Kapitel 21
Die nächsten Monate II
Pascal lud sie zu einem Grillfest ein, Philip spielte begeistert mit Sarah und Aaron, die ihr Vater auf den Jungen vorbereitet hatte, der etwas anders war.
Sehr lieb, sehr klug, aber eben anders.
An diesem Abend nahm Pascal Kevin zur Seite. „Kathi hat nicht viel erzählt, nur, dass du einen Studienplatz für Medizin hattest, dann aber Philip geboren wurde. Warum studierst du denn nicht jetzt noch? Ich meine, du bist 25! Manche Quereinsteiger fangen später an. Deine Abinote steht ja noch, und als alleinerziehender Vater hättest du gute Chancen auf ein Familienstipendium! Denk mal drüber nach!"
Damit war der Stachel gesetzt. Kevin hatte einen Anker, der ihn aus dem Kreislauf, in dem er steckte, ziehen könnte. Er recherchierte im Internet, erfuhr von vielen Möglichkeiten der Förderung, von denen er keine Ahnung gehabt hatte.
Doch er wollte nicht nach noch höheren Sternen greifen, wollte zufrieden sein, wie sein Leben sich entwickelt hatte. Und vor allem musste Philip stabiler werden. Er war das Wichtigste für ihn.
Kurz, nachdem seine Sippe in den Knast eingefahren war, läutete sein Handy. Er tauchte aus dem Strudel der Leidenschaft auf, der sie wieder einmal erwischt hatte.
Eigentlich wollte er nicht rangehen, noch dazu, da es sich um eine unbekannte Nummer handelte.
Doch er hatte dieses tiefsitzende Helfersyndrom. Es konnte immer sein, dass sein Chef oder ein Kollege oder Albert in Schwierigkeiten war und seine Hilfe brauchte.
„Berger?" meldete er sich heiser und bereute schon im nächsten Augenblick, den Anruf angenommen zu haben.
Das brüllende Lachen Dustins, des Bruders, den er am meisten hasste, drang an sein Ohr.
„Ah! Das Vögelchen ist heiser! Oder vögelt das Vögelchen wieder? Aber nicht die Mutter seines Sohnes, wie ich gehört habe!"
„Was willst du?" fuhr Kevin ihn an.
„Hey Kleiner! Etwas mehr Respekt vor dem älteren Bruder, wenn ich bitten darf!" wies Dustin ihn an.
„Was willst du?" brüllte Kevin und sprang aus dem Bett.
Er konnte Kathi nicht mit diesem Abschaum beschmutzen.
„Weißt du, wo die Alte steckt? Sie muss was für uns besorgen, aber sie ist ausgezogen, haben mir gutinformierte Quellen mitgeteilt!" erklärte der Bruder.
„Ich? Warum sollte ich was von der Schnapsdrossel wissen? Vielleicht hat sie sich zu Tode gesoffen? Oder liegt im Delirium im Krankenhaus?" wehrte Kevin ab. Er hatte schon seit Jahren keinen Kontakt zu der Frau, die seine Mutter war.
„Nein, das habe ich alles abgecheckt! Ich habe ja noch meine Verbindungen nach draußen! Also such sie und schick sie zu uns! Sonst krieg ich raus, wen das Vögelchen vögelt! Und den Behinderten finden wir auch!" drohte Dustin.
„Und wie soll ich das anstellen? Eine Annonce in der Zeitung schalten?" fragte Kevin. Sein Magen rebellierte heftig.
„Das ist dein Problem!" Dustin legte auf.
Kevin saß zitternd im Wohnzimmer. Wie konnte der Kerl es wagen, ihm zu drohen! Warum ließen sie ihn nicht endlich mal in Ruhe! Er hatte beim Prozess von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch gemacht, hatte weder den Vater noch die Brüder belastet, obwohl er eine Menge zu sagen gehabt hätte! Warum zogen sie ihn jetzt in irgendeinen Mist rein? Wieder einmal!
Kathi fand ihn wie paralysiert auf dem Sofa. Tränen liefen über sein Gesicht, die Hand hatte er sich vor Wut am Tisch blutig geschlagen.
„Was ist los?" fragte sie leise, und alles brach aus ihm heraus. Es war gut, dass es sie gab, dass sie da war für ihn. Sie strich ihm über den Rücken, wie er es immer bei Philip machte, und er wurde ruhiger. Alles würde gut werden, so lange es Kathi gab!
„Wir rufen morgen Frau Bronner an, vielleicht kann sie etwas herausfinden. Die verschiedenen Stellen sind ja ganz gut vernetzt!" schlug sie vor.
Er hatte es gewusst. Kathi würde eine Lösung finden! Wie immer!
Etwas beruhigter legte er sich neben sie, hielt sie fest im Arm, schlief schließlich ein.
Die Mitarbeiterin der Beratungsstelle, die schon so viel für ihn getan hatte, versprach auch dieses Mal ihre Hilfe. Nachmittags rief sie zurück, gab ihm die neue Adresse seiner Mutter.
„Aber das bleibt unter uns!" bat sie.
