Kapitel 22
Die nächsten Monate - III
Zu Hause sah ihn sein Sohn vorwurfsvoll an, zeigte auf die große Wanduhr.
„Ich weiß! Entschuldige! Ich war bei Oma Angelika." erklärte Kevin.
Philip erstarrte, fing an zu wippen.
Hin – her.
Oma Angelika! Opa Hermann! Onkel Dustin!
Vor – zurück.
Mama! Selina!
Kevin nahm ihn hoch, strich beruhigend über seinen Rücken. „Nein, nein! Keine Angst! Sie ist alleine in einer kleinen Wohnung und ist sehr nett! Sie hat Bilder von dir an der Wand hängen, weil sie dich so lieb hat! Alles ist gut, Philip! Alles ist gut, mein Großer!"
Der Junge sah ihn noch misstrauisch an. Der Papa sagte immer die Wahrheit, also brauchte er keine Angst zu haben.
Wenn er sagte, dass Oma Angelika nett ist, war es auch so.
Er nickte zustimmend.
Kevin atmete auf. Die Sippe löste immer noch schwere Angstattacken in seinem Sohn aus. Was, wenn Dustin seine Drohung wahr machte und sich dem Kleinen näherte?
Er brauchte Kathis gesunden Menschenverstand, ihren Trost, ihr Verständnis.
„Fahren wir zu Kathi?" schlug er vor. Er hätte nicht zu fragen brauchen, das wusste er. Philip strampelte sich frei, zog Schuhe und Jacke an.
„Ich muss noch schnell anrufen!" erklärte Kevin.
Philip wirbelte mit der Hand in der Luft. „Dann mach schon!" hieß das.
Sie meldete sich nahezu sofort, hatte ja gewusst, dass er heute zu seiner Mutter wollte.
„Wir kommen noch schnell vorbei, wenn es dir recht ist!" sagte er etwas atemlos.
„Ihr könnt auch langsam vorbeikommen!" antwortete sie lachend. „Morgen ist Samstag, und wir haben frei!"
Ah! Das hatte er ganz vergessen. Doch sofort ritt ihn der Schalk. „Okay, Baby!" hauchte er in den Hörer. „Dann bleiben wir über Nacht, und ich komme ganz langsam!"
Ihr heiseres Lachen zeigte ihm, dass sie die zweideutige Anspielung verstanden hatte.
Natürlich hatte sie!
Sie war ja seine Kathi!
Er sagte schnell Albert Bescheid, der sich den Freitagsabendkrimi ansah.
Philip durfte noch eine Stunde an den Computer. Während der Zeit erzählte er ihr von seinem Treffen mit seiner so veränderten Mutter.
Sie freute sich unheimlich mit ihm, auch darüber, dass der Kretin, von dem er ihr so viel erzählt hatte, nicht sein Erzeuger war!
Sie kochten zusammen, dann ging Philip schlafen.
„Und was mache ich jetzt mit Dustin?" fragte Kevin Kathi.
„Ruf ihn an! Sag, du kannst sie nicht finden. Vielleicht kannst du ihm bringen, was er braucht!" schlug sie vor. Er musste sein schlaues, süßes, schönes, verführerisches Mädchen nun endlich ausgiebig küssen.
Mein Gott! Wie sie wieder duftete!
Und dann machte er seine Anspielung vom Telefonat wahr.
Am nächsten Tag erreichte er tatsächlich Dustin in der JVA und machte ihm Kathis Vorschlag.
„Kann ich dir trauen?" fragte der Bruder.
„Musst du wohl! Die anderen wohnen ja bei dir!" meinte Kevin nur.
„Wenn du mich linkst, schnappt sich einer meiner Kumpel deine Freundin!" drohte Dustin wieder.
„Was hast du nur immer mit meiner Freundin? Ich habe gar keine!" Das war ein Schuss ins Blaue, Kevin wollte erfahren, wie viele Informationen der Ältere wirklich hatte.
„Ach nee? Und warum warst du dann so heiser bei meinem Anruf?" Es hatte geklappt! Der Idiot hatte keine Ahnung.
„Ein One-Night-Stand! Weißt du noch, was das ist?" Die Spitze konnte sich Kevin nicht verbeißen.
„Werd nicht frech, Klugscheißer! Also! Du kommst heute vorbei, holst dir einen Schlüssel für ein Schließfach ab, holst die Kohle raus und bringst sie mir! Kapito?" Die ganze Dummheit des Bruders offenbarte sich in diesen Worten.
„Klar! Mach ich doch gerne für den Vater des Kindes, für das ich vier Jahre lang malocht habe!" Kevins Ironie troff durch den Hörer.
