Kapitel 12
Kevin
Kevin war in Hochstimmung. Philip ging es sichtlich gut, seit er ihn von Zuhause weggebracht hatte. Er hatte einen Termin bei einer Spezialistin im Klinikum. Er strotzte vor Kraft und etwas wie Lebensfreude.
Der Chef bat ihn ins Büro. „Und alles klar bei dir und Philip?"
„Ja, wir sind auf einem guten Weg! Wir sind weg von Mary, wohnen in einem kleinen Hotel, bis ich weiß, wo wir hinkönnen. Einen Termin am Klinikum habe ich auch schon!"
Josef lächelte den Jungen an. „Lass die Hotelrechnung an mich schicken. Ich mach das übers Spesenkonto!" schlug er vor.
Kevin erwiderte das Lächeln. „Nein, Chef! Danke! Die tausend Euro haben uns gerettet, wir konnten weg. Aber ich muss dann selbst zurecht kommen!"
Josef hatte nichts anderes erwartet gehabt, hatte schon Plan B. So lange Kevin mit dieser Mary zusammen war, hatte er keine Lust gehabt, ihm mehr zu bezahlen. Hätte sowieso nur die Schickse kassiert!
Aber jetzt brauchte der Junge Unterstützung. Er hatte selbst keine Kinder, seine Frau hatte sich davon gemacht, er war finanziell gut abgesichert.
„Okay! Dann bezahle ich dir Auslöse. Ich kann's absetzen, du brauchst es aber nicht anmelden. 500 Euro im Monat, dann hast du ein wenig Luft! Ein Nein akzeptiere ich nicht!"
Lang würde Kevin sowieso nicht mehr bei ihm arbeiten. Jetzt, da er den ersten Schritt getan hatte, würde er sein Leben wieder in die Hand nehmen, würde er seinen Weg gehen.
Er holte noch einmal fünf Hunderter-Scheine, legte sie vor den Arbeiter auf den Tisch.
„Okay! Danke!" brachte Kevin gerade noch hervor. Er sah nach Philip, der sein altes Spiel aufgebaut hatte und versunken würfelte und spielte. Er strich ihm über den Kopf. „Heute kaufen wir ein neues!" sagte er leise.
Doch der Junge sah ihn überrascht an und schüttelte den Kopf.
„Nein?" fragte Kevin. „Kein neues?"
Wieder nur Kopfschütteln.
„Na gut! Wenn du damit zufrieden bist!"
Philip nickte und widmete sich wieder dem Kampf der Farben. In der Mittagspause packte Kevin die Brote aus, die der Hotelier ihm mitgegeben hatte.
Er grübelte, warum plötzlich alle Menschen so nett und hilfsbereit waren.
Oder wären sie es schon immer gewesen, wenn er Hilfe angenommen hätte?
War er zu stolz gewesen?
Hatte er das Gefühl gehabt, er müsste für den Fehler einer Nacht bezahlen?
Hatte Kathi sein Selbstbewusstsein so gestärkt, dass er Hilfe annehmen konnte?
Wenn eine so schöne Frau sich ihm so hingab, sich ihm so auslieferte, ihm solche Gefühle schenkte, war er mehr als der dumme 19jährige Junge, der sein Leben in den Sand gesetzt hatte?
War der 25jährige Kevin am Ende sogar in der Lage, dieses Leben zurückzubekommen?
Zusammen mit seinem Sohn, den es ohne diesen Fehler nicht gegeben hätte?
Hatte alles so kommen müssen, damit dieses wunderbare Kind lebte?
Er haderte plötzlich nicht mehr so sehr mit seinem Schicksal. Es hatte wohl alles einen Sinn gehabt, was geschehen war.
Vor allem, dass ein Gewitter ihn in diese Bar und in die Arme dieser fantastischen Frau gebracht hatte, in die Arme von Kathi.
Philip zog an seinem Arm und brachte ihn in die Wirklichkeit zurück.
„Ja! Du hast recht! Ich muss wieder an die Arbeit!" sagte er lächelnd und küsste den hübschen kleinen Kerl, der sein Sohn war.
Als Feierabend war, packte er Philips Sachen zusammen und verließ das Firmengebäude. Zuerst erkannte er Dustin, den Vater von Selina. Bald tauchten auch die anderen vier auf, umzingelten ihn und Philip. Der Kleine fing fast sofort mit seinen schaukelnden Bewegungen an, sein Singsang folgte. Die Brüder kamen bedrohlich nahe.
Dennis schubste Kevin, Philip fing an zu brüllen. Josef kam angelaufen, nahm den Jungen auf den Arm und brachte ihn in Sicherheit.
Kurz darauf kamen Kevins Arbeitskollegen auf den Hof. Sie waren allesamt durchtrainierte Schränke von Männern, nicht sehr gebildet, aber mehr als loyal. Einer von ihnen wurde angegriffen, das würden sie nicht zulassen!
Noch dazu von diesen schwabbeligen Typen, die unsicher auf ihren Beinen standen.
Die würden sie innerhalb von Sekunden umpusten!
