Kapitel 25
Die nächsten Monate VI
Albert tigerte in seinem Zimmer auf und ab.
Er war mit den Nerven total am Ende.
Was schlug das Schicksal doch für Kapriolen!
Kevin war sein Sohn und Philip sein Enkelsohn!
Angelika war sein Engelchen, da gab es keinen Zweifel. Ihre blauen Augen - Kevins Augen - hatten ihn von dem Foto angestrahlt.
Ihr schöner Mund - Kevins Mund - hatte ihn angelächelt.
Er kramte ein Bild von sich in jungen Jahren heraus und wunderte sich, dass er die Wahrheit nicht schon lange erkannt hatte.
Bis auf die Lippen, seine waren schmaler, und die Augenfarbe, war ihm Kevin wie aus dem Gesicht geschnitten!
Sie hatte nicht abgetrieben, sie hatte seinen Sohn nicht getötet!
Natürlich hatte sie das nicht getan!
Sie hatte ihn ihrem Mann untergeschoben, hatte ihn aber geliebt, mehr als die anderen Söhne.
Weil er sein Kind war?
Hatte sie ihn geliebt?
Hatte ihr letzter Blick ihm das sagen wollen?
Tränen liefen ihm übers Gesicht.
Sein Engelchen hatte seinen Sohn geboren, vor mehr als 25 Jahren!
Aber Kevin durfte nie erfahren, was er selbst seiner Mutter angetan hatte.
Er könnte die Verachtung in seinen Augen nicht ertragen, die Enttäuschung, die der Junge schon ahnte.
Ob Angelika von ihm wusste?
Hatte Kevin von ihm erzählt?
Würde sie schweigen?
Oder würde sie als späte Rache sein Glück heute im Alter zerschlagen?
Er musste mit ihr sprechen, musste sie anbetteln, zu schweigen.
Musste ihr so viel Geld geben wie sie verlangte.
Plötzlich hielt er inne.
Nein! Kein Geld! Auf keinen Fall!
Nicht wie damals!
Damit würde er alles endgültig zerstören!
Er musste als Büßer kommen, um Vergebung bitten, flehen!
Kevin hatte die Straße erwähnt, in der sie wohnte. Er würde sie finden, und wenn er alle Klingelschilder lesen musste.
Sie musste Mitleid mit ihm haben, durfte ihm seine Familie nicht wegnehmen!
Muss sie? So wie du damals Mitleid mit ihr gehabt hast? fragte er sich selbst.
Er fand keine Minute Schlaf in dieser Nacht. Immer wieder spielte er das Gespräch mit Angelika durch, suchte nach den richtigen Worten, zog alle möglichen Antworten von ihr in Erwägung.
Kevin wunderte sich am nächsten Morgen, wie schlecht Albert aussah. Kathi war schon eine Weile weg, hatte versprochen, abends einen Übernachtungskoffer mitzubringen, fürs erste.
„Ich habe nicht gut geschlafen!" antwortete Albert kurz angebunden. „Heute kann ich mich nicht um Philip kümmern, wenn ihr weggehen wollt. Ich habe um sechs einen Termin!"
„Ist was los? Musst du zum Arzt?" Kevin machte sich wirklich Sorgen.
„Nein! Was persönliches!" antwortete Albert.
Da kam zum Glück Philip angesprungen, fiel seinem geliebten Papa um den Hals. „Oma Angelika?" fragte er.
„Ja! Wir waren bei ihr! Wir sollen dich ganz lieb grüßen!" antwortete Kevin.
„Immer noch nett?" wollte Philip sicher gehen.
Kevin lachte. „Ja! Und sie wird es auch bleiben!"
„Dr. Kathi zu Hause?" Der Junge war sicher, die beiden lachen gehört zu haben.
„Sie ist schon in der Arbeit!" antwortete Kevin und drückte den Kleinen, der immer mehr zu sprechen begann, an sich.
„Heute Abend? Papa, Dr. Kathi und Philip?"
„Ja! Heute Abend bleiben wir bei dir! Aber jetzt muss ich zur Arbeit, Sohnemann!" erklärte Kevin. „Um fünf bin ich da!" versprach er Albert.
Der ehemalige Hotelier wurde immer nervöser, war kurz davor, seinen Plan zu verwerfen. Doch die Gefahr war zu groß, dass der Junge die Wahrheit erfuhr und dann nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte.
