Kapitel 15
Mary
Mary schlurfte zur Türe, um zu öffnen. Draußen stand eine gepflegte Frau in mittleren Jahren, die sich als Paula Bronner von irgendeiner Beratungsstelle vorstellte.
„Was wollen Sie?" blaffte Mary in ihrer gewohnt charmanten Art.
Mein Gott! Wie passte das denn? Der hübsche Herr Berger und dieses Monsterweib?
Aber manche Männer hatten eben etwas außergewöhnliche Vorlieben bei Frauen.
„Ich bringe Ihnen etwas Geld von Herrn Berger! Darf ich kurz reinkommen?" fragte Paula. Sie wusste, bei diesem Typ von Frau würde das Wort „Geld" jede Türe öffnen.
Im Wohnzimmer sah sich unauffällig um. Alles war ordentlich, preiswert eingerichtet, sauber.
Auf den ersten Blick.
Auf den zweiten sah sie die leichte Staubschicht auf den Möbeln, Ringe von Gläsern auf dem Tisch.
Da hatte wohl niemand mehr sauber gemacht, seit der junge Mann ausgezogen war.
Die Frau schien es nicht mit der Arbeit zu haben, aber das hatte er ja schon mehr als angedeutet.
„Jetzt rücken Sie die Kohle schon raus!" fauchte Mary. Sie sah die prüfenden Blicke der Tussi genau.
Da kam ein dickes, hässliches Kind angesaust. Okay! Da würde es keinen Vaterschaftstest brauchen um zu beweisen, dass dieses Monster nicht die Tochter von Kevin sein konnte. Ein paar Gene hätten sich da sicher durchgesetzt.
„Schickt dich der Trottel?" fragte die Kleine.
„Wen meinst du mit Trottel?" fragte Paula zurück.
Mary lachte. Die Kleine war wieder gut drauf!
„Den Papa! Der immer alles versaut! Der nicht genug Kohle herbringt, dass ich ein Handy krieg!" erklärte das Mädchen.
Paula schluckte die Worte hinunter, die ihr auf der Zunge lagen. Die unmögliche Frau strahlte das unmögliche Kind an, schien begeistert zu sein über das lose Mundwerk.
Und sie konnte nicht fassen, dass Herr Berger dieses Leben so lange ausgehalten hatte. Was für ein falsches Verantwortungsgefühl hatte ihn denn dazu getrieben?
Dann erinnerte sie sich, dass er 19 gewesen war, als er von der Schwangerschaft erfahren hatte. Tiefstes Mitleid stieg in ihr hoch, und sie schwor sich, dass sie alles für diesen hübschen Kerl machen würde, damit er sein Leben zurück bekam.
Und noch einen Entschluss fasste sie. „Können wir uns allein unterhalten?"
Mary scheuchte die maulende Selina aus dem Zimmer. „Ihr ehemaliger Lebensgefährte weiß, dass Selina nicht seine Tochter ist, dass sein Bruder Dustin der Vater ist. Er musste das am Samstag mitanhören!"
Mary stockte das Blut in den Adern. Deshalb war er also wortlos verschwunden.
Doch sofort ging sie in Verteidigungsstatus. „Da ist gar nichts raus! Da steht Wort gegen Wort!"
„Ein Vaterschaftstest wird ganz schnell Klarheit schaffen!" merkte Paula an.
„Da muss ich zustimmen! Das tu ich nicht!" Mary gab nicht auf. Das hatte sie in Fernsehsendungen gesehen, dass ohne ihre Einwilligung der Test nicht gemacht werden darf.
„Sie teilen sich das Sorgerecht. Außerdem sind die optischen Beweise wohl ausreichend, damit ein Staatsanwalt den Test anordnen wird!" Das war zwar nicht so ganz richtig, aber ein bisschen flunkern gehört zu ihrem Handwerk.
Aber Mary hatte den schwierigen Satz sowieso nicht verstanden.
„Ha?" fragte sie.
„Ich meine, Ihre Tochter sieht Herrn Berger nicht im Geringsten ähnlich." erläuterte Paula.
„Kommt sie halt nach mir!" Mary zuckte mit den Achseln.
