Kapitel 1

Kevin

Kevin lief wütend durch die Stadt.
Wütend war vielleicht noch untertrieben.
Er war stocksauer!
Auf hundert!
Auf tausend!
Auf hunderttausend!

Es war ein Scheißtag auf der Arbeit gewesen!
Heiß, staubig!
Die Stunden hatten kein Ende genommen.
Er hatte sich auf eine Dusche gefreut - vielleicht auch auf ein Abendessen.
Ein paar ruhige, erholsame Stunden.

Doch schon im Treppenhaus des heruntergekommenen Altbaus hatte er die Schreie seines Sohnes gehört.
Er war die letzten Stufen hinaufgestürmt, hatte die Türe mit zitternden Händen aufgeschlossen, dreimal war ihm der Schlüssel entglitten.
Er war ins Philips Zimmer gestürzt, hatte ihn in die Arme genommen, hatte ihm immer wieder beruhigend über den Rücken gestrichen.

Langsam hatte sich der Fünfjährige entspannt.
Kevin nahm ihn auf den Arm, machte sich auf die Suche nach Mary und Selina.
Die Frau, mit der er gezwungenermaßen zusammenlebte, lag schnarchend vor dem Fernseher, mit Kopfhörern auf den Ohren.

Seine Tochter saß daneben, mampfte Chips, spülte mit Cola nach, dattelte auf einem kleinen Videospiel herum.
„Er brüllt schon ewig so!" knallte ihm die Vierjährige hin, ohne die Augen vom Display zu nehmen.

„Und warum habt ihr mich nicht angerufen?"
Kevin bemühte sich, seinen Zorn zu unterdrücken.
Selina zuckte mit den Schultern. „Mama hat gesagt, dann gehst du wieder von der Arbeit weg, und dann kriegst du die Stunden abgezogen, und wir haben noch weniger Geld als eh schon!"

Kevin fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, kämpfte um Beherrschung.
Er ging lieber mit Philip in die Küche, suchte im Kühlschrank nach etwas Essbarem.
Doch wie so oft wurde er nicht fündig.
„Hast du heute schon was gegessen?" fragte er den Jungen, der nur den Kopf schüttelte.

Er sprach nicht, nur Papa konnte er sagen.
Er war schwer behindert, weil Mary, die Frau, die ihn geboren hatte - Kevin weigerte sich immer mehr, sie Mutter zu nennen – während der Schwangerschaft gesoffen hatte wie ein Loch.
Und er als Vater hatte es viel zu spät bemerkt.

„Ein typisches Rauschkind!" hatte der Arzt gesagt und sich nicht weiter mit dem Jungen befasst, der viel zu klein war bei der Geburt, der nächtelang durchgeschrien hatte, der nur auf seinen Vater reagiert hatte.

Er war auch der Grund, warum Kevin nicht abhauen konnte.
Sein Kind brauchte ihn, Mary kümmerte sich praktisch nicht um den Jungen.
Sie und Selina provozierten Philip sogar noch.
Weiß der Teufel, was sie ihm heute wieder angetan hatten.

„Jetzt duschen wir erst einmal, dann kaufen wir was ein!" schlug er dem Sohn vor, dessen Augen ein wenig zu leuchten begannen.
Diese Anzeichen von Freude oder gar ein wenig Glück waren selten zu sehen.

Als sie schwerbepackt wieder zu Hause ankamen, lief Selina ihm entgegen.
„Hast du Chips mitgebracht?" fragte sie.
„Nein! Aber Vollkornbrot, Butter, Käse, Milch und Wurst!" antwortete Kevin.

„Bäh!" rief das Mädchen und lief zur Mutter, um sich zu beschweren.
„Mama! Der Depp hat nur Mist eingekauft!"

Kevin blieb einen Moment die Luft weg, aber er wusste, es lohnte nicht, dass er sich aufregte.
Es würde nichts ändern.
Es würde sich nie etwas ändern.