Am Abend nach der Arbeit fuhr er zu dem Appartementhaus, das einen sehr guten Eindruck machte.
Etwas verwundert klingelte er bei Berger. „Ja bitte?" meldete sich eine vage bekannte Stimme durch die Sprechanlage.
„Kevin hier! Lass mich mal rein!" erklärte er relativ ungnädig.
Angelikas Herz schlug schneller. Kevin! Ihr Augenstern! Der Sohn, auf den sie stolz sein konnte! Der Sohn, den sie lieben konnte, aber nie durfte, um ihn vor den anderen zu schützen.
Der Summer ertönte, die Tür sprang auf.
Kevin wunderte sich über das saubere Treppenhaus ganz ohne Schmierereien an den Wänden und ohne den Gestank nach Kohl und Urin.
Im vierten Stock stand eine Frau in der offenen Wohnungstür, die er erst auf den zweiten Blick erkannte. Gepflegt, in modischer Kleidung, nüchtern, stand da die Frau vor ihm, die er nur schmuddelig, stinkend und besoffen gekannt hatte.
Sie lächelte ihn an, wollte ihm über den Kopf streichen, doch er fuhr zurück.
Wer war diese Fremde?
Sie führte ihn in das kleine, aber blitzsaubere Appartement, er kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.
„Hier wohnst du jetzt?" fragte er schließlich.
„Ja! Ich musste den Absprung schaffen, solange die anderen sitzen. Etwas Besseres hätte mir nicht passieren können!"
„Und du trinkst nicht mehr? Einfach so? Von heute auf morgen?" Er sah sie ungläubig an, aber sie schien vollkommen nüchtern zu sein.
„Ich habe nie getrunken! Ich habe nur so getan, um Ruhe vor der ganzen Bande zu haben!" Sie erzählte ihm von ihrem Plan, nach Marvins Geburt einen Rest an eigenem Leben zu bekommen.
„Dann habe ich eben immer die Besoffene gespielt und konnte mich ins Schlafzimmer zurückziehen. Dort habe ich dann gelesen oder von einem besseren Leben geträumt!"
Kevin stiegen die Tränen in die Augen. Das war seine Mutter, und sie konnte erst jetzt, mit fast fünfzig, ihr Leben auf die Reihe bekommen! Sie hatte sechs Kinder geboren, war mit einem Tier verheiratet, aber sie wollte es schaffen!
Er ließ zu, dass sie ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich, sah etwas wie Liebe in ihren Augen, fühlte etwas wie Liebe in seinem Herzen.
„Erzähl von dir, Kevin! Bitte! Wie geht es dir? Wie geht es Philip? Ich bin so froh, dass du von Mary weg gekommen bist!"
Und er berichtete in groben Zügen, was nach dem Auszug von zu Hause alles geschehen war.
Bei dem Namen Albert zuckte sie kurz zusammen.
„Wie heißt das Hotel, in dem du gewohnt hast?" fragte sie, bemüht, unbeteiligt zu klingen.
„Kappl!" antwortete er und wunderte sich, dass sie plötzlich aufsprang.
„Ich koche uns einen Kaffee!" stieß sie hervor und zog sich in die winzige Küche zurück.
Dort musste sie erst einmal tief durchatmen.
Welch verrückte Wege war das Schicksal doch gegangen!
Albert Kappl! In dessen Hotel sie gearbeitet hatte, ohne dass ihr Mann davon wusste.
Albert Kappl, von dem sie geglaubt hatte, dass er sie liebte, den sie geliebt hatte.
Der ihr ein paar große Scheine in die Hand gedrückt hatte, damit sie das Kind, das sie von ihm erwartete, abtrieb.
Den sie nie wieder gesehen hatte.
Sie hatte nie auch nur eine Sekunde daran gedacht, dieses Kind ihrer einzigen Liebe zu töten.
Sie hatte das Geld in einen Büstenhalter eingenäht, hatte ihrem Mann ein Kuckuckskind untergeschoben, das einzige, das wohlgeraten war.
Doch noch immer durfte niemand etwas davon erfahren. In ein paar Jahren käme ihr Mann wieder frei.
Und gerade bei Albert hatte Kevin Unterschlupf gefunden, als er sich endlich von Mary getrennt hatte!
Während der Kaffee durch lief, fasste sie sich wieder.
Kevin saß auf dem Sofa, sah sich um.
Alles war penibel sauber, aufgeräumt, nett dekoriert, hatte nicht das Geringste mit der versifften Wohnung zu tun, in der er groß geworden war.
An der Wand hingen eine paar gerahmte Fotos. Er stand auf, um sie näher anzusehen. Es war immer nur er abgelichtet: Als Kleinkind mit dunklem Haarschopf, als er noch lächeln konnte, als Halbwüchsiger, sehr groß, sehr dünn, mit finsterem Blick, bei der Abifeier, als er am Pult stand und die Rede hielt, wie es dem besten Abiturienten zustand, mit Philip als Baby auf seinem Arm, mit Philip als Dreijährigen an seiner Hand, beide lächelnd.
Er hatte keine Ahnung, von wem diese Aufnahmen stammten.