Dass er die beiden, oder eigentlich die drei, verlieren würde.
Denn auch Kathi liebte er sehr.
Kaum hatte Kevin die Wohnungstüre aufgeschlossen, machte Albert sich auf den Weg. Er begann bei den Häusern nach Angelikas Namen zu suchen, die am ehesten nach Single-Wohnungen aussahen.
Beim vierten Wohnturm wurde er fündig. „Angelika Berger" las er auf einem der Schilder im 4. Stock.
Zum Glück für ihn hatte sie ihren Mädchennamen nicht wieder angenommen! dachte er.
Er strich ein Weile über die zwei Worte: Angelika Berger, dann drückte er mutig auf den kleinen, silbernen Knopf.
„Ja, bitte?" hörte er kurz drauf ihre Stimme aus dem Lautsprecher.
Damit hatte er jetzt nicht gerechnet. Er hatte sich vorgestellt, dass sie ihm die Wohnungstür öffnete, sie entweder gleich wieder zuschlug oder ihn hineinbat.
Aber sein Anliegen einer körperlosen Stimme mitzuteilen, überforderte ihn einen Augenblick lang.
Doch er fasste sich schnell wieder, nicht, dass sie wegging, wenn er sich nicht meldete.
„Hallo, Angelika! Hier ist Albert!" brachte er nur hervor.
Er wartete.
Worauf?
Auf einen Fluch?
Eine Verwünschung?
Eine Beleidigung?
Mit allerlei hatte er gerechnet, aber nicht mit diesem erstaunten: „Ach? Na, dann komm mal rauf!"
Mit zitternden Fingern drückte er den Aufzugknopf.
Ich hätte Blumen mitbringen sollen! dachte er.
Aber er hatte noch nie einer Frau Blumen geschenkt.
Er hatte auch noch nie eine Frau um Verzeihung gebeten.
Sie stand in der offenen Türe, die Arme vor sich in Abwehrhaltung verschränkt.
Ihre blauen Augen blitzten ihn an.
„Der Herr Hotelier!" sagte sie ätzend. „Damit habe ich auf meine alten Tage auch nicht rechnen können."
Sie trat zur Seite, ließ ihn eintreten, bot ihm einen Sitzplatz an, aber sonst nichts.
Sie ist noch immer schön! dachte er. Schöner, als auf dem Foto zu erkennen gewesen war.
„Wie hast du es herausgefunden?" Sie wusste, warum er gekommen war.
„Kevin hat mir ein Foto von dir gezeigt, und das war das letzte Puzzleteilchen. Auf einmal passte alles.
Deine Augen, dein Mund, mein Gesicht, das Alter, dein Name. Das konnte alles kein Zufall sein!" erklärte er mit gesenktem Kopf.
„Und wo ich wohne? Hat mein Sohn es dir gesagt?" Sie betonte das Wort „mein".
„Nein! Er hat die Straße erwähnt, und ich habe alle Klingelschilder gelesen. Es waren eine ganze Menge!" versuchte er einen Scherz zu machen, der aber an ihr abprallte.
„Und jetzt? Was hast du jetzt vor? Hast du es ihm schon gesagt? Willst du ihn mir mit deiner ganzen Kohle wegnehmen?" Sie fürchtete das Schlimmste. Sie hatte Kevin eben erst zurückbekommen. Das würde sie nicht zulassen.
Er schüttelte entsetzt den Kopf. Sie hatte noch immer die denkbar schlechteste Meinung von ihm.
Was ja auch wirklich kein Wunder war.
„Nein, Angelika. Im Gegenteil. Ich wollte dich bitten, dass er es nie erfährt, dass ich sein Vater bin!" versicherte er schnell.
Sie atmete auf. Das war gut! Doch so ganz verstand sie seine Beweggründe noch nicht.
„Und warum nicht? Ich dachte, du magst Kevin und Philip!"
„Ich mag sie nicht, ich liebe die beiden Jungs. Vom ersten Tag an, als ein verrücktes Schicksal sie in mein Hotel gebracht hatte. Aber Kevin ist clever! Er wird sofort wissen, dass ich damals ordentlichen Mist gebaut habe, und dann werde ich ihn und den Kleinen verlieren. Ich wollte dich bitten, dass du ihm nichts sagst!"