Er machte ein paar Brote, zog sich mit Philip ins Kinderzimmer zurück.
Der Kleine schnappte sich ein Buch, wie meistens, mampfte hungrig vor sich hin.
Kevin sah ihm zu.

Oft hatte das Kind seine Augen in einem Buch.
Nicht in Kleinkinderbüchern, mit vielen Bildern und ein paar Worten drunter, sondern in richtigen Kinderbüchern.
Er verstand nicht, was er davon hatte, was in seinem Kopf vor sich ging.

Die restliche Zeit ordnete er irgendetwas.
Malstifte der Größe nach, Bauklötze der Farbe nach.
Manchmal holte er sich auch das zerfledderte Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel, würfelte und zog mit allen vier Farben alleine.

Kevin wurde nicht schlau aus ihm.
Immer wieder hatte er den Arzt gebeten, ihm eine Überweisung für eine Untersuchung in einer Kinderklinik auszustellen.
Immer wieder hatte er die gleiche Antwort bekommen: „Finden Sie sich damit ab, ein schwer behindertes Kind zu haben! Wenn Sie mit ihm nicht klarkommen, geben Sie es in ein Heim!"

Aber je älter Philip wurde, desto sicherer wurde Kevin, dass er nicht so schwer geschädigt war, wie alle dachten.
Der Junge zog sich alleine an, war schön früh sauber gewesen, lief mit neun Monaten sicher.
Er sprach halt nicht, lachte nie, ließ sich von niemandem außer Kevin anfassen.

Am besten schien es ihm außerhalb der Wohnung zu gehen - wenn er mit Kevin alleine sein konnte.

Mary kam angeschlurft. Sie stank zehn Meter gegen den Wind - nach Schnaps, Zigaretten, Schweiß.
Kevin öffnete unbewusst das Fenster.
Die Luft war stickig genug.
„Zigaretten hast du auch nicht mitgebracht!" herrschte sie ihn an.

Kevin aß seelenruhig weiter.
„Ich rauche nicht!" antwortete er äußerlich noch immer ruhig.
Er durfte Philip nicht aufregen.
Er schob Mary zur Türe hinaus.
Sie suchte offensichtlich wieder einmal Streit.
Er war es so leid!
Er hatte es so satt!

„Ich ziehe seit Jahren deine Brut auf! Und du schmeißt mir eine Schachtel Zigaretten vor!" keifte sie.
Er schloss kurz die Augen. „Ich werfe dir nichts vor! Ich meine nur, dass du im Lauf eines Tages wenigstens fähig sein solltest, um die Ecke zum Kiosk zu gehen, um dir Zigaretten zu holen!"
Mary ging unvermittelt auf ihn los. „Du verdammter Bastard! Verdammter Macho! Für dich zählt die Arbeit einer Hausfrau gar nichts!"

Da bekam Kevin einen Lachkrampf.
„Hausfrau? Du? Ich wasche, putze, bügle, kaufe ein, räume hinter euch her und bringe die Kohle nach Hause!"

Er wischte sich die Augen trocken. „Was bitte machst du den ganzen Tag?"
Dann wurde er wieder ernst. „Du schaffst es ja nicht einmal, dich ordentlich um die Kinder zu kümmern! Lässt Philip stundenlang schreien! Fütterst Selina mit dem ganzen ungesunden Zeug! Sie hat bestimmt schon zehn Kilo Übergewicht!"

Er zerraufte sich die Haare, hatte sich ordentlich in Rage geredet, auch wenn er genau wusste, dass das ganze Gerede nichts ändern würde.

Wie oft hatte er ihr das alles schon vorgeworfen!
In den ersten Jahren noch freundlich, erklärend, bittend.
Doch der Ton war zunehmend schärfer geworden.
Die Fronten waren nahezu verhärtet.

Vor ein paar Wochen hatte er sie gebeten, ihn mit Philip gehen zu lassen.
Sie hatte nur dämlich gelacht. „Und wovon soll ich dann leben?"