„Okay! Das ist nicht super gewesen von mir, das war eigentlich Kacke!" Dustin wand sich bei dieser Art von Entschuldigung.
„Ah! Schwamm drüber! Wann ist Besuchszeit? Brauche ich irgendeinen Wisch?" wollte Kevin wissen.
„Komm um sechs. Bis dahin hat mein Anwalt einen Besuchsschein für dich an der Pforte hinterlegt. Auch gleich einen für morgen, wenn du mir die Moneten bringst!"
Um sechs fuhr Kathi ihn zum Gefängnis, eine Viertelstunde später kam er zurück. In seinem Kopf hatte er sich schon einen Plan zurechtgelegt.
Er holte die Kohle – 26.000 Euro! – fuhr mit dem Bus zu seiner alten Wohnung.
Mary fiel beinahe in Ohnmacht, als sie die Türe öffnete. Ihr Kevin! Er war schon verdammt heiß! Warum hatte sie es mit ihm nicht auf die Reihe gekriegt?
„Komm ... komm doch rein!" stotterte sie, konnte kaum den Blick von ihm lösen.
Da kam Selina angerannt. „Ah! Der Trottel! Wo ist denn der Behinderte?" brüllte sie.
Mary gab ihr eine Ohrfeige, Kevin zuckte zusammen.
Ein Kind schlug man nicht! Niemals!
Selina lief brüllend weg, Kevin versuchte zu atmen.
Hier hatte er gelebt, vegetiert!
Sechs lange Jahre!
„Ich habe jetzt keine Zeit. Ich bringe dir Geld im Auftrag von Dustin. Für dich und eure Tochter!" Er drückte ihr das Kuvert in die Hand und flüchtete, hoffte, er müsste nie wieder hierher zurückkommen.
Am Sonntag besuchte eine glückliche Mary den Vater ihrer Tochter. „Danke, Dustin! Ich wusste, dass du dich um uns kümmern wirst!" Sie hauchte einen Kuss in seine Richtung.
Dustin sah sie verständnislos an.
„Das Geld, das Kevin mir von dir gebracht hat!" erklärte sie.
Da begriff er, dass der Klugscheißer, dass das Vögelchen ihn reingelegt hatte! Aber so was von!
Und seltsamer Weise musste er ihm Hochachtung zollen, konnte nicht wütend explodieren!
Er erkannte, dass der Bruder im Recht gewesen war. Vier Jahre lang hatte der seine Tochter versorgt, da war diese Reaktion durchaus nachvollziehbar!
„Das ist doch das Mindeste, was ich für dich und die Kleine tun kann!" erklärte er und versuchte, das Beste aus dem Ganzen zu machen.
Kevin befürchtete wütende Anrufe aus dem Knast, neue Drohungen. Aber die blieben aus.
Er hatte es dem Idioten gezeigt.
Zum ersten Mal hatte er sich gewehrt, hatte er zurückgeschlagen.
Und Dustin schien verstanden zu haben.
Zur Feier ihres gelungenen Coups gingen Kathi und Kevin ins Kino, nachdem sie Philip zu Albert gebracht hatten. Danach aßen sie eine Kleinigkeit am Imbissstand, ließen den Abend in der kleinen Bar ausklingen.
Der Barkeeper freute sich wie immer, wenn er das glückliche Paar, das sich bei ihm gefunden hatte, sah.
Und wie immer, wenn sie vorbeikamen, tanzten sie und himmelten sich an, bis er sie hinauswerfen musste.
Und wie immer gingen sein Mineralwasser und ihr Cocktail aufs Haus, weil er die Kasse schon gemacht hatte.
Und wie immer küssten sie sich ewig vor der Türe, bevor sie durch die Straßen davontaumelten.
Und wie immer dachte er mit Tränen in den Augen: Einmal finde ich auch so eine Liebe!
Und wie immer feierten die beiden eine Nacht lang ihre Liebe. Daran hatte sich nichts geändert.
Eine Woche danach besuchten sie seine Mutter. Zuerst einmal alleine, Philip musste sich erst an den Gedanken gewöhnen, dass Oma Angelika nett war.
Er sagte mehrmals täglich ihren Namen vor sich hin, gerade so, als würde er austesten wollen, ob er ihm noch Angst machte.
Albert lächelte über den Kleinen, er war total vernarrt in ihn.
Angelika! dachte er. So hatte das Mädchen geheißen. „Engelchen" hatte er sie immer genannt, als seine Welt noch in Ordnung war.
Als sie für ihn da war, wann immer er sie wollte.
Als sie aber auch immer wieder ging.
Nie blieb sie über Nacht, er fragte nie, warum.