Das konnte sie nachvollziehen. Diese Gefahr bestand durchaus, wenn ihr Sohn die Wahrheit erfahren würde. Und ihr würde er auch nicht so einfach verzeihen können, dass sie ihm die Wahrheit über Albert vorenthalten hatte.
Ihm den Namen eines anonymen Vaters zu verschweigen, war eine Sache. Aber ihn über seinen großen Gönner im Unklaren zu lassen, würde er nicht so einfach wegstecken können.
„Gut! Dann lassen wir es so, wie es ist. Eine Mutter auf der einen Seite, ein väterlicher Freund und Wohltäter auf der anderen!" schlug sie vor.
Albert fiel ein Stein vom Herzen. „Danke!" sagte er nur und wischte sich die Augen trocken.
„Ich koche uns mal einen Kaffee!" meinte sie und stand auf. Sie hatte das Gefühl, beide brauchten ein paar Minuten für sich alleine, um sich zu sammeln.
Albert wischte sich über das Gesicht. Was für eine tolle Frau aus seinem Engelchen geworden war!
Was war er nur für ein überheblicher Vollidiot gewesen!
Wie glücklich hätte er mit ihr und dem gemeinsamen Sohn werden können!
Doch dann spann er den Faden weiter.
Wenn Kevin in einer intakten Familie aufgewachsen wäre, hätten ihn seine Halbbrüder nicht so grausam vorführen können, was wiederum hieß, dass Philip nie geboren worden wäre. Ein anderes Enkelkind vielleicht, aber niemals dieser sonderbare, so überaus liebenswerte Junge.
Allerdings hätte es dann auch drei von diesen Ratten nie gegeben!
Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Doch eigentlich war das sinnlos. Niemand konnte das Rad der Zeit zurückdrehen, auch er nicht.
Niemand konnte Vergangenes ungeschehen machen.
Er sah sich um. Alles war hübsch und sauber, aber sehr einfach. Ob sie etwas brauchte? Doch schnell rief er sich wieder zur Ordnung.
Er hatte nicht das geringste Recht, in ihr Leben einzugreifen.
Das hatte er damals verwirkt, als er ihr das Geld in die Hand gedrückt hatte, als er diesen hoffnungsvollen Blick ignoriert hatte, den sie ihm zugeworfen hatte.
Ein für alle Mal!
Als sie mit dem Tablett zurückkam, als sie eingeschenkt hatte, mussten die Worte, die ihn eigentlich hergetrieben hatten, aus ihm heraus.
„Kannst du mir verzeihen, Angelika?" fragte er heiser vor ungeweinten Tränen.
Sie sah ihn offen an. „Das habe ich längst, Albert! Kevin hat mich überreich entschädigt für deine Kälte. Er war der Inhalt meines Lebens, nur für ihn habe ich durchgehalten!"
„Ich bin dir so dankbar, dass du nicht abgetrieben hast!" flüsterte er.
„Daran habe ich nicht eine Sekunde lang gedacht! Bei den nächsten dreien ist mir schon hin und wieder der Gedanke gekommen, aber niemals bei Kevin." versicherte sie.
Sie schwiegen wieder eine Weile, aber es war kein peinliches Schweigen. Jeder hing seinen Gedanken und Erinnerungen nach.
„Wie hast du das eigentlich geschafft, ihn so gut hinzukriegen? Ich meine, in diesem Milieu?" fragte er schließlich.
Ihre Blicke schweiften ab. „Ich hatte jeden Pfennig, den ich bei dir verdient hatte, gespart. Natürlich nicht für ein Kind von dir, aber ich habe gedacht, ich schaffe vielleicht den Absprung. Davon habe ich ihm bessere Sachen zu Anziehen gekauft, hab den anderen erzählt, die Sachen kommen aus der Kleiderkammer irgendeiner Wohltätigkeitsinstitution. Ich habe darauf geachtet, dass er sich pflegt, dass er gesund isst, dass er lernt.
Als er in den Kindergarten gekommen ist, habe ich in Privathaushalten geputzt, natürlich wieder heimlich. Die Schwangerschaften haben mich immer wieder ausgebremst, aber eine Tante hat mich sehr unterstützt, hat immer wieder die Kinder genommen.
