Kapitel 20

Die nächsten Monate I

Danach ging es Schlag auf Schlag. Kevin hatte manchmal das Gefühl, gar nicht so schnell denken zu können, wie die Ereignisse sich überschlugen. Und immer noch dachte er ängstlich daran, dass er aus diesem Traum einmal aufwachen würde.

Kurz bevor sie das Hotel verlassen mussten, traf Albert eine Entscheidung. Er hatte lange mit sich gerungen, ob er sich in seinem Alter noch an einen Mitbewohner – oder besser zwei – gewöhnen konnte. Doch er hatte den großen und den kleinen Jungen so sehr in sein Herz geschlossen, dass der Gedanke an eine Trennung ihm mehr Angst machte.

„Ich habe eine Vierzimmerwohnung als Alterssitz im Westen!" verkündete er eines Abends. „Wenn ihr wollt, könnt ihr da mit einziehen. Ein Zimmer für dich, eines für den Junior!" Er war kein Mann von vielen Worten. Was gesagt werden musste, war gesagt.

Kevin verschlug es einen Moment lang die Sprache. Er hatte das Problem Wohnungssuche schon seit einiger Zeit in Angriff genommen, aber es war nichts zu finden gewesen, das er sich hätte leisten können.

Frau Bronner, die sich seiner sehr annahm, hatte einen Antrag auf Wohngeld gestellt, aber der Amtsschimmel ließ sich Zeit. Außerdem hätte er da eine Wohnung gebraucht, die er sich aber ohne Zusage nicht leisten konnte. Die Katze biss sich in den Schwanz.

Er verbrachte zwar die meiste Zeit bei Kathi, manchmal mit Philip, manchmal alleine. Aber er war ungern dort ohne sie, wenn sie Nachdienst hatte zum Beispiel.

Sie waren ein Liebespaar geworden, eine Tatsache, die er jeden Tag ungläubiger und glücklicher zur Kenntnis nahm. Wenn sie Spätdienst hatte, wartete er meistens mit Philip in ihrer Wohnung auf sie, kochte für sie, schmökerte in ihren Medizinlehrbüchern, bis sie kam.

Philip hatte so etwas wie ein eigenes Zimmer, sie hatte den Computer angeschlossen, an dem er sich eine Stunde am Tag beschäftigen durfte. Innerhalb kürzester Zeit beherrschte er das Schreibprogramm, formatierte die kleinen Geschichten, die er rasend schnell eingetippt hatte.

Das Graphikprogramm fesselte ihn beinahe noch mehr. Er erstellte Tabellen mit vielen kleinen Feldern, die er mit Farben oder Formen füllte, nach einem Ordnungsschema, das nur er verstand.

Marga und Nico kamen zweimal in der Woche ins Hotel, der Junge machte schnell Fortschritte, sprach immer mehr Worte, wenn er genügend Ruhe dafür hatte.

Und nun kam auch noch der Vorschlag von Albert, der das Wohnungsproblem lösen würde.
„Und was würde mich das kosten?" fragte Kevin vorsichtig.
„Das Gleiche wie hier: ein Lächeln und ein Dankeschön. Pro Person!" antwortete der väterliche Freund, zu dem er geworden war.

„Das kannst du doch nicht machen! Wir leben jetzt seit Wochen auf deine Kosten, ich fahre dein Auto, dessen Tank seltsamer Weise immer voll wird, obwohl du nicht mehr fährst, du kaufst Klamotten für Philip, die Sachen, die angeblich von dir ausgemustert worden sind, die du mir immer hinlegst, sehen alle nagelneu aus. Ich habe meinen ganzen Lohn noch übrig. Also, ich kann schon Miete bezahlen!"

Kevin hatte bisher geschwiegen über all die Wohltaten, hatte gedacht, es drehe sich nur um vier Wochen. Aber wenn das Zusammenleben ein Dauerzustand werden würde, musste er sich beteiligen.
„Spar dein Geld für einen Verlobungsring für deine Süße!" scherzte Albert.
Ich kaufe mir doch nur eine wenig Liebe! dachte er.
„Ich kann es mir schon leisten, keine Angst!" sagte er.

