paar Tagen machen können, in einem ruhigen Gespräch!

Sie musste zu ihm!
Sie fühlte, dass er sie brauchte!

Sie ging zu seinem Zimmer, klopfte leise an die Türe, öffnete sie vorsichtig.
Er kam ihr entgegengelaufen, nahm sie fest in die Arme.
Seine Tränen benetzten ihre Wangen.

„Ich habe mich kindisch benommen!" sagte er mit tränenerstickter Stimme.
Sie strich über seinen Rücken. „Nein, das hast du nicht, Kevin! Albert war übergriffig! Das ist ganz alleine dein Leben! Niemand hat das Recht, über den Kopf eines 26jährigen hinweg so wichtige Entscheidungen zu treffen!"

Kevin atmete erleichtert auf. Er hatte gewusst, dass sie ihn verstehen würde. Er ließ sich wieder auf das Bett fallen, zog sie auf seinen Schoß. Die Ängste brachen aus ihm heraus, er redete lange, hoffte, er konnte alle so formulieren, dass er nicht wie ein quengeliges, undankbares Kind klang.

„Es ist nicht so, dass ich kein Vertrauen in unsere Beziehung habe, aber ich weiß einfach zu wenig über Beziehungen! Was sie aushalten, was man tun muss, was ihnen guttut, was ihnen schadet. Ich will keine Fehler machen! Es ist alles so wunderbar zur Zeit, ich will das einfach nicht aufs Spiel setzen!"

Er schnäuzte, die Tränen hatten aufgehört zu laufen.
„Dann der Kita-Platz für Philip! Er ist mein Sohn! Wir beide, du und ich, entscheiden, ob eine Kita gut für ihn ist! Und wenn nicht, finden wir eine andere Lösung!"

Kathi küsste ihn vorsichtig für das „ wir beide".
Kevin argumentierte weiter. „Ich verstehe Albert und auch meine Mutter schon, dass sie nur Gutes im Sinn hatten. Du weißt ja, wie wichtig es für sie ist, dass ich studiere. Aber ich kann nicht meiner Mutter zu Liebe einen Weg gehen, hinter dem ich nicht stehe!"

Kathi ließ ihn einfach reden. Danach sah er sie fragend an.
Sie holte tief Luft. „Ich bin in allem deiner Meinung, Kevin, und ich werde hinter jedem Weg stehen, den du für dich und deinen Sohn als besten ansiehst. Aber, bis das Semester anfängt, sind es noch fast vier Monate, also fast noch einmal so lange, wie wir uns bisher kennen. Das mit dem Studienstress darfst du nicht zu eng sehen. Du bist sehr intelligent, lernst leicht, du hast aus meinen Büchern den Stoff des ersten Semesters schon ziemlich drauf. Durch die staatliche und Alberts Unterstützung musst du nicht jobben wie die meisten Studenten. Du wirst wahrscheinlich mehr Zeit haben für Philip und mich, als wenn du im Lager weiterarbeitest. Das mit der Kita entscheiden wir, wenn es so weit ist. Das heißt, du entscheidest, denn du alleine bist Philips wunderbarer Vater, warst es immer!"

Bei jedem ihrer Sätze wurde Kevin leichter ums Herz. Sie hatte Recht, mit jedem einzelnen Wort. Sie kannte sich aus mit dem Medizinstudium, wusste, worüber sie sprach.
Sie zauberte seine Angst einfach weg!

Das konnte sie gut.
Und plötzlich erschien alles ganz leicht zu sein. Sie beide würden es schaffen. Er würde seinen Traum leben können.
Weil es Kathi gab!
Weil es in einer seiner schlimmsten Nächte im Leben ein Gewitter gegeben hatte.
Weil das Schicksal so entschieden hatte!

Er hielt ihr seine Hand hin, sie schlug ihn ab. „Ein Team?" fragte sie.
„Ein Dreamteam!" antwortete er und küsste sie zärtlich.
Engumschlungen gingen sie zu den Gästen zurück, die sich nur leise unterhielten. Die Stimmung war ziemlich abgekühlt.

Doch das Lächeln auf Kevins Gesicht ließ alle aufatmen.
Er ging zu Albert, schlug ihm auf die Schulter. „Sorry! Ich war ein wenig überfahren und ängstlich! Aber zum Glück habe ich ja die Frau Dr. Dr. an meiner Seite, die Angst wegzaubern kann! Ich danke dir also von ganzem Herzen, und auch meiner Mutter, die dich wahrscheinlich dazu angestiftet hat."

Angelika nahm ihren geliebten Sohn in die Arme. „Wir wollten dich nicht überfahren, Kevin! Wir hatten in unserer ganzen Euphorie einfach zu wenig nachgedacht!"

Kevin wunderte sich nur kurz über das „wir" und „unser" – die beiden hatten sich erst zweimal getroffen – vergaß es aber wieder, als die anderen Gäste ihn zu seinem Entschluss beglückwünschten.

Philip, Aaron und Sarah kamen angesaust, hatten zum Glück von der ganzen Missstimmung nichts mitbekommen. Sie hatten an Philips Computer, den Albert für den Jungen gekauft hatte, damit er auch bei ihm genügend Beschäftigung fand, gerechnet und Geschichten von Philip gelesen.

Der Junge war gar nicht mehr anders, so wie am Anfang, als er kaum gesprochen hatte, als er alles immer nur aufgeschrieben hatte.
Sarahs Augen hingen an dem hübschen Jungen. Ronja, Pascals Frau lachte leise vor sich hin.

„Ich glaube, da gibt es bald eine Verlobung!"
Die Stimmung war wieder heiter und losgelöst.

Die Kinder sangen ein Geburtstagslied für Kevin, die Erwachsenen stimmten mit ein.
Beim Refrain „Wie schön, dass du geboren bist! Wir hätten dich sonst sehr vermisst!", rollte eine Träne über Alberts Wange. Er griff nach Angelikas Hand, was nur Gregor bemerkte.


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