Als Herrmann dann gefeuert wurde, war es schwieriger. Da musste ich warten, bis er besoffen genug war, dass ich aus dem Haus konnte. Meine Arbeitgeber waren sehr zufrieden mit mir, haben es toleriert, dass ich sehr unregelmäßig aufgetaucht bin.
Als er dann zu den Domspatzen gekommen ist, hatte ich ein großes Ziel erreicht. Das war ein gutes Umfeld für ihn, er wurde oft zu Mitschülern eingeladen, bekam auch hin und wieder Klamotten von den reichen Söhnchen, die diese nicht mehr wollten.
Er war fast den ganzen Tag in der Schule, mit den ganzen Proben und so, bekam auch Mittagessen dort. Und er war ein sehr zielstrebiges Kind. Außer dem Lernen und der Musik gab es nichts für ihn!"
Es tat so gut, über all das einmal zu sprechen.
Albert hing an ihren Lippen, sog jedes Wort in sich auf.
Er sah den kleinen Kevin am Klavier, über seinen Büchern, auf der Bühne. Er sah ein hübsches Kind, wie Philip eines war, das sich nicht beirren ließ von Spott und Angriffen, verbalen und sicher auch körperlichen. Er war ein Prachtbursche gewesen, dank Angelikas unermüdlichen Anstrengungen.
Was für eine Frau!
Und er hatte sie gehen lassen!
Nein! Schlimmer! Er hatte sie weggejagt, mit einem Kuvert mit ein paar Scheinen darin!
„Danke!" sagte er schließlich. „Danke für unseren Sohn und unser Enkelkind. Danke für deine Stärke und deine Großzügigkeit mir gegenüber! Danke, dass es dich in meinem Leben gegeben hat!"
Angelika lächelte ihn an. In ihrem Herzen war es etwas wärmer geworden. Der eingebildete, kalte Mann, den sie einmal geliebt hatte, war Vergangenheit.
Das hatte wohl vor allem mit dem Alter zu tun, aber wohl auch ein wenig mit Kevin und Philip.
Und womöglich auch mit ihr!
Heute sah er sie mit anderen Augen, da war sie sicher.
Damals war sie ein Spielzeug für ihn gewesen, das man jederzeit austauschen konnte, wenn es einen langweilte.
Sie wusste nicht, wie lange das Verhältnis angedauert hätte, wenn sie nicht schwanger geworden wäre.
Sie würde das auch nie erfahren.
„Und du? Warum hast du nie geheiratet?" fragte sie.
Er sah sie an, sein Blick schien sie zu durchdringen, schien aber auch seine Seele sichtbar werden zu lassen.
„Ich habe kein Engelchen mehr gefunden!" sagte er. „Ich hatte dich geliebt, aber mich eben noch mehr! Ich habe es mehr als tausend Mal bereut, Angelika, dass ich dir das nie sagen konnte!"
Das war jetzt etwas zu viel für sie. Damit konnte sie im Moment nicht umgehen. Sie stand auf. „Ich glaube, du gehst jetzt besser!" sagte sie leise.
„Natürlich! Aber wir sehen uns wieder, oder? Ich meine, bei Geburtstagen oder so?" fragte er vorsichtig nach.
„Ja! Wir werden es versuchen!" gestand sie ihm zu. Dann nahm sie ihren ganzen Mut zusammen. „Ich hätte noch eine Bitte, Albert! Versuche ihn zu überreden, zu studieren! Und unterstütze ihn, wenn es nötig ist!"
„Natürlich, Angelika! Das hatte ich sowieso schon vor! Wirklich! Ich war auch schon an der Uni, habe mich erkundigt, wie das so ablaufen würde. Kathi wäre da auf unserer Seite, das fühle ich. Sie möchte auch, dass sein Traum Wirklichkeit wird. Noch dazu, weil sie Ärztin aus Leidenschaft ist. Aber ich kann mich auch nicht zu sehr in sein Leben einmischen. Er ist erwachsen. Das muss er selbst entscheiden! Er sagt immer, er will noch warten, bis Philip stabiler ist, aber wenn wir alle zusammen helfen würden, kriegen wir das schon hin!"
Die Worte sprudelten nur so aus seiner Seele. Es tat gut, das alles auszusprechen, worüber er immer und wieder gegrübelt hatte.
Da merkte Angelika, dass er Kevin wirklich liebte, so wie sie.
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