Es war ihm recht so.
Er hatte sich keine Gedanken darüber gemacht, aus welcher Familie sie kam, ob sie womöglich gebunden war.
Er war mit ihrem Körper zufrieden gewesen, mit der Psyche einer Frau wollte er wenig zu tun haben.
Seine eigene erfüllte ihn ganz und gar.
Er sah sie gerne an, hörte ihr Lachen gerne, mochte es, wie sie ihn ansah.
Er bezahlte sie für ihre Arbeit ordentlich, aber er bezahlte sie nie für all die anderen Gefälligkeiten.
Dann war sie weg, und er war auch zufrieden. Es würde eine andere kommen.
Aber es kam keine, keine wie sie, keine für lange.
Er war 40 Jahre alt gewesen, aber das Leben war ab dem Tag, als sie gegangen war, als sie ihm diesen Blick zugeworfen hatte, als ihre Augen ihn angefleht hatten, um was auch immer, für ihn eigentlich zu Ende gewesen.
Bis Kevin in sein Leben gestolpert war, beladen mit ein paar Plastiktüten, mit einem kleinen, seltsamen Jungen an der Hand.
Seitdem war er glücklich. So glücklich wie in den Monaten mit dem Engelchen, doch das konnte er sich erst heute eingestehen.
Angelika war etwas enttäuscht, dass ihr Enkelsohn nicht mitgekommen war, verstand aber die Erklärung, die Kathi ihr gab: „Er ist auf einem guten Weg, aber alles aus der Vergangenheit verunsichert ihn noch sehr!"
Sie mochte die schöne und kluge Frau vom ersten Augenblick an. Wie anders wäre doch Kevins Leben verlaufen, wenn er damals ein solches Mädchen kennengelernt hätte!
Eine Tochter wie sie hatte sie sich immer gewünscht. Dann wäre sie weggegangen, ein Mädchen hätte sie nie in diesem Umfeld gelassen.
Kevin war stark genug, das hatte sie immer gewusst. Sie hatte ihn sehr genau beobachtet, als er unbeirrt seinen Weg gegangen war, scheinbar unbeeindruckt alle Schikanen und jeden Spott ertragen hatte.
Erst die Schwangerschaft dieses Weibes hatte ihn ausgebremst, aus Verantwortungsgefühl hatte er alle seine Pläne über Bord geworfen.
„Willst du nicht doch noch studieren?" fragte sie eine Weile später.
Kevins Blick ging ins Leere, und Kathi drückte es schier das Herz ab. Sie hatte oft schon darüber nachgedacht, ihm den gleichen Vorschlag zu machen. Sie verdiente genug, sie hätte ihn unterstützen können.
Er tat ihr so sehr leid, dass ihr oft die Tränen kamen, wenn sie daran dachte, was er für Pläne gehabt hatte, für Träume.
Wenn sie sich vorstellte, in ihrem Leben wäre etwas geschehen, das sie daran gehindert hätte, Medizin zu studieren, sie wusste nicht, wie sie das verkraftet hätte!
Aber irgendwie hatte sie immer eine gewisse Scheu verspürt, ihm ein solches Angebot zu machen. Es war ja auch noch alles so neu, sie waren so kurze Zeit zusammen. Und da war auch noch sein Stolz, den sie um nichts auf der Welt verletzen wollte.
Sie sprachen nie über Liebe, machten keine großen Zukunftspläne, aber sie wusste, dass sie ihn liebte, dass sie mit ihm zusammenbleiben wollte.
Aber sie wollte auch nicht klammern, ihn nicht zu sehr vereinnahmen, nach all dem, was er hinter sich hatte.
Kevin Blick kam zu seiner Mutter zurück. „Vielleicht! Wenn Philip stabiler ist. Ich bin ja noch jung!" scherzte er, doch Kathi hörte die leichte Bitterkeit in seiner Stimme.
„Komm uns doch mal besuchen!" schlug Kathi vor. „Wir können dich abholen und wieder nach Hause bringen!"
Angelika antwortete nicht sofort. „Ist dieser Albert oft bei euch?"
Kevin wunderte sich ein wenig über diese ausweichende Antwort. „Was heißt oft? Mal zum Essen, mal sind wir bei ihm, mal bleibt Philip dort, und ich fahre zu Kathi, da gibt es keine festen Abläufe, wir entscheiden aus dem Bauch und aus dem Herzen heraus!"
„Aber, wenn ich komme, möchte ich alleine mit euch sein!" erklärte Angelika und kam sich ziemlich dämlich bei dieser Aussage vor.
Kevin hob verwundert eine Augenbraue. „Ja! Ja klar! Wenn du das so willst?"
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