„Lassen wir es drauf ankommen!" erhielt sie als Antwort.
„Haben Sie nicht gesagt, Sie bringen Kohle von dem Versager?" wechselte Mary das Thema.
Paula zog 50 Euro aus ihrem Geldbeutel. Die anderen 50 würde sie Herrn Berger zurückgeben.
„Er bezahlt Ihnen 50 Euro in der Woche, übernimmt bis auf weiteres Miete und Nebenkosten. Den nächsten Schein wird Ihnen ein Sozialarbeiter, Peter Baumann, bringen, mit dem habe ich schon gesprochen. Er wird Ihnen behilflich sein, wenn Sie Sozialhilfe beantragen, auch bei der Jobsuche. Das Amt wird Ihnen einige Stellenangebote zukommen lassen. Mehr als zwei sollten Sie nicht ablehnen, sonst wird die Stütze gekürzt."
Paula stand auf, länger würde sie es in dieser verrauchten Bude nicht aushalten.
„Aber ich habe ein Kind zu versorgen!" maulte Mary.
„Das schon längst einen Kindergarten besuchen sollte!" wandte Paula ein.
Die grässliche Frau war doch tatsächlich sprachlos. Das musste sie jetzt ausnutzen. „Herr Berger wird das alleinige Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn Philip beantragen. An Ihrer Stelle würde ich ihm keine Schwierigkeiten machen. Er ist nicht verpflichtet, die Miete für diese Wohnung weiter zu bezahlen, nach der Trennung."
Sie hoffte, dass die Frau ihre Worte so verstanden hatte, wie sie gemeint waren: Als Drohung!
Nachdem die Türe sich hinter dem ungebetenen Gast geschlossen hatte, sank Mary auf den Sessel, der unter ihrem Gewicht ächzte.
Sie war am Arsch!
Vollkommen!
Aber er zahlte die Miete weiter!
Warum machte er das, wenn er doch nicht verpflichtet war?
Und eine Stimme in ihrem Kopf, die sie noch nie gehört hatte, sagte: „Weil er ein guter Kerl ist!"
Und sie wusste, dass diese Stimme die Wahrheit sagte.
Aber sie hatte ihn vertrieben, hatte ihm ein Kuckuckskind untergeschoben, hatte ihn beleidigt, gekränkt, fertig gemacht.
Sie hatte sich damals gewundert, dass er ohne großen Widerspruch mit ihr zusammengezogen war. Das hatten sie alle nicht wirklich erwartet!
Dass er zahlen musste für das Kind, okay.
Aber nicht, dass er die ganze Verantwortung übernahm.
Noch dazu, als herauskam, dass Philip behindert war. Ohne Kevin hätte sie ihn schön längst in ein Heim gegeben.
Jetzt saß sie da!
Ohne Versorger!
Sollte arbeiten!
Sie hatte noch nie gearbeitet!
Hatte immer einen Kerl gehabt, von dessen Kohle sie leben konnte, seit die Eltern sie rausgeschmissen hatten.
Doch da was sie auch noch nicht so fett gewesen!
Sie hatte sich erst bei Kevin so gehen lassen, weil sie sich eingebildet hatte, er bliebe für immer!
Würde für immer die Demütigungen schlucken, weil er eben Kevin, der Looser war, wie seine Brüder ihr eingeredet hatten.
Der seltsame Bruder, der Arzt werden wollte, der bei den Domspatzen die Soli sang, der Klavier spielte anstatt Autos zu zerkratzen.
Sie hatte jedes Wort der verdammten Bande geglaubt, und keiner hatte je bemerkt oder zugegeben, dass er anders war, weil er ein guter Kerl war. Sie waren die Bastarde, die Looser, die Nichtsnutze.
Die ganze Sippe taugte nichts!
Vielleicht, wenn sie sich zusammenriss, abnahm, aufhörte zu trinken und zu rauchen, arbeitete, putzte und kochte – vielleicht würde sie ihn zurückbekommen?
Doch sie hörte diese neue Stimme in ihrem Kopf lachen, laut lachen, wie verrückt lachen!
Ich werde es wenigstens versuchen! schwor sie dem Quälgeist.
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