Aber sie schienen eine Liebeserklärung an ihn zu sein - und nur an ihn. Keiner der anderen war zu sehen.
Die Erklärung einer Liebe, die er nie gespürt hatte.
Wieder tauchte der Gedanke in ihm auf, dass er ein Kuckuckskind war. Es wäre ein gutes Gefühl, zu wissen, dass das versoffene Arschloch nicht sein Erzeuger war.
Doch er konnte ihr hier und heute nicht dieses Frage stellen.
Dafür waren sie sich noch zu fremd.
Sie kam mit einem Tablett zurück.
„Warum bist du eigentlich gekommen?" fragte sie leise. „Und wie hast du mich gefunden?"
Er erzählte von Dustins Anruf, und sie wurde kreidebleich.
„Keine Angst! Ich erzähle ihm nichts!" versicherte er schnell.
„Aber er bedroht deine Freundin und deinen Sohn!" widersprach sie.
Er griff nach ihrer Hand. „Mama!" Noch nie hatte er dieses Wort über die Lippen gebracht, doch hier und jetzt schien ihm das vollkommen normal zu sein. „Das sind Kleinkriminelle! Keine Mafiosi! Die haben nur zu viele Filme gesehen! Ich weiß, wo du wohnst - und ich finde dich! Das ist alles leeres Gelabere!"
Angelika beruhigte sich ein wenig. „Erzähle mir ein wenig von dir, von Philip und von der Frau, die du liebst!"
Kevin tat ihr den Gefallen, berichtete von Philips Behandlung und seinen Fortschritten, von seiner Wohnsituation und natürlich von Kathi.
Er holte sein Handy heraus, zeigte Fotos vom letzten Ausflug.
Sie konnte sich nicht sattsehen an dem strahlenden Philip, der an der Hand einer wunderschönen jungen Frau in die Kamera lachte.
An ihrem wunderschönen Sohn, der die beiden von hinten umarmte.
Dann kam ein Foto von Albert, er hatte seinen Enkel, von dem er nichts wusste, auf dem Schoß, sah ihn liebevoll an.
Alt ist er geworden! dachte sie bitter. Ob er noch die Frau gefunden hatte, für die es sich gelohnt hatte, sich zu ändern?
Aus ihren Gedanken heraus fragte sie, versuchte ihrer Stimme eine gleichgültigen Klang zu geben: „Dieser Albert! Ist er verheiratet?"
Kevin sah sie verwundert an. „Nein! Er sagt immer, ihm war keine gut genug. Aber ich glaube, dass er einmal sehr verliebt gewesen war, und diese Liebe durch einen dummen Fehler verloren hat. Ist nur so ein Gefühl, weil sein Blick immer so abschweift, wenn er von der Vergangenheit spricht!"
Angelika wollte das Thema wechseln, nicht, dass sie sich noch verriet. „Deine Freundin ist verdammt hübsch!"
„Verdammt sagt man nicht!" erklärte Kevin wie aus der Pistole geschossen.
Sie sahen sich überrascht an. Er erinnerte sich. Alle Jungs hatten ständig geflucht wie die Kutscher, aber bei ihm hatte sie das nicht durchgehen lassen.
„Sprich ordentlich!" hatte sie oft gesagt.
„Hast du deine Hausaufgaben gemacht?"
„Ich frage dich mal für die nächste Probe ab!"
Tausend Bilder tauchten vor seinem geistigen Auge auf, wie sie sich um ihn gekümmert hatte, dafür Spott, Häme, Gemeinheiten, aber auch die eine oder andere Backpfeife von ihrem Mann eingefangen hatte.
„Warum ich?" fragte er mit Tränen in den Augen.
„Du warst von Anfang an etwas Besonderes! Das habe ich gespürt! Und eines meiner Kinder sollte es besser haben, sollte es schaffen, etwas aus seinem Leben zu machen. Du warst auf dem besten Weg dahin, bis die Drecksbande und das Lotterweib dich reingelegt haben.
Kevin sah sie offen an. „Ist er mein Vater?" Er konnte die Frage nicht mehr aufschieben.
Sie hielt seinem Blick stand. „Nein!" sagte sie nur.
„Aber du wirst mir nicht sagen, wer es ist?" Kevin war sicher, und er wollte auch nicht bohren. Er hatte erfahren, was er hatte wissen wollen, was er hatte wissen müssen.
„Nein! Vielleicht später einmal!" Sie sah ihn bittend an, bittend um Verständnis.
Er lächelte beruhigend. „Ist ja nicht so wichtig! Hauptsache, er ist es nicht!"
Sie nahm ihn in die Arme, drückte ihn fest an sich. „Danke, Kevin! Danke, mein Augenstern!"
Als er auf die Uhr sah, erschrak er. Die Zeit war nur so verflogen. Er sprang auf. „Ich muss los!
Philip wartet auf mich. Und er nimmt es mit der Zeit sehr genau!" Er küsste sie zum Abschied auf die Wange. „Besuch uns doch mal!" schlug er vor.
„Ach! Ich gehe noch nicht so gerne aus dem Haus! Aber kommt ihr drei doch mal vorbei!"
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