Kapitel 16
Kevin
Kevins Leben war gut – besser als es je gewesen war. Philip blieb tagsüber bei Albert, er konnte arbeiten, ohne sich zu viele Sorgen um sein Kind machen zu müssen.
Er wusste, dass er sich langsam eine Wohnung suchen müsste, einen Kindergartenplatz für Philip, aber er wollte einen Schritt nach dem anderen tun. Er hatte schon einmal sein Leben perfekt durchgeplant gehabt, wusste, wie schnell das Schicksal einem einen Knüppel zwischen die Beine werfen konnte.
Erst einmal würde er die Untersuchung Philips abwarten. Vielleicht brauchte der Kleine eine Spezialbehandlung, vielleicht musste er in ein Krankenhaus zur Beobachtung, dann musste er in erster Linie für ihn da sein.
Frau Bronner rief an, berichtete von ihrem Besuch bei Mary. Sie hatte ihr nur 50 Euro gegeben, weil sie sich so geärgert hatte, wie sie über ihn hergezogen war.
Er musste lachen. Er war es ja nicht anders gewohnt, aber für eine Außenstehende musste das schon heftig gewesen sein!
Das Auto von Albert brachte ihm täglich eine eingesparte Stunde ein, die er entweder arbeiten oder mit Philip genießen konnte.
Der Kleine verstand sich außerordentlich gut mit dem Hotelier, wurde täglich fröhlicher. Aber er hatte immer noch Zeiten, während denen er sich vollkommen in sich selbst zurückzog, seine Nase nicht aus den seltsamen Büchern brachte, stundenlang irgendwelche Dinge ordnete. Im Hotel hatte er den Schrank entdeckt, in dem die Tischwäsche untergebracht war.
Er hatte alles herausgeräumt und fein säuberlich gefaltet und nach Farben sortiert wieder eingeräumt.
Albert ließ ihn in solchen Phasen in Ruhe wie auch Kevin es immer gemacht hatte.
Manchmal gingen sie abends zu dritt spazieren, Philip hielt die beiden Männer an den Händen.
Am Mittwoch, einen Tag vor dem Termin an der Klinik, schleppte Albert einen Kindersitz an, den er im Internet bestellt hatte.
Kevin hatte Tränen in den Augen. „Der kleine Mann muss ja morgen mit ins Auto. Und ohne Sicherung wird der Papa ihn wohl nicht mitnehmen."
Am Donnerstag machte Kevin zwei Stunden früher Schluss. Er war doch etwas nervös. Er duschte, zog seine besten Klamotten an, Philip machte es ihm nach.
Papa hatte ihm erklärt, dass sie heute zu einer netten Frau Doktor gehen würden, in ein großes Haus, dass aber der Papa immer bei ihm bleiben würde, dass er aufpassen würde auf ihn, dass ihm nichts passieren würde.
Kevin fand die Abteilung schnell, er war eine halbe Stunde zu früh dran.
Die Frau, die am Telefon zuerst so schnippisch gewesen war, sah ihn an und lächelte.
Manchmal war ein hübsches Gesicht schon sehr hilfreich! dachte Kevin.
„Herr Berger?" säuselte sie ihn an. „Das ist aber schön, dass Sie so pünktlich sind!" Sie streckte die Hand nach Philip aus. „Und der kleine hübsche Mann ist bestimmt Ihr Sohn!"
Philip zuckte zurück, klammerte sich an Kevins Bein. „Er lässt sich nicht gerne anfassen!" erklärte er wie schon so oft.
Eine Mitarbeiterin der Kinderklinik sollte das auch wissen! dachte er.
Sie lächelte zuckersüß, drückte einen Knopf an der Telefonanlage. „Frau Dr. von Arnfeld? Herr Berger und sein Sohn sind schon da!" Sie lauschte. „Ja, ich richte es aus!"
„In zehn Minuten bringe ich Sie dann zu ihr!" erklärte sie Kevin. „Nehmen Sie doch Platz! Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen? Oder möchte der Kleine ein Gummibärchen?"
Kevin zwang sich zu lächeln. Lass uns einfach in Ruhe! schrie es in ihm.
Philip stand ziemlich unter Druck, Kevin wusste nicht, was den Jungen so verunsicherte. Er konnte ja nicht ahnen, dass sein Sohn panische Angst hatte, dass das große Haus das Heim war, in das er kommen sollte, wie Selina immer gedroht hatte.
Er begann zu schaukeln, da konnte er die Angst etwas kleiner machen.
Der Papa hat gesagt, keiner tut ihm etwas.
Vor – zurück.
Der Papa hat gesagt, keiner tut ihm etwas.
Vor – zurück.