Kevin nahm das Angebot kopfschüttelnd an.
Wieder einmal dachte er an die seltsamen Wege des Schicksals, die ihn gerade in dieses Hotel geführt hatten.

Frau Bronner war zufrieden, dass Kevin einen festen Wohnsitz hatte, dass außerdem eine weitere Aufsichtsperson für den Jungen da zu sein schien.

Die Verhandlungen mit der Familienrichterin wegen des einstweilig alleinigen Sorgerechts für den Vater liefen zäher, als sie erhofft hatte.
Doch das würde nun ja endlich vorwärts gehen.

Peter Baumann, der Sozialarbeiter, hatte ein schweres Los gezogen. Bei seinem ersten Besuch hatte sich die dicke junge Frau an ihn herangemacht – ein Angebot, das er dankend abgelehnt hatte.

Er konnte sie nach vielen Unterhaltungen überreden, mit ihm das Sozialamt aufzusuchen. Dort war sie wieder so frech und unverschämt gewesen, dass der Beamte sie beide hinausgeworfen hatte. Peter nahm dennoch den Kampf auf, setzte Wohngeld durch, brachte drei Stellenangebote von Supermärkten vorbei.

Eines an der Kasse, zwei im Lager.
Sie nahm zu Peters Überraschung die erste an, flog aber nach zwei Tagen hochkant hinaus, weil jeden Abend Geld in der Kasse gefehlt hatte.

Wohl oder übel arbeitete sie danach ein paar Stunden pro Woche und füllte Regale auf.
Selina hatte einen Platz in einer Kita bekommen. Doch nach einer Woche weigerten sich die Erzieherinnen, die Kleine weiter zu betreuen. Sie hatte eine unverschämte Klappe wie ihre Mutter, schlägerte, kratzte und biss die anderen Kinder.

Peter brachte sie in einer Tagesgruppe für Kinder mit besonderem Förderbedarf unter, musste sich aber auch dort einmal pro Woche die Klagen des pädagogischen Personales anhören, musste beschwichtigen, betteln.
„Ich weiß doch sonst wirklich nicht wohin mit der Göre!" seufzte er ein ums andere Mal.

Die Brüder und der Vater waren in einem Schnellverfahren wegen der zahlreichen Bewährungsstrafen zu zwei bis fünf Jahren verdonnert worden. Laut, polternd und vollkommen uneinsichtig waren sie auch vor dem Gericht aufgetreten, was natürlich nicht zu Gnade vor Recht beigetragen hatte.

Angelika konnte ihr Glück kaum fassen. Der Typ, der ihr Mann war, würde drei Jahre weggesperrt sein. Sie bekam ein kleines Appartement zugeteilt, einen Job, der sie sogar ernährte. Sie fühlte sich dem Himmel so nah wie noch nie. Jetzt würde sie ihr Leben endlich in Griff bekommen. Sie war noch keine Fünfzig!

Kathi fiel Kevin freudestrahlend um den Hals, als er ihr von Alberts Angebot erzählte. Sein Wohnungsproblem lag ihr schon auch auf der Seele. Sie war oft kurz davor gewesen, ihm anzubieten, bei ihr einzuziehen.

Doch sie konnte sich immer noch gerade rechtzeitig bremsen. Er musste sein Leben alleine auf die Reihe bekommen, sich nicht in eine Abhängigkeit von ihr begeben. Das würde seinem Stolz, zu dem er langsam und mühevoll wieder zurückfand, nicht gut tun.

Mit Albert war das eine andere Sache, eine Sache unter Männern.
Kevin arbeitete täglich nicht mehr als sechs Stunden, er wollte Zeit für die Liebe zu Kathi und zu seinem Sohn haben.

Und nachdem Mary Sozialhilfe bekam und angeblich sogar arbeitete, er die Wohnung für sie und Selina nicht mehr finanzieren musste, konnte er sich das auch leisten.
Josef freute sich, dass sein Lieblingsarbeiter so glücklich zu sein schien. „Eine Frau?" fragte er eines Tages lachend.