„Entweder du gehst zum Amt, oder du versuchst es ausnahmsweise einmal mit einem Job!" hatte er vorgeschlagen.
Sie hatte nur den Kopf geschüttelt. „Auf Ideen kommst du! Das kannst du vergessen! Ich werde dir deinen Sohn nie überlassen!"

Selina kam in den Flur, hörte der Diskussion interessiert zu.
Der Papa war ein Trottel, hatte Mama immer wieder gesagt.
Sie beide mussten zusammen halten!

„Hol jetzt Chips und Zigaretten!" forderte die Kleine.
Kevin lachte. „Sonst geht es dir gut, ja?"
Selina trat mit dem Fuß gegen sein Schienbein.
Im Reflex zog er aus und gab ihr eine Ohrfeige, bremste aber kurz vor ihrem Gesicht ab, so dass nur ein leichtes Tätscheln draus wurde.

Sie kreischte trotzdem los wie verrückt, warf sich auf den Boden, brüllte wie am Spieß.
Mary ging mit beiden Fäusten auf ihn los. „Wage es nicht, eine von uns zu schlagen!" schrie sie.
Philip fing auch an zu jammern, noch leise, aber das würde in den nächsten Minuten ausufern.
Kevin hatte das Gefühl, verrückt zu werden.
Lang würde er dieses Irrenhaus nicht mehr ertragen.

Schnell öffnete er die Türe, nahm Philip in die Arme.
Selina lief ihm wütend nach, griff nach dem Buch des Bruders, fetzte es in die Ecke.

„Der Behinderte ist dir immer wichtiger als ich!" keifte sie.
Philip regte sich noch mehr auf, Kevin konnte sich nicht anders helfen, als ihm eine Tablette zu gegeben.

Er sollte täglich drei nehmen, aber dann hing er den ganzen Tag wie ein Zombie herum.
Kevin weigerte sich an normalen Tagen, ihm das Beruhigungsmedikament zu geben.
Er hatte die Schachtel vor Mary versteckt, sie hätte dem Sohn am liebsten jeden Tag ein paar mehr Pillen gegeben, damit sie ihre Ruhe hatte.

Endlich schlief Philip ein.
Doch die Diskussionen gingen weiter.
„Ich habe kein Haushaltsgeld mehr!" erklärte Mary.

„Ich habe dir vor zwei Tagen hundert Euro gegeben!" antwortete er fassungslos. „Der Kühlschrank ist mehr als leer gewesen!"
Ihm war schon klar, wofür die Kohle drauf gegangen war.
Er hatte sowohl die leeren Pizzakartons als auch die Weinflaschen im Müll gesehen.

„Mary! So geht das nicht weiter! Ich arbeite fast zwölf Stunden am Tag, es reicht gerade für Miete und fürs Überleben! Wir können uns keine Lieferdienste oder teuren Wein leisten! Wir müssen alle versuchen auszukommen, mit dem was wir haben!"

Er versuchte es noch einmal, ruhig und im Guten.
Sie sah ihn böse an. „Ich zahle ja schließlich mit meinem Körper dafür!" knallte sie ihm vor den Latz.
Er bekam den nächsten Lachkrampf.

Die Situation, das ganze Gespräch war zu skurril.
„Und wann das letzte Mal?" brachte er schließlich mühsam hervor. „Vor einem Jahr? Vor zwei?"

Nicht, dass er sie sonderlich begehrt hätte!
Aber sie verweigerte sich ihm praktisch seit Selinas Geburt vor vier Jahren.
Um fremd zu gehen fehlten ihm die Kraft und die Zeit.

Auf seine Bemerkung, die eigentlich die Wahrheit beschönigt hatte, flog eine Schüssel durchs Zimmer, verfehlte ihn nur um Haaresbreite.
Da war es genug!
Es reichte!

Er schnappte sich Handy, Schlüssel, Geldbeutel und Jacke.
Er knallte die Wohnungstüre zu, wenig später die Haustüre, lief und lief, ohne zu wissen, wohin.



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