„Wieso erschreckt ihr den Kleinen?" schrie Mike, und Dustin lag mit blutender Nase auf dem Betonboden.
„Wer braucht noch eine Ansage?" fragte Joe, und Dennis folgte seinem Bruder.
Drei Fragen später lagen alle Brüder neben den beiden ersten und krümmten sich vor Schmerzen.
Kevin hatte nicht einmal einen Schritt gemacht.
Ein Martinshorn war zu hören, kurz darauf raste ein Einsatzfahrzeug auf den Hof.
Josef, der den zitternden Philip auf dem Arm trug, erklärte den Polizisten präzise den Angriff auf Kevin und seinen Sohn.
„Ah! Die Berger-Brothers! Na! Wir sind ja alte Bekannte, nicht wahr?" meinte der ältere der beiden Beamten. Er forderte einen Transporter an. Bei einer ersten Untersuchung fanden die Polizisten nicht unbeträchtliche Mengen an Drogen.
„Und die Karre hast du noch immer nicht verschrottet?" fragte einer Justin. „Dabei hast du doch gar keinen Führerschein mehr! Da kommt ja wohl einiges zusammen!" Sie luden die Kerle, die noch immer nicht recht verstanden, was da gerade geschehen war, in den Bus.
Kevins Kollegen schlugen sich mit ihm ab. Das hatte Spaß gemacht! Ganz legal ein paar Typen vermöbeln zu dürfen!
„Wenn sie wieder einmal auftauchen, Anruf genügt!" meinte Joe. „Vor allem, wenn sie unserem kleinen Prinzen zu nahe kommen!" Er verwuschelte Philip die Haare, der sich das überraschenderweise gefallen ließ.
Kevin fehlten die Worte. Joe, der ungehobelte Hüne, hatte seinen Sohn den kleinen Prinzen genannt? Sie hatten sich für ihn geprügelt?
Für ihn, der immer etwas auf sie herabgesehen hatte?
Für seinen Sohn, den alle zu Hause nur den Behinderten nannten?
Er verstand die Welt nicht mehr. „Danke!" sagte er zum zweiten Mal an diesem Tag.
„Immer wieder gerne!" versicherte Mirco.
Noch ziemlich verdattert kam Kevin im Hotel an. Der Hotelier hatte für sie gekocht, sie ließen sich das Abendessen schmecken.
„Haben Sie eigentlich keine anderen Gäste?" fragte Kevin später. Schließlich war Hauptsaison in der Stadt, die von Touristen überschwemmt wurde.
Der ältere Herr lächelte. „Ich habe eigentlich seit heute geschlossen!"
„Wie? Geschlossen?"
„Ja, ich habe das Hotel verkauft, in einem Monat fangen die neuen Besitzer mit der Modernisierung an!"
„Und bis dahin könnten wir bleiben?" Kevin bekam Panik, dass sie bald wieder auf der Straße landen würden.
„Es wäre mir eine Freude!" antwortete der Herr.
„Wieviel kostet eigentlich eine Nacht?" Kevin musste sein Geld schon zusammenhalten.
„Ein Lächeln und ein Dankeschön!" erhielt er als Antwort. „Pro Person!"
„Trinken wir nachher noch ein Gläschen zusammen?" fragte der Ältere, als Kevin sich anschickte, Philip nach oben zu bringen.
„Ich trinke nicht!" erwiderte Kevin.
Der Hotelier sah ihn offen an. „Trocken?" fragte er.
„Nein! Spross einer Familie mit Alkis!" antwortete Kevin.
„Gut!" meinte Albert. „Aber vielleicht könnten wir uns noch so zusammensetzen?"
Er wusste nicht, warum der junge Mann ihn so sehr berührte. Einen Sohn wie ihn hätte er sich immer gewünscht, aber er hatte ja nicht einmal eine Frau gefunden, die ihn ertragen konnte!
Stimmt nicht ganz! flüsterte es in ihm. Doch er wollte diese Stimme nicht hören, die sich in den letzten Tagen immer häufiger ungefragt zu Wort gemeldet hatte.
So saßen ein junger Mann, der schon zu viel Mist in seinem Leben gehabt hatte und ein älterer Herr, der in jungen Jahren zu überheblich und von sich selbst überzeugt gewesen war, als dass es eine Frau mit ihm ausgehalten hätte, im Frühstücksraum zusammen und Kevin erzählte von seinem Leben.
Es tat gut, all das einmal aussprechen zu können.
Albert hörte interessiert zu. Unfassbar, was der junge Mann alles ausgehalten hat, seinem Sohn zuliebe!
Jeder andere wäre auf Nimmerwiedersehen abgehauen!
Oder hätte reagiert wie du! Da war sie wieder – die ekelhafte Stimme, die die ekelhafte Wahrheit sagte.
Müde fiel Kevin zwei Stunden später ins Bett. Sofort war Kathis Bild wieder vor seinen Augen. Und plötzlich war ihm klar, dass er sie vermisste, höllisch vermisste!
Aber eine Frau wie sie war mindestens eine Nummer zu groß für ihn!
Oder?
Mit dieser Frage im Kopf schlief er lächelnd ein.
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