Kevin lächelte vor sich hin. „Ein Mann ist es auf alle Fälle nicht!" meinte er verschmitzt.
Die Kollegen schlugen sich unter Gelächter ab. Der etwas seltsame Mitarbeiter und sein Sohn waren ihnen ans Herz gewachsen.

Anfangs hatten sie ihn für einen überheblichen Schnösel gehalten, der sich zu gut war, sich mit ihnen abzugeben, mal auf ein Bier wegzugehen.

Doch dann hatten sie Philip kennengelernt und einiges von der Bürde verstanden, die der junge Kerl zu tragen hatte. Der Umgang des Kollegen mit dem Kleinen nötigte ihnen höchsten Respekt ab.
Nun wurde er auch noch witzig, strahlte ein ganz neues Selbstbewusstsein aus.

Kevin saß oft auf dem Balkon, während er auf Kathi wartete und dachte an die Anfänge seines Glückes. Das Gewitter, das ihn in diese Bar getrieben hatte, die schöne Frau, die ihn nach nur einem Blick so sehr gefesselt hatte, dass er zum ersten Mal in seinem Leben eine Frau angebaggert hatte.

Die Nacht, die ihm auch heute noch so unglaublich vorkam, obwohl es viele weitere Nächte gegeben hatte.

Der Tag im Krankenhaus, als er sie wieder getroffen hatte, als sich das Leben für sein Kind verändert hatte - so sehr wie seines auch.

Die Nacht, nachdem er gebettelt hatte, dass sie zu ihm käme, als er es vor Sehnsucht kaum noch ausgehalten hatte.
Der rote Schmetterling, der vor der Türe des Hotelzimmers gestanden war, zu schön, um von dieser Welt zu sein.

Die Leichtigkeit, die seitdem zwischen ihnen entstanden war, in der Liebe wie auch im Leben. Sie nahmen jeden Tag an, wie er kam, planten nichts, telefonierten, wenn sie sich nicht sehen konnten, sahen sich aber so oft wie möglich.

Keiner hielt es lange ohne den anderen aus.
Oft hatte Kathi angerufen und ihn gebeten: „Komm doch wenigstens noch für eine Stunde! Ich vermisse dich so sehr!"

Sie hatte keinerlei Probleme damit, den ersten Schritt zu tun.
Doch sie waren auch absolut offen und ehrlich zueinander. Wenn sie zu müde war nach einer Reihe von langen Diensten, sagte sie das geradeheraus.

Manchmal wollte sie ihn trotzdem sehen, er hielt sie dann einfach eine Nacht lang im Arm, wachte über ihren Schlaf.
Hin und wieder hatte er das Gefühl, mehr Zeit mit Philip verbringen zu müssen, sie hatte vollstes Verständnis dafür.

Selten schien sein Sohn einen Schritt zurückzugehen, in alte Verhaltensweisen zu verfallen. Doch wenn es einmal vorkam, fuhr sie zu ihnen, redete lange mit Philip, baute ihn wieder auf, zauberte wieder die Angst weg, die zurückgekommen war.

Dann schlief der Junge auch zwischen ihnen im Bett, klammerte sich an beide. Am nächsten Morgen war alles wieder gut.
Sie wussten nicht, was die Auslöser für diese Ängste waren, doch Kathi vermutete Träume oder Erinnerungen.

„Es kann sein, dass er eine Stimme gehört hat, die ihn an Selina oder Mary erinnert hat!" erklärte sie dem besorgten Vater.
Sie fuhren oft mit ihrem Auto ins Grüne, wanderten, machten Picknick. Manchmal luden sie auch Albert ein mitzukommen, der das Angebot immer glückstrahlend annahm.

Er fühlte sich, als hätte er eine Familie bekommen.
Das eine oder andere Mal gingen sie mit Pascal, Jakob und deren Frauen in die kleine Bar, in der alles begonnen hatte. Dort war die Gefahr, gesehen zu werden, relativ gering. Die sechs verstanden sich ausgesprochen gut, Kevin wurde als einer von ihnen anerkannt.


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top