Der Papa hat gesagt, er bleibt immer bei ihm.
Er musste ein wenig summen, dann ging Selinas Stimme aus seinem Kopf.
Das half meistens.
Kevin war mit den Nerven ziemlich am Ende. Was um alles in der Welt hatte den Jungen so aufgeregt?
Die Frau war nett zu ihm gewesen, sie waren nur zu dritt im Zimmer, warum reagierte er so?
Er versuchte, seinen Sohn in den Arm zu nehmen, doch zum ersten Mal sperrte er sich, setzte seinen Singsang fort, schaukelte wie in Trance.
Gleich würde er anfangen zu schreien!
„Philip bitte! Alles ist gut! Papa ist da! Papa geht nicht weg! Philip! Alles ist gut! Alles ist gut!" wiederholte er immer wieder.
Doch Philip beruhigte sich nicht. Schreien wollte er hier nicht, musste er auch nicht, denn Selina war nicht da.
In seiner ganzen Panik schaffte er, die Worte über seine Lippen zu bringen, die seinen Kopf beinahe platzen ließen. „Nicht ins Heim! Nicht ins Heim! Nicht ins Heim!" wiederholte er unentwegt.
Kevin verstand endlich. Der Junge hatte Angst, er würde ihn ins Heim bringen. Das unbekannte Gebäude brachte er mit seinen schlimmsten Ängsten in Verbindung.
„Niemals, Philip! Niemals, Philip! Niemals, Philip!" Er verfiel in die gleiche Monotonie wie sein Sohn. Schließlich drangen seine Worte in den Kopf des Kleinen. Der Druck ließ nach. Er wurde immer leiser.
Schließlich wurde er ruhig. „Niemals, Philip! Niemals, Philip!" wiederholte er schließlich die Worte des Vaters. Dabei schüttelte er den Kopf.
Kevin atmete auf. Er presste Philip an sich, streichelte seinen Kopf. „Wer hat gesagt, dass du in ein Heim kommst?"
„Niemals, Philip! Niemals, Philip!" wiederholte der Junge immer noch.
Kevin drehte seinen Kopf zu ihm. „Hat Selina so etwas gesagt? Die dumme, böse Selina?"
Philip hielt inne. Dieser Name machte ihm wieder Angst. Er begann wieder zu wippen.
Vor – zurück.
Selina ist fort.
Er und Papa waren weggegangen.
Vor – zurück.
Sie machte ihm keine Angst mehr, war weg, für immer.
Vor – zurück.
Kevin verstand. Das kleine Monster hatte Philip systematisch gequält, hatte ihm Angst gemacht, dass er in ein Heim müsste, weg von seinem Papa. Deshalb war in letzter Zeit alles immer schlimmer geworden.
In diesem Moment kam eine Stimme aus dem Lautsprecher: „Herr Berger, bitte!"
Monika erwachte aus ihrer Schockstarre, wischte sich die Augen trocken. „Kommen Sie bitte mit?" bat sie leise.
Kevin sah Philip eindringlich an. „Wir beide gehen jetzt zu einer netten Frau Doktor. Die will dir helfen, damit du nicht mehr so viel Angst haben musst! Die kann das ganz toll, kleinen Jungen die Angst nehmen, verstehst du? Angst vor Selina, Angst vor der Mama, Angst vor anderen Kinder. Die Frau Doktor kann zaubern! Die kann die Angst einfach wegzaubern! Deshalb sind wir hier! Verstehst du das?" Philip nickte.
Die Stimme meldete sich wieder. „Monika? Ist Herr Berger noch da?"
Die Empfangsdame schlüpfte zur Türe hinaus. „Kommen Sie in Zimmer 205! Zwei Türen weiter rechts auf dem Gang. Geben Sie ihm ruhig Zeit!" rief sie Kevin zu.
Kevin wiegte Philip in seinen Armen. „Alles klar, Großer? Schaffen wir das? Gehen wir zu der Frau Doktor? Hilfst du mir, weil es für mich auch nicht ganz leicht ist, weißt du?"
Philip sah seinen Papa an, nickte eindringlich, nahm ihn an der Hand und führte ihn zur Türe hinaus. Natürlich würde er dem Papa helfen.
Kevin wischte sich die Augen trocken und ließ sich von seinem Sohn zum Zimmer der Ärztin ziehen. „Woher weiß er, wohin er gehen muss?" dachte er verwundert. Aber wahrscheinlich war es nur ein Zufall.
Monika kam ihnen entgegen, hielt ihnen die Türe auf. Kevin trat ein, setzte sein mir-geht-es-gut-Lächeln auf, sah die Ärztin an, die aufstand und auf sie beide zukam und - erstarrte.
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